[585] Mutter Lückels Wohnstube.
Eine mittelgroße, ärmliche und einfach getünchte Stube. In der Mitte der rechten und linken Seitenwand je eine gewöhnliche Holztüre, die zu Nebenstuben führen. In der Mitte des Hintergrundes die Haustüre, durch die man erst in einen Holzvorbau, dann, ein paar Stufen herab, auf die Koloniestraße hinaustritt. Zu Seiten dieser Türe je ein großes Fenster. An der linken Seitenwand vorne steht ein eiserner Kochherd, wie sie in der Dortmunder Gegend gebräuchlich sind, plump und schmucklos. Davor eine Holzbank, Kohlenkasten, Feuerungsgerät. Auf dem Ofen Kochtöpfe, darüber am Brett an der Wand Gerät, und auf einem Topfgestell und Küchenschrank neben dem Ofen Töpfe, Eimer, Küchengerät. Weiter steht an der Wand eine Kommode, auf dieser eine Lampe und allerlei Gegenstände. Kleidungsstücke sind neben der Türe an den Nagel an die Wand gehängt. Weiter hinten, neben dem Fenster, steht Hannchens Arbeitstisch, groß und plump, bedeckt mit einer Menge fertig gebündelter Zigarren, Haufen fertiger Wickel, Schichten Deckblätter und Arbeitsgerät, großer hölzerner Wickelform, Topf mit Klebstoff, Messern und so weiter. Auf einer Holzbank vor dem
Tisch ist eine Menge Zigarren zum Trocknen aufgeschichtet. Die Fenster der Hinterwand haben schlichte kattunene Scheibengardinen. Ein paar Blumen stehen in Kästen auf den Fensterbrettern. Sonst haben an der Hinterwand noch allerlei Gerümpel, Kästen und grobe Holzstühle Platz gefunden. An der rechten Seitenwand hinten steht ein großer und altertümlicher Schrank; vorne, vor der Türe zur Nebenstube, ein altes, schwarzledern bezogenes Sofa, davor ein Tisch und Holzstühle. Über dem Sofa an der Wand hängt groß ein Haussegen, um ihn herum Photographien. An den Wänden hie und da noch ein paar Buntdrucke, ein Brett mit Bibel und Hausbüchern. Die Diele ist mit weißem Sand bestreut. – Durch die immerwährend[585] offenstehende Türe und die Fenster der Hinterwand blickt man auf die Koloniestraße. Jenseits der Straße und längs derselben zieht sich eine niedrige Mauer hin. Hinter dieser erbeben sich, von dem grauen, rauchbedeckten Horizont scharf abstechend, die Anlagen des Berg- und Hüttenwerkes. Links sieht man den riesigen Schutthaufen der Berghalde sich verlaufen. Daneben und dahinter erbeben sich die Dächer des Maschinenhauses, der Förderhalle, überragt von dem Schachtturme und dem hoben eisernen Förderstuhl mit den unablässig sich drehenden
Treibrädern. Nach rechts ziehen sich die Dächer der Hüttenanlage; dahinter, dicht aneinandergerückt, die turmartigen Hochöfen mit ihren charakteristischen Eisenkuppeln. Und über dem Ganzen recken sich, gleich den Kirchtürmen einer Stadt, zahllose Rauchschlote, deren Qualmwolken über das Werk hinziehen. – Auf die Szene dringt ununterbrochen ein dumpfes Hämmern und Tosen, der Widerhall der Arbeit all der Maschinen des Werkes. Oft hört man dazwischen eine Dampftube sowie das Pfeifen und Paffen der Rangierlokomotiven und das dumpfe Geräusch der abrollenden Kohlenzüge. – Sommertag. Nachmittag. Die Szene ist umdüstert von dem Rauch und Ruß des Werkes. Durch das eine Fenster sieht man draußen den weißen Kopf Vater Schniermanns, der Scherben zusammenkehrt und sie in einen Eimer wirft. Vor dem andern Fenster kauert Hannchen auf einem Stuhl und blickt mit langem Halse die Straße hinab. Hübsche Sechzehnjährige mit pikantem Gesicht und schwarzen Zopfhaaren, ärmlich, aber mit gewisser Putzsucht gekleidet. Mutter Lüchel, alte, ärmliche, gramgebeugte Frau, hantiert in der Stube; hat von der Wand Tannengewinde abgenommen und wirft es beim Ofen hin.
HANNCHEN in Pausen. Vadder Sniermann, 's kommt wedder 'n Zug Lüüt ... Sie sind schon in der Waschkaue un in der Lampenbude ... jetzt kommen sie schon us'm Dhor ruus. Vadder Sniermann, is dat nich Pittjupp ... wohl?[586]
MUTTER LÜCKEL greift wütend nach einem Stock. Nu, wirst du nu diene Wickel machen ...!
HANNCHEN am Arbeitstisch. Mudder, ja ... ich bün ja schon ...! Ich wollt doch bloß mal kieken, ob Pittjupp ...
MUTTER LÜCKEL. Mien Jung kommt schon zu siener Zeit. Morgen soll 'ch nach Dortmund zu Herrn Finkensiep, liefern. Hast du diene Wickel fertig ... hä?
HANNCHEN. Mudder, ich mach ja schon ...
MUTTER LÜCKEL. Einen Lärm macht heut dat Werk. Man versteiht sein eigen Wort nich. Wohl 'n hunnert Kohlenloren ham se heut schon abrangiert.
DER ALTE SCHNIERMANN kommt herein, Mütze auf dem weißen Haar, alter Arbeitsanzug, steifbeinig, langsamer schlürfender Gang; Holzeimer, mit Scherben gefüllt, in der Hand. Je ja, Mudder ... dat makt, sie müssen ein paar tausend Tonnen Stahlpanzerplatten nach Kiel liefern. Un Kohlen wer 'n se jetzt auch los, wo't bald Herbst is ... Zeigt den Eimer. Mudder Lückel, das 's hier der dritte Eimer. So veel Scherven, so veel Glück.
MUTTER LÜCKEL. Ah, aales Gerede. Wenn's nach den Scherven ging ...
DER ALTE SCHNIERMANN. Pscht, pscht, Mutter Lückel ... Scherven müssen sein bei 'n Polterabend. Wer's gut meint mit 'n Brautleuten, schmeißt Scherven vors Hüüsken. Na't war 'n ja nich alle gute Scherven. Den Han Franz hevv ich wat schmeißen sehen, un wie 'ch rauskieke, da war't 'n Pott ... Flüstert Mutter Lückel etwas ins Ohr.
MUTTER LÜCKEL. Ah bah, Vadder Sniermann ...
Hannchen lacht hell auf.
DER ALTE SCHNIERMANN stellt lachend seinen Eimer beim Ofen hin und zündet sich eine kurze Tonpfeife an. 's is all gleich ... 's is all gleich, Mudder Lückel. Glück wer 'n sie ham, unsere Brautleut, paßt upp.
MUTTER LÜCKEL. Ich segg so, Vadder Sniermann: wenn Gott mit ihnen is, dann ham sie Glück, aber wenn Gottes[587] Segen nich dabei is, denn is kein Glück in der Ehe ... wohl?
DER ALTE SCHNIERMANN. Je ja, je ja ... Eifrig. Aber Scherven müssen auch sein, Mudder Lückel. Dat 's mal so von alters her. Der liebe Gott, ja ... aber Scherven müssen auch sein.
Man sieht über die Koloniestraße Trupps von Berg-und Hüttenleuten kommen, die aufgeregt redend heimwärts gehen.
PITTJUPP junger Barsch von achtzehn Jahren, kommt herein. Schmutziger Arbeitsanzug, Kappe, Hose in groben, schmutzigen Stiefeln, das »Gezähe« (Werkzeug) auf dem Rücken, eine Blechkanne und Mundvorrat, in ein rotes Taschentuch gepackt, in der Hand. Glück auf ...!
DER ALTE SCHNIERMANN. Glück auf, mien Jung.
MUTTER LÜCKEL. Glück auf ... nu, Pittjupp, wo auch blievste? 's is doch 'ne Stunde über die Schicht.
PITTJUPP derweilen er sein Gezähe bei der Türe hinwirft, seine Arbeitsstiefel und seinen Kittel beim Ofen hinhängt, Pantoffel und einen gestrickten Kittel anzieht. Je ja, jetzt heißt's tüchtig acheln auf der Zeche ... Jetzt kann man die Kohlenhunde nich schnell genug zur Strecke stoßen. Da heißt's immer: »Feder, feder! Faulenzen kannste draußen!«, e halv Stund ham w'r vom Ort bis zum Förderschacht zu laufen ... Ja, un wie w'r da ankommen, da is wieder mal dat verfluchtige Seil gerissen ...
MUTTER LÜCKEL zu Tode erschrocken. Wat seggste, mien Jung ...?
PITTJUPP. Nu, nu ... da passiert nix. Sie ham ja 'ne gute Keilfangvorrichtung dran. Aber warten muß man, bis se so 'ne Reparatur gemacht ham.
MUTTER LÜCKEL. Jung, Jung, dat du dich in acht nimmst, dat dir nix passiert.
PITTJUPP. An der Fahrung? Ah ja! Da wüßt ich andere Dinger,[588] wo man sich fürchten müßt Sieht sich vorsichtig um, ob's niemand hört. Wie da jetzt, wo dem Steiger so 'n Flöz nich rasch genug abgebaut werden kann, die Zimmerlinge manchmal die Strecken ausbaun...t – hä! Wenn da mal dat Hangende vorzeitig zu Bruche geht, da drückt's die ganze Zimmerung ein ...
Die drei stehen tief erschreckt.
PITTJUPP. ... ich segg nix, ich weiß Bescheid. Zum Fenster hinaus. Nu Pittermann, mach ook, dat du zu Huus kommst. Diene Fruu will dir dat Füür stakeln!
Gelächter der vorübergehenden Arbeiter.
PITTJUPP. ... Och, dat liegt jo all an die Kerls selver. Die Inspektion kommt oft genug. Aber wenn da nur einer Kurasch hädde un seggt, wie't is. Aber da will keiner dat bißken Arbeit riskieren.
MUTTER LÜCKEL eifrig. Dat du dir man nich dat Muul verbrennst. Dat laß die Alten machen ... wohl?
DER ALTE SCHNIERMANN. Nu, wenn's doch sein muß ...!
MUTTER LÜCKEL. Hä ...? Du weißt schon, von wat du diene Pension hast ... also. Wir sünd froh, dat wir wohnen können un Arbeit ham un die Werksverwaltung nich kommt un seggt: »Frau Lückel, wir bräuken dat Koloniehuus; sucht euch in Dortmund 'ne Wohnung ...« Dat du dir man nich dat Muul verbrennst, Jung!
PITTJUPP. Ah ja. Guckt zum Fenster hinaus. Ich gläuv, Mudder ... da kommen die Brautleutens!
ALLE. Ah ...! Sie gehen alle erwartungsvoll zum Fenster.
Jan Biggen und Trina kommen gleichzeitig herein; Trina mit ihren beiden Kindern, Hinnäck und Anngret. Der Mann hat einen gewöhnlichen, abgetragenen Sonntagsanzug an, ein Sträußchen im Knopfloch, auf dem Kopfe eine Knappenmütze: einfache Militärmütze, vorn Schlägel und Eisenzeichen. Er ist dreißig- bis fünfunddreißigjährig, grobstämmig, gutmütig. Die Frau trägt einfaches Sonntagskleid,[589] ein buntes Tuch über die Schultern geworfen, keine Kopfbedeckung. Das Jungelchen und das Mädchen sind ärmlich, aber sauber gekleidet.
DER ALTE SCHNIERMANN. Die jungen Eheleutens sollen leben ...!
ALLE. Ho-o-ch ...!
JAN BIGGEN. Nee, dat laßt man, dat laßt man unterwegens. Uns brummt noch der Kopp von gestern ... wohl, Trina? Wir wolln nu endlich aufhören zu feiern un feste zupacken.
TRINA. Wir ham nu lang genug Feiertag gehabt, nu soll's wedder Werkeltag sein.
MUTTER LÜCKEL. Nu, ein bißchen feiern müßt ihr eure Hochzeit schon. Dat is doch nich wie mal zu Tanze gehn.
JAN BIGGEN. Je ja, Mudder Lückel ... bei uns is dat doch all vorbei. Die rechten Hochzeitsleute sünd wir doch nich mehr. Wohl, Trina?
TRINA. Dat segg ich auch.
Sie haben sich am vorderen Tische niedergelassen. Die Kinder spielen mit Hannchen. Schniermann und Pittjupp schauen sich an und lachen.
DER ALTE SCHNIERMANN. Nu segg mal, Jan ... du darfst mich dat nich ievelnähmen ... Wie hat's euch denn gefallen, die erste Nacht im eigenen Neste, hä?
Trina und Jan Biggen lachen.
JAN BIGGEN. Dat will ich dir wohl seggen, Vadder Sniermann. Wir sünd noch gar nich zu Huus gewesen.
Allgemeines Gelächter.
JAN BIGGEN. Wir sünd gestern abend mit Kamerad Frohme heimgangen, un oben vor sienen Huus seggt 'r: »Jan«, seggt 'r, »wat wollt ihr zwei Minschenskinder bis nach Dortmund laufen. Bleibt bei mir.« Na, und da ham wir[590] mit den Kleinen bei Kamerad Frohme logiert, so gut un so schlecht 's ging.
Erneutes Gelächter.
TRINA. Je ja, dat ham wir wohl recht gemacht. Denn seht ihr, wir ham eine ganz billige Wohnung in Dortmund, un unser Huuswirt seggt: »Frau Biggen«, seggt 'r, »Ihr Mann is 'n Bergmann. Der hat so schwere Arbeitsstiefel, un unter Ihnen wohnt 'n königlicher Bezirksschullehrermeister. So 'n Mann is nervös im Kopp von dat veele Studieren. Un darum soll Ihr Mann hübsch die Stiefel im Hausflur ausziehn, wenn 'r nachts zu Huus kommt.« Na un da sünd wir gar nich erst zu Huus gangen.
DER ALTE SCHNIERMANN. Je ja ... dat is gar nich wie 'ne Hochzeit mit euch beiden. Wie mien Vadder selig noch lebte, dat war 'n Bauer ... un wie mien Bruder selig Hochzeit machte, da ham wir 'nen ganzen Ochsen geschlacht' un ein Swien, un Kuchen hat mien Mudder selig gebacken. Un dann ham wir mit die Nachbarbauern acht Dage zusammengesessen un ham geachelt und gedrunken ... hähä!
JAN BIGGEN. Vadder Sniermann, mach man keinen Dampf. Wenn du mir 'n Swien schaffst, schlachten will ich's schon, un essen wolln w'r's auch ... wohl?
Allgemeines Gelächter.
DER ALTE SCHNIERMANN. Je ja ... Un am zweiten Hochzeitsmorgen, grad so wie jetzt, da saß dat junge Paar am Tische ... dat nennen die westfälischen Bauern: »Brauthahnsitzen« ... hä hä! ... un dann kommt jeder Hochzeitsgast un gibt 'nen Daler oder zweie ...
JAN BIGGEN hoppt auf den Tisch. Nu denn wer' ich jetzt mal Brauthahnsitzen, Vadder Sniermann, un nu lang du mal in diene große Tasche ...
Allgemeines Gelächter.
[591]
DER ALTE SCHNIERMANN. Ei, verflüchtig noch mal ... Sühst du, Jan, da kann ich vor Lachen nich rein mit der Hand ...
JAN BIGGEN. Vadder Sniermann, du sollst keinen ehrlichen Dot sterben, wenn du dem Brauthahn nix rausgibst!
DER ALTE SCHNIERMANN. Nu denn ... ja, wenn du so sprichst, Jan ... na, da wolln wir mal unter Arbeitsleuten lustig sein. Langt ein Geldstück. Dahier, Pittjupp. Hupp mal an die Ecke und hol für fünf Groschen Klaren.
ALLE. Ah!
JAN BIGGEN springt herab. Dat war mal 'n Wort. Sollst leben, Vadder Sniermann!
Pittjupp läuft mit einer Flasche hinaus.
MUTTER LÜCKEL bringt Käse, Brot und Butter. Hunger werdet ihr beide auch ham ... wohl? Da hätt ich 'nen guten Landkäse un Schwarzbrot.
JAN BIGGEN. Nu, ich danke, Mudder. Aber wat die Trina is, un die Kinderkens, die werden wohl einbauen.
TRINA. Danke, Mudder ... Dahier, Hinnäck, Anngret! Erst ein Stückchen Käse ... Ja, früher, da hevv ich immer in Mudders Brotschapp gekiekt, aber nu heißt's: Annerswo wa't ok Brot backt.
MUTTER LÜCKEL. Nu, nu, Trin ... wenn ja schwere Zeiten kommen, denn sprich nur vor. Solang wat da is, wird's gedeilt.
JAN BIGGEN. I ... Mudder, die Fäuste hier un Trinens Fäuste, die wer 'n wohl Brot genug for die paar hungrigen Mäulers bringen.
Liesa kommt herein. Hübsches Mädchen, über die Zwanzig; ernst, ruhig, einfache Kleidung: Tag zusammen.
ALLE. Tag ... Tag, Lies.
MUTTER LÜCKEL. Nu, büst du für heute fertig worden, Liesa?
LIESA. Ja, Mudding. Och dat is vorm Lohndag ein Schaffen im Produktenverein. Da müssen wir die Ware vorwiegen, damit's annern Dag recht schnell geht, denn wenn der Laden voll Arbeitsfrauen steht, dat is 'ne Ungeduld. [592] Klopft ihrer Schwester auf die Schulter. Nu Trina ...? War der Herr Diakonus schon da, Mudding?
MUTTER LÜCKEL. Nee, Kind. Wat sollte er auch?
LIESA mißgestimmt. Hm. Er wollte mir doch die Bücher bringen. Greift ein paar Bücher von der Kommode und blättert darin.
JAN BIGGEN lacht, summt spöttisch. »Spinn, spinn, spinn, Mägdelein ...«
LIESA wirft ärgerlich die Bücher hin. Jan, laß dien dummen Zeug!
MUTTER LÜCKEL. Je ja, wat is denn auch?
DER ALTE SCHNIERMANN. Hähä, der Jan ... Seht Ihr, Mudder Lückel, er fexiert sie. Un dat's nich richtig, sie hält's nich mit 'n Mannsleuten.
JAN BIGGEN. Ich segg ja nix. Liesa, zieh man keine Snute, hörst du?
MUTTER LÜCKEL. Uns' Liesa ... ich segg bloß, wenn sie alle so wären wie uns' Liesa, da hätt's keine Not. Bei der Hannchen, da wardst du recht ham, aber uns' Liesa ...
DER ALTE SCHNIERMANN. Ja, uns' Hannchen ... hähä. Dat's wohr. Da darf auch nich ein Mannsbild die Koloniestraße runterkommen, gleich kiekt se mit 'nem langen Hals, hähä.
HANNCHEN maulig. Snak du auch nich, aale Grootsnut!
MUTTER LÜCKEL. Wat is dat? Willst du, Rotznas, einen aalen Mann schimpfen ...!
HANNCHEN. Wenn's doch nich wahr is ...
DER ALTE SCHNIERMANN. Na, laß sie man, Mudder Lückel. Die denkt, sie kann einen aalen Mann wat wies machen. Aber miene Augen sehen gut, die sehen durch und durch, hähä. Die sehn auch, warum der Volontär so oft hier rumstreicht, und dat nimmt mal 'n schlechtes Ende, dat segg ich.
HANNCHEN. Wat hätt ich mit Herrn Langenscheidt, hä?
MUTTER LÜCKEL. Wirst du man ...!
JAN BIGGEN. Dem Langenscheidt würd die Birn da wohl schmecken ... he?[593]
MUTTER LÜCKEL. Der Langenscheidt kommt oft her ... Du mien Gott, rutsmieten kann ich ihn doch nich ... wohl? Wir dürfen hier nich mucksen. Aber wenn ich sähe, dat mien Mädchen ... Wütend. Sühst du, einen Knüppel nahm ich, du verfluchtes Ding ...
ALLE. Na, Mudder ... Mudder Lückel!
PITTJUPP kommt mit der Schnapsflasche herein und stellt sie auf den Tisch. Dahier.
JAN BIGGEN. Na, Mudder, denn gewt man Gläsken her ... Wat der Langenscheidt is, der lebt auf sienes Vadders Kosten un weiß nich, wie er die Zeit dotschlagen soll. Dat könnt ihm nu so passen, dat kleine Hannchen, hähä.
MUTTER LÜCKEL stellt die Gläschen auf den Tisch. Mien Lebdag hevv ich drauf gehalten, dat miene Kinners in der Zucht und in der Gottesfurcht aufwachsen. Aber wenn nu uns' Hannchen, un sie macht mir die Schande ... Bricht in Tränen aus.
ALLE. Nu, Mudder ... nu heul auch nich, Mudder ... wat is denn da zu heulen, Mudder ...
Mutter Lückel wehrt ab und setzt sich an den Ofen.
TRINA. Mudder hat ganz recht, un du sollst upp dien Mudding hören, Hannchen. Dat 's nich gut, wenn so 'n lüttes Ding sich mit Mannsleuten rumtreibt. Ja, wenn sie einen Mann findet, der's ehrlich meint, so wie ich den Jan habe ... dann is's recht ...
JAN BIGGEN. Hähä. Wenn wir allein sünd, dann streit' sie, sich mit mir, un bei annern, da lobt sie mich über den Schellendaus!
TRINA. Nee, Jan, zieh du dat mal nich in't Lachen ... Du bist mir treu blieven all die Jahr. Du hast unsern zwei Kinderkens einen ehrlichen Namen gegeben vor aller Welt. Un daför bün ich dir so von Herzen gut ...
JAN BIGGEN. Je, ja, du heulst, Trine ... wohl? Hahaha! Küsse. So 'ne gute Fruu hätt ich doch all mien Lebdag nich wedder kriegt ... Na un nu wolln wir mal drinken. Prost![594]
DER ALTE SCHNIERMANN UND PITTJUPP. Prost! Sie trinken.
LIESA die mürrisch am Fenster saß, steht hastig auf. Tag, Herr Diakonus.
DIAKONUS KÖRTING großer Mann, Mitte Dreißig, blondes langes Haar; blonder kurzer, ungepflegter Bart; im mageren Gesicht Ausdruck von Verbissenheit. Abgetragene Kleidung: schwarzer alter Pastorenrock, Ellenbogen und Unterärmel verschossen, glänzend schmutziger Kragen; schwarze Hose hochaufgeschlagen, unten voller Lehmspritzer; derbe Landstiefel, dick mit Lehm beschmutzt; abgegriffener schwarzer Hartfilzhut; derber Knotenstock; Bücher unter dem Arm. Gott zum Gruß zusammen!
ALLE. Dag, Herr Diakonus, Dag.
KÖRTING. Tag, Mutter Lückel. Ich komme eben durch die Kolonie, un da fiel mir ein, daß ich der Liesa ein paar Bücher versprochen hatte ... Wo is sie denn? Ach, guten Tag, Fräulein Liesa. Hier bringe ich Ihnen die Bücher.
LIESA nun sehr aufgeheitert. Ich dank Ihnen auch sehr, Herr Diakonus.
KÖRTING. Aber keine Ursache, liebes Fräulein ... haha. Warum sollen sie denn auf der Diakonie verstauben? Ich wollt, ich hätt noch ein paar so wißbegierige Leserinnen ... ja. Na, wat machen Sie denn da, Vadder Sniermann?
DER ALTE SCHNIERMANN der den Schnaps verstecken wollte. Je ja, Herr Diakonus ... ich wollt bloß man ... Wir ham ein bißken Schnaps, sehen Sie ...
KÖRTING. Na, und den werdet Ihr doch auch trinken dürfen ... wohl?
DER ALTE SCHNIERMANN. Ja ... hähä ... wenn wir dat dürfen, Herr Diakonus ...?
KÖRTING. Champagner könnt Ihr doch nicht trinken ... wat? Also ... so laßt Euch nur Euer Schnäpsken schmecken.
Der alte Schniermann stellt den Schnaps wieder hin.
LIESA. Sie waren über Land, Herr Diakonus ... wohl?[595]
KÖRTING. Ja. Da is in Lütgendortmund eine alte Frau, die schön seit zwei Jahren nich mehr in der Kirche war. Na, und da bin ich eben zu ihr gegangen ... Meine Stiefel, haha ... ja, die sehen gut aus, liebes Fräulein. Der Superintendent sagt immer: »Körting, Sie müssen mehr auf Ihr Äußeres halten.« – »Herr Superintendent«, sag ich, »für Lackschuhe langt mein Gehalt nicht. Unser Heiland ist barfuß gegangen, da wird's mir die aale Fruu nicht übelnehmen, wenn ich ihr Gottes Wort in Lehmstiefeln bringe.« Wohl?
Alle stille Zustimmung.
MUTTER LÜCKEL. Da sünd Sie nu wohl recht von Herzen hungrig, Herr Diakonus? Ja, wenn ich Ihnen wat anbieten dürfte, Käse un Butter ...?
KÖRTING. Meine liebe Mutter Lückel ... ja, wenn Sie schon wollen. Sie haben da Sauerländer Brot ... wohl? Das Ist sehr nahrhaft. Wenn Sie mir davon eine Schnitte ...
TRINA. Hier is Butter, Mudding.
KÖRTING. Nein, nein. Eine trockene Schnitte ... So. Gott segne Sie, Mutter Lückel. Beißt hinein. Ah. – Und wenn Sie nun noch ein Glas Wasser hätten ...
ALLE. Aber, Herr Diakonus ...
KÖRTING. Nein, nein, Leute, danke wirklich ... Nimmt ein Glas und schöpft sich selbst aus dem Eimer auf der Topfbank Wasser. Nur Wasser. Ihr wißt gar nicht, was für ein gutes Wasser wir hier haben. Trinkt. Ah –! Das schmeckt mir besser als all der Kram. Setzt sich abseits. Na Hannchen, so fleißig bist du? Immer dieses Giftzeug machen?
MUTTER LÜCKEL. Je ja, Herr Diakonus. Die muß eben. Wovon solln wir leben?
KÖRTING. Ja, das ist's eben. Wovon sollt ihr leben! Und deshalb muß sich das arme Ding die Lunge vergiften.
DER ALTE SCHNIERMANN. Ja, un wenn man süht, wat se rinnwickeln muß. Der reine Dreck. Un die Arbeiters müssen's smöken.[596]
HANNCHEN kommt eifrig vor. I, Vadder Sniermann, dat du dich man nich irrst. Meine Sigarrn ... da smökt sogar der Herr Hüttendirektor Klönne welche. Wie ich liefern war, segg ich: »Dag, Herr Finkensiep, hier bring ich die Vierpenningsigarrn för 'n Produktenverein.« Seggt der Lehrling: »Der Herr Hüttendirektor Klönne hat fünfhunnert Havannas bestellt, un se sünd ausgegangen.« – »Na«, seggt Herr Finkensiep, »denn mach mal Flecken.« Un da nimmt der Lehrling miene Vierpenningsigarrn un bespritzt se mit Salpetersäure, dat se man so mürbe Flecken kriegen, wie von der Sonne. Und denn seggt 'r: »So, dat sünd nu die Havannas för 'n Herrn Hüttendirekt'r!«
Gelächter.
KÖRTING. Und solchen Betrug muß das Kind mit ansehen!
MUTTER LÜCKEL. Ja, so wat, wat se nich sehn soll, dat merkt se sich gleich. Klopft an Körtings Rock. Sie ham sich 'n bißken beschmutzt, Herr Diakonus.
KÖRTING. Ach, das wird so schlimm nicht sein, Mutter Lückel. Der alte Rock ... er ist vom Herrn Superintendenten. Zu neuen Sachen langt's bei mir nicht, und so kaufe ich ihm seine getragenen Röcke ab. Oh, er gibt das Geld den Armen ... aber immerhin ... ich könnte mir Brot dafür kaufen, sehen Sie ... Sich unterbrechend. Na, ihr jungen Eheleute, ihr seht nun alles durch die rosige Brille ... wohl?
JAN BIGGEN. Na, dat möcht ich nich seggen, Herr Diakonus. Wir müssen uns nu recht schinden ... wat, Trina?
TRINA. Ja, dat müssen wir, Herr Diakonus. Aber wir wissen doch nu auch, wozu. Die Kinnerkens ham einen Vadder.
KÖRTING. Ja, das ist wahr. Sie können nun vor aller Welt sagen: seht, das ist unser Vater.
TRINA. Dat hevv ich auch seggt, Herr Diakonus.
KÖRTING. Und das ist etwas wert. Ich bin im Waisenhause zu Bochum aufgewachsen, ich habe nicht Vater noch Mutter gekannt ... Sich zusammennehmend. So trinkt doch,[597] Leute, und seid guter Dinge! Mir scheint, ich habe euch alle Fröhlichkeit genommen ... wohl?
JAN BIGGEN. Nu, sehn Sie, Herr Diakonus, nach Rumhoppen un Schelmzeugmachen steht uns armen Leuten nich der Kopp.
TRINA. Je ja, wenn man Not un Sorgen hat, da mag man nich springen ... Un nu wolln wir mal in unsre Wohnung gehn, Jan, un för die Kinnerkens sorgen.
Sie erheben sich.
KÖRTING. Na, Not und Sorgen werdet ihr genug haben, aber ... Kopf hoch, Jan Biggen! Warum trinkt ihr denn euer Schnäpsken nich aus?
JAN BIGGEN. Nu ... wir wer 'n doch nich ... un der Herr Diakonus denkt dann, wir wären so 'ne Süffel.
KÖRTING. Aber, lieber Biggen, nu red man kein dumm Zeug. Nehmt mal eure Gläsken un trinkt euch 'ne Kurasche. Los, Frau Biggen, auf daß Sie eine tapfere Fruu werden. Na, Pittjuppche, du hast dir wohl auch dein Schnäpsken erarbeitet, Vadder Sniermann ...?
DER ALTE SCHNIERMANN. Ja, sehn Sie, mir kommt's zu, Herr Diakonus. Ich hab't ja überhaupt gegeben aus miene große Tasche, hähä.
KÖRTING. Na also. Und Mutter Lückel ...? Haha, Mudder, ich gläuv, Ihr drinkt auch manchmal Euer Schnäpsken, wenn't so dasteht. He?
MUTTER LÜCKEL. I, Herr Diakonus, ich wer' doch nich ...
DER ALTE SCHNIERMANN. Gewiß trinkt sie einen, Herr Diakonus ... hähä!
MUTTER LÜCKEL. Aber, Schniermann, das 's doch ...! 'ne aale. Fruu ...
KÖRTING. Haha ... Na, dann nehmt Euer Gläsken, Mudder, un stoßt an. Auf das Wohl Eurer Kinder. So-o-o.
ALLE. Prost!
KÖRTING. Seht ihr. Warum sollt ihr nicht guter Dinge sein, an eurem ersten Ehetage. Freuet euch mit den Fröhlichen ...[598] Und nun, da Ihre Tochter das Elternhaus verläßt, müssen Sie ihr den Segen geben ... Sie müssen eine Rede halten, Mutter Lückel!
ALLE fröhliches Gelächter. Ja, eine Rede muß sie halten ... Vorwärts, Mudder Lückel ... Mudder, red mal 'n paar Wörter ... Mudder, segg uns mal 'n Wort.
KÖRTING schiebt sie hin. Hier müssen Sie sich hinstellen, Mudder ... hierhin ... und recht feierlich, daß es den Kindern eine rechte Herzenserquickung ist.
MUTTER LÜCKEL steht unbeholfen da, den Schürzenzipfel am Munde, stottert die Worte heraus, kommt allmählich in Rührung und Erregung. Ach nee, ach nee ... wat soll ich aal Fruu auch seggen. Ich weiß ja nich ... Ich wünsch euch Gottes reichsten Segen, ja ... wenn ihr in't eigen Huus kommt, dat ihr glücklich seid, ja ... un ... ich hevv immer för miene Kinners sorgt un hevv mich gemüht, daß ich sie groß brächt, wo doch mien Mann selig nich mehr för euch sorgen konnte. Un wenn ihr Hunger hattet, dann hevv ich manchmal dat letzte Stücksken Brot genommen un hevv et euch geben un hevv selber gehungert. Un nu gehst du fort von dien Mudding, Trina, un gehst vielleicht in Kummer un Not. Aber halt nur den Kopp hoch, Trina, un vertrau auf Gott. Ich segne euch, Kinners, ich segne euch. Sie legt ihnen weinend die Hände auf.
KÖRTING. Der Eltern Segen bauet den Kindern Häuser. Jetzt könnt ihr in Frieden gehen. Aber kommt Kummer und Not, dann nehmt's nicht demütig hin, dann ringt mit eurem Schicksal wie Jakob: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« Und wenn's schier unerträglich wird, dann blickt empor mit blitzenden Augen. Er sieht euch, Er, der den Armen hilft, der Gott des Zornes und der Gott der Rache!! Er läßt, erschreckt über sich selbst, die erhobenen Fäuste sinken und tritt weg; mit leiser Stimme. Gehet in Frieden.
Die andern stehen ergriffen, dann reichen sie sich die Hände.
Adjüs ... Adjüs, Mudding ... Adjüs, Kinners.[599]
DER ALTE SCHNIERMANN. Wir werden euch man bis zur Straße begleiten. Wat, Mudding?
Sie begleiten die beiden Biggens nebst den Kindern hinaus, die Koloniestraße hinab; nur Körting und Lisa bleiben zurück. Es beginnt allmählich zu dunkeln. Die Gebäude des Hüttenwerkes und der Zeche liegen mit ihren riesigen Schornsteinen gleich schwarzen Schatten da. Hinter ihnen färbt sich der Abendbimmel vom Widerschein all der Feuer blutrot. Ununterbrochen hält das Getöse der Arbeit im Werke, das Pfeifen und Rangieren der Züge an. Manchmal hört man einen dumpfen Knall. Dann flammt der Widerschein eines Hochofens grell auf und taucht das Zimmer in eine dunkelrote Glut, die langsam wieder erlischt.
KÖRTING. Nun, Liesa, Sie sind nicht mitgegangen?
LIESA. Nein, Herr Diakonus, und ich möcht fast, Trina und Jan wären ganz allein gegangen.
KÖRTING. Ei, warum?
LIESA. Sie haben ihnen so schöne Worte seggt, Herr Diakonus. Darüber sollte man sie nachdenken lassen.
KÖRTING. Ja ... und doch, ich hätte das nicht sagen sollen. Aber es packte mich plötzlich so, als ich dieses junge Menschenpaar ansah, das zum Kämpfen doch die Kraft hat Das darf sich nicht demütig in alles fügen ... das ist Frevel an der eigenen Stärke ...!
Die Dämmerung bricht herein.
LIESA. Soll ich die Lampe anzünden, Herr Diakonus?
KÖRTING. Nein, bitte, lassen Sie nur. Der Hochofen flammt auf. Ha, diese prächtige Glut des Hochofens! Sooft ich im Abenddunkel über die Felder dahinschreite, ist es mir immer wieder ein unvergeßlicher Anblick. Ich kann mich förmlich daran berauschen ... Wissen Sie, Liesa, so ärmlich es bei Ihrer Mutter ist, so behaglich ist es aber auch. Sitzt träumerisch beim Ofen. Als kleiner Junge habe ich[600] stets mit einer wahren Gier Märchen gelesen. Davon ist etwas in mir haftengeblieben. Wenn ich manchmal hier in der Dämmerung sitze, so ganz allein und ungestört, dann fallen mir die deutschen Märchen ein. Aus allen dunkeln Winkeln tauchen Gestalten hervor. Das Wichtelmännchen oder eine Märchenprinzessin mit einer demantenen Krone. Und plötzlich lodert dann die Glut des Hochofens auf wie die Sonnwendfeuer der alten Germanen, die drüben vom Teutoburger Wald bis zum Haarstrang hinflammten ...! Manchmal muß ich denken: ein Stückchen des alten germanischen Heidentums steckt doch noch in uns allen ... Steht auf. Ach, Sie werden mich mit meinen Kindergedanken recht lächerlich finden ... wohl?
LIESA. Ach nein, Herr Diakonus. Ich hör Ihnen gern zu. Früher hab ich von unserm Leben stets sehr niedrig gedacht, aber Sie zeigten mir soviel Schönes ... Ich muß Ihnen daför ja so dankbar sein.
KÖRTING. Ach, reden Sie nicht so, Fräulein.
LIESA. Ja, Herr Diakonus, ich weiß sehr wohl, wat ich för 'n dummes Ding war, eh Sie herkamen. Dann ham Sie mir Bücher gebracht, ham mich unterrichtet und belehrt ...
KÖRTING. Ich habe einfach den in Ihnen schlummernden Wissensdrang geweckt und, wie ich hoffe, in die rechte Bahn geleitet. Ich wollt, ich hätt unter den Kolonieleuten viele solche Lernbegierige. Oh, mit welcher Lust wollt ich ihnen Lehrer sein! Aber die Leute sind materiell zu gedrückt, um zu empfinden, wie sehr sie geistig Hunger leiden.
LIESA. Ich glaube, Sie werden über mich lachen ... Aber sehen Sie, wenn Sie hier sünd, dann bün ich so glücklich, Herr Diakonus ... Und so hängt die ganze Kolonie an Ihnen.
KÖRTING. Ich freue mich auch stets, wenn ich meinen Fuß über eure Schwelle setze, Fräulein Liesa. Mir ist, als sei in unser beider Wesen soviel Verwandtes ... ich glaube,[601] wenn wir Bruder und Schwester wären, wir würden unzertrennlich sein. Was, Liesa?
LIESA. Ja, ja ... Herr Diakonus ...
KÖRTING bei ihr stehend. Es wird wohl vielen Menschen so gehen. Sie gehen fremd aneinander vorbei, und innerlich gehören sie doch zueinander ... Man möchte oft mit dem Schicksal hadern ... Liesa ...!
Sie stehen beieinander und sehen sich wortlos an. Wie Schritte kommen, fahren sie erschreckt zusammen.
LANGENSCHEIDT junger Mann, bißchen Schnurrbart, gelbes krankes Gesicht, umränderte Augen, müder Gang, schlaffes, energieloses Wesen, krankhaft wechselnde Stimmung; überlegener Spott, betuliche Freundlichkeit, Jähzorn. Elegante Kleidung: schottischer Anzug, Joppe, Kniehosen, Wadenstrümpfe, Schnürschuhe, Mütze. Immer die Zigarette im Munde, die er, eben angezündet, überdrüssig wegwirft, um eine neue anzuzünden. He, Mudder Lückel ...! Kommt herein. Wo steckt Ihr denn? 'n Abend, Fräulein Liesa ... Nanu. Wen ham wir denn da? Tritt dicht vor Körting, leuchtet ihm mit einem Zündholz ins Gesicht.
KÖRTING. Was fällt Ihnen ein ...?
LANGENSCHEIDT. Bitte, echauffieren Sie sich nich ... Mach mir ja bloß 'ne Zigarette an. Tut dies, dann höhnisch. Nehm'n Se's mir nich übel, wenn ich gestört haben sollte.
KÖRTING. Ich muß sagen ... solche Beleidigung ...! Sie wissen nicht, mit wem Sie reden!
LANGENSCHEIDT. Wer sind Sie denn groß?
KÖRTING. Das möchte ich Sie fragen.
LANGENSCHEIDT. Langenscheidt ... Volontär auf dem Werksbüro.
KÖRTING. Sie interessieren mich ganz und gar nicht.
LANGENSCHEIDT. Mein Vater ist der Vorsitzende des Aufsichtsrats, Geheimrat Langenscheidt.
KÖRTING betreten. Ach ... da bitte ich um Entschuldigung, Herr Langenscheidt. Sie werden aber zugeben, daß eine[602] solche nichtachtende Art ... Ich bin der Diakonus Körting.
LANGENSCHEIDT. Sie sind der Diakonus ...? Da nehmen Sie mir nur meinen Spaß nicht krumm, Herr ... Herr Körting. Da hab ich ja allerdings nich gestört ... hähä.
LIESA. Ich werde Licht machen ...
LANGENSCHEIDT. Aber machen Sie doch keine Umstände, Fräulein Liesa. Mir brennt der Hochofen hell genug. Setzt sich. Ich hab schon zum Direktor Klönne gesagt, wenn's nach mir ginge, müßten die Kolonieleute dem Werk 'ne Beleuchtungsabgabe zahlen. Der Hochofen ersetzt 'ne Gasanlage.
Pause.
LANGENSCHEIDT. Wissen Sie, eigentlich freut's mich, daß ich mal Ihre Bekanntschaft mache, Herr Körting. Ich habe schon mehrfach von Ihnen gehört.
KÖRTING kühl. So, so.
LANGENSCHEIDT. 's scheint, Sie sind sehr beliebt unter unserer Arbeiterbevölkerung?
KÖRTING. Wenigstens glaube ich nicht, daß ich einen Feind unter ihr habe.
LANGENSCHEIDT. Sie sind wohl aus der Gegend?
KÖRTING. Ich stamme aus Bochum.
LANGENSCHEIDT. Na, da wissen Sie ja, wie man mit den hiesigen Leuten umgeht.
KÖRTING. Oh, ich bin darin niemals spekulativ gewesen. Die Leute empfinden, daß ich zu ihnen gehöre. Ich will nicht mehr sein wie sie und muß auch oft Not und Kummer leiden wie sie ...
LANGENSCHEIDT. T-hä ...! Wissen Sie, ich kann's nich leiden, wenn jemand stets so ostentativ von seiner Notlage spricht.
KÖRTING. Ei wie ...?
LANGENSCHEIDT. Das kommt grade so raus wie: seht mal den schlechten Rock, den ich anhabe, und trotzdem bin ich[603] so 'n tüchtiger Kerl ...! Wir sind auch nich auf den Kopf gefallen, das kann ich Ihnen sagen.
KÖRTING. Ich begreife nicht ...
LANGENSCHEIDT. Oh, ich weiß schon, wo ich hinauswill ...! Nu, Fräulein Lies, wat maken wir denn?
LIESA. Für uns geht ein Tag so wie der andre dahin, Herr Langenscheidt.
LANGENSCHEIDT. Dann müssen Sie sich selbst 'n bißken Abwechslung schaffen, hähä.
LIESA. Ich trage kein Verlangen danach.
LANGENSCHEIDT. Immer wie so 'n Stück Eis. Zehn Schritt vom Leibe. Geht auf sie zu. Muß der Mensch denn immer ernst sein? Sein Sie doch mal leichtsinnig, Liesa. 'n ganz kleines bißken ... he? Hähähä.
LIESA. Herr Langenscheidt ...!
Körting räuspert sich.
LANGENSCHEIDT zu Körting. Ah Pardon. Schlendert umher. Sie kommen wohl öfters hierher, Herr Körting?
KÖRTING. Oh ... nur ab und zu führt mich mein Amt mal zu Mutter Lückel.
LANGENSCHEIDT. Aha. Die Mädels sind also so quasi Ihre Pfarrkinder? Wie komm ich Ihnen denn da vor? Wie so 'n Wolf in der Hürde ... wat? Ja, von mir lernen die Mädels nix Gutes.
KÖRTING. Ich weiß ja nicht, was Sie ihnen zu lernen belieben, Herr Langenscheidt.
LANGENSCHEIDT. Na, Bibelsprüche lernen wir nich auswendig, hähä. Wirft die Zigarette hin. Äh! Heute hab ich wieder 'nen Kopfschmerz! Ich kann mich nich lassen! Ganz dumm wird einem ...! Wissen Sie, mich treibt überhaupt nur die scheußlichste Langeweile hierher. Daß mich mein Vater auf die Rote Erde verbannt hat, kann er im Leben nich verantworten.
KÖRTING. Verzeihen Sie, aber soviel ich weiß, wollte doch der Herr Geheimrat, Sie sollten als der zukünftige Erbe[604] Ihres großen Hüttenwerkes an der Saar einen verwandten Betrieb kennenlernen?
LANGENSCHEIDT. Ja, ja ... das wollte er wohl. Aber wenn man keinen Trieb hat ... Zündet eine Zigarette an.
KÖRTING. Ei, das verstehe ich nicht, Herr Langenscheidt. Die Vorstellung, daß ich dermaleinst ein solches Riesenwerk mit Tausenden Arbeitern mein nennen würde, hätte für mich etwas Hinreißendes. Ich würde alles kennenzulernen suchen, damit ich meinen Platz ausfüllen könnte.
LANGENSCHEIDT. Äh, leeres Gerede. Wenn man das Gefühl hat, das alles hat ja gar keinen Zweck ...
KÖRTING. Keinen Zweck? Aber Herr Langenscheidt ...
LANGENSCHEIDT. Jawohl. Was soll ich denn damit anfangen? Für unsere Betriebsleitung is 'n Direktor da und soundso viele Ingenieure. Die machen die Sache, schließen die Lieferungsverträge ab und verteilen die Arbeit. Mein Vater gibt bloß mal 'ne Unterschrift. Und so wird's bei mir auch sein. Wollt ich anfangen, unsern Technikern Vorschriften zu machen, so würd ich bloß Verwirrung stiften. Sagen Sie selbst, ob's da Zweck hat, den Betrieb kennenzulernen?
KÖRTING. Aber man sollte doch meinen, ein solcher Riesenbetrieb ...
LANGENSCHEIDT. Eben drum. Da verschwindet der einzelne. Wenn ich mal meines Vaters Platz übernehme, dat is bloß 'ne Formsache. Und sich so überflüssig fühlen ... ich sag Ihnen, das lähmt jede Schaffenskraft und jeden Trieb.
KÖRTING. Nun, würden sich Ihnen denn da nicht um so mehr andere Tätigkeitsgebiete öffnen?
LANGENSCHEIDT. Sagen Sie mir doch eins ... Ich habe gesucht und gesucht ... Erst sollte ich natürlich die militärische Karriere machen, aber dabei war mein leidender Zustand das Hindernis. Dann interessierte mich Malerei und Skulptur. Künstler wollte ich werden! Oh, ich hatte schon Trieb, und Fähigkeit hatte ich auch ... jawohl. Ich habe gute Anfängerarbeiten geliefert. War ich 'n armer Teufel[605] gewesen, da hätte man mich mitleidig ermuntert und protegiert. Aber so war ich der Millionenerbe, der sich einbildete, mit seinem Gelde könne er alles werden. Förmlich gebettelt habe ich um 'ne Anerkennung, um 'ne Aufmunterung ... äh! Und so war's mit allem. Nichts sein als reich sein, das is verdammt wenig.
KÖRTING. Mir will auch scheinen, daß Ihr Leiden Sie unnütz verbittert macht, Herr Langenscheidt.
LANGENSCHEIDT im Umhergehen stehenbleibend. Aber in mir sollen sie sich verrechnet ham! Denen, die mich über die Achsel ansehn, werd ich's mal zeigen, wen sie vor sich ham! Zittern sollen sie vor mir!! Er hat einen schrecklichen Hustenanfall.
KÖRTING. Herr Langenscheidt, Sie sollten sich nicht so erregen.
LANGENSCHEIDT. Äh ... manchmal da packt mich so die Wut ...
KÖRTING. Hören Sie, Herr Langenscheidt, Sie sind noch ein so junger Mann ... Verzeihen Sie, wenn man jung ist, läßt man sich nicht gerne an die geringe Zahl seiner Jahre erinnern; aber es ist doch ein Vorzug, jung zu sein. Und ich meine, Sie sollten sich zusammenraffen und sich aus Ihrem eignen Selbst heraus ein Ideal zu bauen suchen.
LANGENSCHEIDT. Glauben Sie noch an sich selbst?
KÖRTING. Ja, das tu ich, Herr Langenscheidt, und das ist doch noch das einzige, was uns aufrechterhalten kann.
LANGENSCHEIDT. Aufrechterhalten ...? Wissen Sie, die eine Lebenserfahrung schein ich nu doch vor Ihnen vorauszuhaben: daß es keinen gemeineren Lügner gibt als den, der sich selbst belügt.
KÖRTING steht starr. Mir scheint, es ist besser, daß ich gehe ... ich könnte mich sonst vergessen. Nimmt Hut und Stock. Gott möge Sie schützen und behüten ...
LANGENSCHEIDT faßt seinen Arm. Bitte, lassen Sie mich zufrieden.
KÖRTING. Guten Abend, Fräulein Liesa.[606]
LIESA. Herr Diakonus ...!
LANGENSCHEIDT. Hä ...! Sie lassen mich mit Ihrem Pfarrkind allein?
KÖRTING. Ja. Denn wenn ich vielleicht Besorgnisse gehabt hätte, jetzt brauchte ich sie nicht mehr zu haben. Guten Abend, Fräulein. Er geht.
LIESA. Guten Abend, Herr Diakonus.
Der Hochofen flammt auf.
LANGENSCHEIDT. Da hab ich Ihnen, wie's scheint, 'nen Freund vertrieben?
LIESA empört. Wenn Sie Körting so schimpflich beleidigen.
LANGENSCHEIDT jähzornig. Er soll sich nicht aufspielen ... mir gegenüber ...! Tun so, als ob sie erhaben seien über mich. Sie die Starken und ich der Schwächling. T-hä! Mit all seinem Glauben an sich selbst kann er sich noch nich mal 'nen sauberen Rock erarbeiten.
LIESA. Herr Langenscheidt ...!
LANGENSCHEIDT. Was hier ...! Ich hab vielleicht mehr Mut gehabt wie der. Und überhaupt, wenn ich auch nichts bin, sitz ich mal an meines Vaters Platz, so bin ich doch mehr wie die alle zusammen. Vor mir wird mancher kuschen müssen, der mich jetzt über die Achsel ansieht. Zündet eine Zigarette an. Liesa, seien Sie mir nich böse ...
LIESA achselzuckend. Sie wissen ja, daß wir uns alles gefallen lassen müssen; wir sind ja hier so abhängig. Nimmt aus der Ecke eine Gießkanne.
LANGENSCHEIDT. Wo wollen Sie denn hin?
LIESA. Wir haben ein Stückchen Gartenland. Ich will in der Dämmerung noch ein bißken gießen.
LANGENSCHEIDT. Und mich lassen Sie hier allein?
LIESA. Sie wollen mir doch nich glauben machen, daß Sie um meinetwillen herkommen?
LANGENSCHEIDT. Ei, wissen Sie dat so genau, Liesa?
LIESA. Nu, wenn dat wäre ... Herr Langenscheidt, dann würden Sie am besten gleich wedder gehn.[607]
LANGENSCHEIDT. Na also ... dat is's ja grade. Da muß ich mich ja mit Hannchen gut Freund halten, hähä.
LIESA. Herr Langenscheidt, darf ich Ihnen wat seggen?
LANGENSCHEIDT. Aber immer zu, Liesa.
LIESA. Haben Sie Achtung vor mir, Herr Langenscheidt?
LANGENSCHEIDT verblüfft, dann verlegen. Na aber, Fräulein ... Nimmt langsam und verlegen seine Mütze ab. Wie können Sie bloß so fragen, Fräulein Lückel ...
LIESA. Ich hab Ihnen auch nie die Achtung verweigert, und drum segg ich Ihnen: Uns' arm, dumm Hannchen wat weis machen, dat is keine Kunst, aber wenn Sie sie in die Schande brächten ... ich müßte ausspucken vor Ihnen, Herr Langenscheidt. Geht ruhig durch die Stube links hinaus.
LANGENSCHEIDT steht einen Augenblick verlegen, gibt sich dann einen Ruck. Äh ... Dummheiten, verfluchte!
Der Hochofen flammt auf.
HANNCHEN kommt von der Straße her herein, stutzt an der Türe. Herr Langenscheidt, dat sünd Sie doch ...?
LANGENSCHEIDT plötzlich lustig und beweglich. Hannchen ...! Sühst du, dat freut mich. Komm mal her, Hannchen.
HANNCHEN unter der Türe, neckend. Nee, ich komm nich rein. Wenn Sie da sünd, komm ich nich rein.
LANGENSCHEIDT. Dummes Mädel, warum denn nich?
HANNCHEN. Weil ich Ihnen nich trau ... Etsch.
LANGENSCHEIDT. Aber ich tu dir doch nix ... So komm doch.
HANNCHEN. Wenn Sie ganz artig sünd ...
LANGENSCHEIDT. Ich bin doch artig.
HANNCHEN. Nee, Sie müssen sich in die Ecke setzen.
LANGENSCHEIDT. Gut, ich sitz schon. Setzt sich in die Sofaecke und faltet die Hände auf den Knien. Kiek man, wie 'n kleiner Junge in der Schule.
HANNCHEN. Un Sie dürfen nich uppstehn, Herr Langenscheidt.
LANGENSCHEIDT. Nee, nee, so komm doch nur.
HANNCHEN hüpft herein. Wenn Sie uppstehn, Herr Langenscheidt ... Bleim Sie auch sitzen ... he? Huscht zur Kommode[608] und sucht nach Streichhölzern, wobei sie Langenscheidt neckisch beobachtet.
LANGENSCHEIDT. Was makst du denn da?
HANNCHEN. Nix, nix ... Dat Sie sitzen blieven, Herr Langenscheidt. Wo hab ich denn ... aha. Läßt ein Zündhölzchen aufflammen, will die Lampe anzünden.
LANGENSCHEIDT springt lachend auf. I, dat dich der Düvel ... haha! Pustet das Zündholz aus und will sie umfassen.
Hannchen springt kreischend zurück.
LANGENSCHEIDT. Pscht, pschtl Hannchen ... zum Donnerwedder ...! Diene Schwester is im Garten.
HANNCHEN. So lassen Sie mich gehn.
LANGENSCHEIDT. Hannchen, nu sei mal vernünftig ... Sühst du, wenn du gut büst, dann fahr ich zum Juwelier nach Essen und kauf dir ein paar Ohrringe.
HANNCHEN ungläubig. Die kaufen Sie mir ...?
LANGENSCHEIDT. Natürlich ... zieh nich so 'ne dumme Snute. Un nu segg mal, warum läufst du immer weg, wenn ich herkomme ... he?
HANNCHEN. Je ja ... Maulig. Gehn Sie doch zu meiner Schwester.
LANGENSCHEIDT erregt. Hannchen, red nich so dumm. Dat weißt du doch ganz genau, dat ich wegen dir herkomm.
HANNCHEN. Wegen mir ...? Steht halb verlegen, halb ängstlich; will zur Türe. Ich will mal sehn, ob Pittjupp noch nich kommt ...
LANGENSCHEIDT vertritt ihr den Weg. Dat wirst du blievenlassen.
HANNCHEN. Herr Langenscheidt, wenn Sie mich nich gehnlassen ...
LANGENSCHEIDT. So schweig doch. Nur hierblieven sollst du ... Hannchen!
Hannchen setzt sich zaghaft und verlegen an den vorderen Tisch. Langenscheidt zündet sich eine Zigarette an: geht umher. – Der Hochofen flammt auf.
[609]
HANNCHEN. Hu ...! Jetzt ham sie im Werk immer große Nachtschicht. Pause. Uns' Pittjupp muß von nächster Woche an auch Nachtschicht machen. Pause. Ich hevv jetzt auch immer zu tun. Fünf Mille Sigarrn muß ich die Woche abliefern. Pause. Herr Langenscheidt, sünd in die Ohrringe auch Steine drin?
LANGENSCHEIDT lacht und kommt an den Tisch. Nu natürlich sünd Steine drin, du dummes Ding.
HANNCHEN. Eh, eh, ich bin gar nich so dumm ... nee. Hihihi.
LANGENSCHEIDT setzt sich dicht zu ihr. Nich ... Nu segg mal, Hannchen, bist du mir denn gar nich 'n bißken gut ... wat?
HANNCHEN. Je ja ... Dat weiß ich nich, Herr Langenscheidt.
LANGENSCHEIDT. Nu, dat mußt du doch wissen, Hannchen.
HANNCHEN. Nee, nee, dat trau ich mich gar nich zu seggen. Hihihi.
LANGENSCHEIDT. Na, dann kiek mich mal an.
HANNCHEN. Nee, nee ... Hihihi.
LANGENSCHEIDT will sie umfassen. Weißt du, du büst so ein hübscher Kerl ...
HANNCHEN. Herr Langenscheidt ...!
LANGENSCHEIDT. Ich muß immer denken: wenn man dich in seidne Röcke steckte, zög dir Lackstiefelchen an die Füßchen und setzte dir 'n flottes Hütchen upp ... Mädel, du würdst riesig nett aussehn.
HANNCHEN. I, dat seggen Sie so; damit wollen Sie mich nu dumm machen.
LANGENSCHEIDT. Ei, mir wärst du hübsch genug, Hannchen. Aber, wat gilt's, ich kauf dir dat alles.
HANNCHEN. Sie ...?
LANGENSCHEIDT. Ja ... segg mal, Hannchen, der Mond macht draußen so hell wie Tag. Magst du nich 'n bißken mit durch die Wiesen laufen?
HANNCHEN. I, Herr Langenscheidt, wat gläuven Sie denn. Ich muß arbeiten, dat miene Mudder nich schimpft.
LANGENSCHEIDT. So laß sie doch schimpfen und komm mit.[610]
HANNCHEN. Nee, nee.
LANGENSCHEIDT. Hannchen, die halbe Kolonie is draußen upp den Wiesen.
HANNCHEN. I, un morgen tuscheln sie in der ganzen Kolonie: Lückels Hannchen geht mit Herrn Langenscheidt.
LANGENSCHEIDT. Mach nur, komm mit, Hannchen. Wir können ja auch drüben ins Gehölz gehen.
HANNCHEN. Ach je ... un wat solln wir denn da?
LANGENSCHEIDT. Nu ... nu ... da is's hübsch, Hannchen. Da können wir Glühwürmchen fangen.
HANNCHEN lacht. Ei, kiekt man, so ein Schlauberger! Dat können Sie doch auch allein, un denn bringen Sie sie mir her. Hihi.
LANGENSCHEIDT mit beißer Zärtlichkeit; leise. Hannchen, ich bin dir ja so gut. Seit Wochen lauf ich dir nach, dat ich dich mal allein habe, dat ich dir mal sagen kann, wie gern ich dich habe, Hannchen! Verdammt, ich könnt jede Dummheit für dich machen, weil du so hübsch bist, Mädel ...! Er preßt sie an sich.
HANNCHEN. Herr Langenscheidt ... hören Sie ... Herr Langenscheidt ...!
Ein paar Arbeiter kommen über die dunkle Koloniestraße. Einer steckt blitzschnell den Kopf durchs Fenster und macht: »Bä-ä-äh!!!« Dann rennen sie mit lautem Gelächter davon. – Hannchen kreischt erschreckt auf.
LANGENSCHEIDT springt ebenfalls erschreckt auf und rennt vor die Türe, draußen wütend rufend. Wenn ich den verfluchtigen Lümmel rauskriege, fliegt er aus dem Werk raus, dat könnt ihr euch merken, verdammte Bande!
Hohngelächter in der Ferne. – Hannchen hat zitternd und schluchzend die Lampe angezündet, stellt sie auf den Tisch.
LANGENSCHEIDT. Dat warn paar Polen. Die Hiesigen getrauen sich so 'ne Frechheit nich. Donnerwedder, wenn ich se[611] rauskriege, die Kerls müssen den Abkehrschein ham ... Stutzt beim Anblick der brennenden Lampe. Ja, wat is denn dat?
HANNCHEN schluchzend. Ich hab Licht macht, ich hab so 'nen Schreck kriegt ...
LANGENSCHEIDT einen Augenblick fassungslos, setzt seine Mütze auf und schreit dem Mädchen ins Gesicht. Du bist eine dumme Gans!! Geht wütend hinaus.
Hannchen sitzt weinend da. – Mutter Lückel,
Schniermann, Pittjupp kommen von der anderen Seite der Straße.
MUTTER LÜCKEL eingetreten. Ei nu ... Hannchen ... wat is denn dat ...? Du heulst doch.
HANNCHEN hastig. Nee, Mudding, nee ... ich hevv nich geheult.
MUTTER LÜCKEL. So, un du brennst eine Lampe?
HANNCHEN. Ja ... ja, Mudding. Da et doch so dunkel is.
MUTTER LÜCKEL. Ei, segg mir doch, wat dat heißen soll?
HANNCHEN. Nu ... sühst du ... Herr Langenscheidt war doch hier ...
DER ALTE SCHNIERMANN. Wedder der Langenscheidt ... hähäha.
MUTTER LÜCKEL entrüstet. Herr Langenscheidt ...! Ei, is denn dat so 'n großer Herr, dat du um seinetwillen Licht machen mußt? Brennt dem der Hochofen nich hell genug? Kannst du nich mit Langenscheidt im Dunkeln sitzen?
HANNCHEN Schürze vorm Gesicht. Ach Mudding, ich weiß schon, warum ich Licht macht hab.
MUTTER LÜCKEL wütend. Aale Heulbase! Stell die Lampe upp den Arbeitstisch un mach diene Wickel ... Marsch!
Hannchen stellt die Lampe hin und setzt sich zum
Arbeiten.
DER ALTE SCHNIERMANN. Hähähä, ich weiß Bescheid ... hähähä.
PITTJUPP. Ich wer' man schließen ... wohl?
[612] Pittjupp und Hannchen verschließen Fensterläden, Fenster und Türe.
MUTTER LÜCKEL. Wo is Liesa?
HANNCHEN. Sie gießt im Garten.
MUTTER LÜCKEL geht in die Stube links, man hört sie rufen. Liesa! Liesa!
DER ALTE SCHNIERMANN kommt auf den Zehenspitzen und beguckt die Zigarren, die zum Trocknen auf Hannchens Arbeitsbank liegen. Wat, da sünd doch schon Sigarrn trocken. Wieveel sünd denn dat ... he?
HANNCHEN. Fünfhunnert.
DER ALTE SCHNIERMANN stiebitzt eine. Und wenn man eine klaut, denn sünd's bloß noch veerhunnertneununneunzig. Hähähä.
Pittjupp lacht.
HANNCHEN wütend. Aaler Spitzbube ...! Aaler Spitzbube ...! Du hast mich Sigarrn gestohlen ...!
DER ALTE SCHNIERMANN. Pscht! Pscht! Ich will ja bloß man probesmöken, ob du nich zu feste gewickelt hast. Hähähä. Zündet die Zigarre an.
Pittjupp lacht.
HANNCHEN. Aaler Spitzbube ...! An der Nebentüre. Mudder, sie stehlen mich meine Sigarrn ...!
PITTJUPP packt sie, schüttelt sie, mehr lustig wie derb. Sühst du, wenn du den Vadder Sniermann so frech kommst, denn wer' ich dir dat mal bewiesen ...! Gibt ihr einen Stoß.
Hannchen kreischt auf.
PITTJUPP UND DER ALTE SCHNIERMANN. Nacht auch! Glück auf!
Sie gehen lachend in die Nebenstube rechts. Hannchen setzt sich schluchzend an den vorderen Tisch. Es klopft an den Fensterladen beim Arbeitstisch. Hannchen schreckt zusammen, läuft hin. Erneutes Klopfen.
[613]
HANNCHEN leise. Wer is da?
LANGENSCHEIDT draußen. Mach upp, Hannchen.
HANNCHEN öffnet den Laden. Pscht, pscht.
LANGENSCHEIDT. Bist du allein?
HANNCHEN. Sie sünd alle zu Huus.
LANGENSCHEIDT. Hannchen, magst du nich mitgehn ... he? Komm, Hannchen.
HANNCHEN. Ich soll arbeiten.
LANGENSCHEIDT. Sei nich dumm. Komm in die Wiesen, Hannchen.
HANNCHEN. Ich möcht schon ...
LANGENSCHEIDT. Also besinn dich nich un komm.
HANNCHEN. Aber mien Mudding?
LANGENSCHEIDT. Na, beißen wird sie dich nich, hähä.
HANNCHEN. Ich kann doch nich, Pittjupp hat den Schlüssel.
LANGENSCHEIDT. I du dummes Ding. Tret man upp den Tisch ...
HANNCHEN. Herr Langenscheidt ...!
LANGENSCHEIDT. Nu mach doch. Vorwärts. So-o- o. Nu setz den Fuß upp dat Fensterbrett ... so. Un nu spring mal ...!
HANNCHEN. Herr Langenscheidt ...!
LANGENSCHEIDT. Spring doch, zum Donnerwedder ...!
Geräusch in der Stube links.
HANNCHEN. Da kommt Mudder ...
LANGENSCHEIDT. Spring ...
Hannchen springt herab und mit lautem Aufkreischen in Langenscheidts Arme. Die beiden rennen lachend davon.
LIESA kommt aus der Nebenstube links. Hannchen ... Wo ist sie denn? Sieht das offene Fenster, erschrickt, blickt hinaus und ruft die Straße hinab. Hannchen ...! Hannchen ...!
MUTTER LÜCKEL kommt aus der Stube links. Wat is auch ... hä?[614]
LIESA. Mudder, Hannchen is fort.
MUTTER LÜCKEL. Fort ...? Wohin ...?
LIESA. Ich sah sie mit Langenscheidt in die Wiesen laufen.
MUTTER LÜCKEL erschreckt. Mit Langenscheidt ...! Beugt sich zum Fenster hinaus. Hannchen ...! Hannchen ...! Ich seh sie nich mehr. Ach Gott, ach Gott ... so will sie sich nich raten lassen ... sie will nich upp ihre Mudder hören. Setzt sich weinend beim Ofen hin. Mien Kind ... mien Kind ...!
Durch das offene Fenster leuchtet die rote Glut des aufflammenden Hochofens.
Buchempfehlung
Die beiden betuchten Wiener Studenten Theodor und Fritz hegen klare Absichten, als sie mit Mizi und Christine einen Abend bei Kerzenlicht und Klaviermusik inszenieren. »Der Augenblich ist die einzige Ewigkeit, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört.« Das 1895 uraufgeführte Schauspiel ist Schnitzlers erster und größter Bühnenerfolg.
50 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro