Vierter Akt

[672] Mutter Lückels Wohnstube.

Es ist Tag. Das Werk ist in voller Tätigkeit. Der Lärm der Arbeit dringt auf die Szene.

Liesa sitzt, mit Zigarrenmachen beschäftigt, an Hannchens Arbeitstisch; hält in der Arbeit inne und schaut mit verträumten Blicken vor sich hin; singt.


Et waren zwei Königskinner,

Die hadden einanner so leev.

Se konnten tosammen nich kommen,

Die Wasser warn veel zu deef ...


Fährt zusammen und arbeitet weiter.


TRINA kommt nach einer Weile, in Kopftuch und gewöhnlichem Arbeitskleide, herein. Tag, Liesa.

LIESA. Tag, Trina ... schon wedder da?

TRINA verzweifelt herausbrechend. Wat will ich machen! Ich hevv ja niemanden! Ich hvv je keinen Menschen, der mir hilft!

LIESA weiterarbeitend. Je ja.

TRINA. Wickelst du jetzt Sigarrn?

LIESA. Ja ... Mudder un ich. Wenn ich us dem Produktenverein zu Huus komme, so helf ich ihr, dat wir doch die Arbeit nich verliern ... Gestern hab ich die halve Nacht gesessen.

TRINA. Arm Lies.

LIESA seufzend. Wenn's sein muß.

TRINA vorn am Tisch sitzend. Wißt ihr wat von Hannchen?


Liesa schüttelt den Kopf.


TRINA. Nu segg mir bloß, wat soll aus Hannchen werden?

LIESA zuckt die Achseln. Weißt du, Trina ... am Ende is's ihr Glück.[673]

TRINA. Liesa, wie kann dat ihr Glück sein! Dat nimmt ein böses Ende. Der Langenscheidt, dem sie alle nachlaufen ... Weißt du, wat er an ihr findt? An dem armseligen Ding?

LIESA. Vielleicht grade drum. So spottjung, 'n halves Kind ... wohl?

TRINA. Un wenn auch ... Er wird sie bald satt kriegen. Und dann läßt 'r sie sitzen, un sie kommt um.

LIESA verträumt. Nu, umgekommen war sie hier auch, bei der Elendsarbeit ... un wenn sie umkommt – Sehnsüchtig ausgebreitete Arme. – sie hat doch einmal dat Leben gesehn!

TRINA. Liesa, ich weiß nich, wie du dat seggen kannst An Mudders Stelle würd ich rumlaufen för Himmelangst, bis ich mien Kind wedderhätte.

LIESA. Sie läuft ja rum. Aber wo se hinkommt, heißt's: »Pscht, wollen Sie wohl den Mund halten! Unterstehen Sie sich nicht, öffentlich darüber zu sprechen!« Der Werksdirektor seggt: »Wenn nur nichts in die Öffentlichkeit dringt; wenn wir nur dem Herrn Geheimrat die Schande ersparen« ... Von uns' Hannchen redt keiner.

TRINA. Je ja ... Wo is Mudder?

LIESA. Sie is bei Pittjupp. Heut is im Krankenhuus Besuchsdag.

TRINA. Geht et wedder gut?

LIESA. Och, Mudding seggt, sie wolln ihn in vierzehn Dagen entlassen. Sie ham ihm ein Stelzbein gemacht.

TRINA. Wat will 'r denn anfangen?

LIESA. Er muß sehn, wo sie einen Krüppel wer 'n bräuken können.

TRINA. Hm. Segg mal, könntst du nich mal mit dem Diakonus reden?

LIESA fährt zusammen. Mit dem ... weshalb, Trina?

TRINA. Nu, der Diakonus kommt doch veel rum. Der könnte ihm wohl Arbeit schaffen.

LIESA starrt vor sich hin, dann. Körting is seit Wochen nich mehr hiergewesen.[674]

TRINA. Och Gott, un wenn 'r auch man bloß 'n Krüppel is, er hat doch sien Levven ... ja, dat hat 'r. In Weinen aufbrechend. Aber mien Jan, mien armen Jan hat's dotgeschlagen. Ich kann ihn nich vergessen, mienen Jan.

MUTTER LÜCKEL kommt im schlichten Sonntagskleid, Kopftuch, herein. Dag zusammen. Stutzt bei Trinas Anblick.

TRINA UND LIESA. Dag, Mudder.

MUTTER LÜCKEL lauernd. Nu, Trina ... auch wedder do?

TRINA. Ja, Mudder.

MUTTER LÜCKEL. Was willst du denn bei der Mudder, he?

TRINA. Ach ... dich besuchen ... bloß man.

MUTTER LÜCKEL. Un sonst nix?

TRINA. Nu ... nee ... nu ... bitten wollt ich dich jo recht, dat du mir wat mitgäbst för miene hungrigen Kinners.

MUTTER LÜCKEL wütend herausschreiend. Dacht ich's doch, dat du wedder bloß beddeln kommst!

TRINA. Mudder, ich weiß mir keinen annern Root!

MUTTER LÜCKEL. Kannst du nich mit 's Waschen Geld verdienen?

TRINA. Mudder, ich arbeit ja, aber dat bräuk ich för Miete, denn wenn sie mir 's Dach überm Koppe wegnehmen, wat soll ich da machen!

MUTTER LÜCKEL reißt den Schrank auf und schlägt ihn wieder zu. Ich hab nix! Da kiek doch! Wir möten jetzt selver Hunger leiden!

TRINA flehentlich. Mudder, wenn du bloß 'n bißken Brot häddest, dat ich et den Kinners in Wassersupp inbröken könnte ... Gewiß un wahrhaftig, Mudder, et is et letzte Mal, dat ich beddeln komm.

MUTTER LÜCKEL Faustschlag auf den Tisch. Nu hör schon upp! ... wohl?! Vorgestern warste da ... »ich komm nu nich wedder«. Gestern warste da ... »ich komm nu nich wedder«. Heute biste schon wedder da ... »et is et letzte Mal«, un morgen wirste kommen un übermorgen un all Dag un wirst mir dat Brot aus 'm Schapp holen![675]

TRINA. Du hast mir doch mal seggt, wenn Not war, dann sollt ich zu mien Mudding kommen.

MUTTER LÜCKEL. Och wat ich seggt hab ...! Einmal hilft man un 'n anner Mal, aber wenn eine all Dag un all Dag kommt, dann verliert man die Geduld! Holt aus dem Schranke ein halbes Brot, schneidet es in zwei Teile und legt das eine Teil vor Trina hart auf den Tisch. Dahier, mir können nu trockne Erdäppeln essen.

TRINA hat das Brot hastig unter der Schürze geborgen. Danke, ... Mudder, sei auch nich so böse zu mir ... wohl? Mudding!

LIESA. Segg mol, Trina, du hast doch nu so veele Möbels. Wenn du nu davon wat verkaufen dätst ...?

TRINA nach einiger Überlegung. Ich könnt dem Jan sien Bedde un die Kommode verkaufen ...

MUTTER LÜCKEL die mürrisch beiseite gestanden, eifrig. I, dat du dat nich machst, Trina. Sie geben dir doch nix daför. Un du mußt an die Zukunft denken.

TRINA. Wie ...?

MUTTER LÜCKEL. Nu, ich denk bloß, et wird gar mancher Bergmann froh sein, wenn 'r in so 'ne schöne Wirtschaft inheiraten kann.

TRINA empört. Mudder ...! Jan is noch nich kalt, un du sprichst schon von 'nem annern Mann!

MUTTER LÜCKEL. Nu ja, nu wat denn?

TRINA. Ich heirat nich wedder, Mudder.

MUTTER LÜCKEL. I, kiekt man die Zimperliese an. Die will nich wedder heiraten. Wie denkst du dir dat denn eigentlich, he? Wer soll denn diene Kinners ernähren? Von mir kriegst du nich lange mehr wat, un du kannst se doch nich durchbringen ... Also, freu dich, wenn du bal' einen annern Mann kriegst, wohl?

DER ALTE SCHNIERMANN kommt angeheitert herein. Hähähä. Glück auf ...! Glück auf ...! Ei, kiekt man an, Trineken! Auch wedder do, hähähä.

TRINA. Nu, ich wer doch noch zu miene Mudder kommen dürfen![676]

DER ALTE SCHNIERMANN. Nu ... hebb ich wat seggt? Ich red bloß so. Hähähä. Setzt sich auf die Ofenbank. Mien Piefken wer' ich smöken. Zündet seine Pfeife an.

MUTTER LÜCKEL. Du trägst auch dienen letzten Groschen in die Kneipe.

DER ALTE SCHNIERMANN. Pscht, Mudder Lückel, pscht ... In der Kneipe war ich ... dat 's wahr. Aber kosten dut's mich nix. Hähähä. Denn warum? Heut is Lohndag, da sitzt d'r Vadder Sniermann in d'r Kneipe. Un denn kommen die aalen Kameradens ... die halten wat upp den Vadder Sniermann ... ja, dat dun sie. Un denn heißt's: »Hallo, Vadder Sniermann, hier haste einen Klooren!« Un noch einen, un noch einen ... hähähä. Un wenn denn d'r Vadder Sniermann zu Huus geht, denn dreht sich die ganze Kolonie um ihn nun, hähähä. Denn seht ihr, die Weltkugel hat eine Achse, un drum dreht se sich – Grölt. – da dreht se sich! Trunkenes Gelächter; plötzlich, da sie alle still bleiben, ernst werdend. Ah so ... je ja ... Seggt mol, Mudder Lückel, wat macht denn Pittjuppche?

MUTTER LÜCKEL. Nu ... 'n bißken blaß is 'r noch. Aber am Ersten wolln se 'n schon wedder schicken. Er versucht schon, up sienen Stelzbein zu gehen.

DER ALTE SCHNIERMANN. Nu kiekt man ... Da kann 'r lachen. Wenn sie ihm sien Bein bloß ordentlich entschädigen.

MUTTER LÜCKEL. Ja, dat is nu die Hauptsache. Wat mir sonst bloß anfangen solln ...!

DER ALTE SCHNIERMANN. Un ... un wat wird denn mit Hannchen?

MUTTER LÜCKEL wütend auf ihn losfahrend. Wirst du dien Muul halten! Leise zu allen. Wir sollen ja nich drüber sprechen.

TRINA. Adjüs, Mudder. Adjüs, Liesa.

LIESA UND MUTTER LÜCKEL. Adjüs, Trina.

DER ALTE SCHNIERMANN. Un mir seggst du nich adjüs, Trina?


Trina zuckt die Achseln.
[677]

DER ALTE SCHNIERMANN. Ich soll dir einen schönen Gruß ausrichten, Trina.

TRINA. Von wem auch?

DER ALTE SCHNIERMANN. Von dem Kobanski, dem Polen.

TRINA. Kobanski ...?

DER ALTE SCHNIERMANN. Ja, Trina, der Schmied, weißt du? Er hat ein Auge upp dich geworfen. »Die Frau Biggen«, seggt 'r, »dat is ein Weib, wie die ausschreitet, wenn sie durch die Kolonie kommt! Die könnt mir wohl gefallen.« Hähähä.

MUTTER LÜCKEL. Hast du's gehört, Trina?

TRINA. Kobanski? Jan seggt immer, der Kobanski säuft.

MUTTER LÜCKEL interessiert zu ihr tretend. Nu, dat kannst du ihm doch abgewöhnen.

TRINA. Wer, ich ...?

MUTTER LÜCKEL. Nu ... – Sich besinnend. – ach so ...

DER ALTE SCHNIERMANN. Der Kobanski kann schon mal sien Schnäpsken drinken. Der verdient sein Geld, hui! »Wenn ich mal heirat«, seggt 'r, »miene Fruu bräukt nich waschen gehn, die kann den ganzen Dag im Fenster liegen un den Leuten upp den Kopp spucken.« Hähähä.

MUTTER LÜCKEL. Nu hör nur, Trina ... wohl?

TRINA. Ich denk, die Schmiede müssen jetzt die halve Woch feiern?

DER ALTE SCHNIERMANN. I, der Kobanski nich. Der makt Überschichten, jawoll. Dat is 'n »Vierundzwanziger«, wie se upp dem Werk seggn. Er arbeit' siene vierunzwanzig Stunden hintereinander fort un nimmt nur mal 'n Schnaps un 'n bißken Essen. Un dat makt 'r die Woche so dreimal ... Trina, an die sechzig Mark hat 'r upp sienen Lohnzeddel stehn.

MUTTER LÜCKEL. Trina ...!


Trina steht überlegend.


LIESA die im Hintergrunde zugehört hat. Wat die Vierunzwanz'ger sünd, die machen dat meistens nich lange ...[678] wohl? In 'n paar Wochen sünd se im Krankenhuus un in 'n Paar Monaten upp dem Kirchhofe.

DER ALTE SCHNIERMANN. I, der Kobanski nich! Dat is 'n Kerl wie 'n Baum. So ... hähähä. Un komisch is 'r anzukieken. Die linke Seite, wo 'r mit nach 'n Ofen steht, is ganz rot verbrannt vom Feuer, un die rechte Seite is ganz voll schwarze Haare, wie 'n Zottelbär ... hähähä.


Trina hört mit lüsternen Augen und sinnlichem Ausdruck zu.


MUTTER LÜCKEL. Trina, der Kobanski ... sühst du, dat sollst du dir ieverlegen ... wohl?

KLÖNNE tritt ein, Hut auf dem Kopfe, kurz. Tag ... Ich wünsche Frau Lückel zu sprechen.

ALLE mit Liesas Ausnahme, kriechend demütig. Tag, Herr Direkt'r ... Herr Direkt'r.

KLÖNNE kühl. Frau Lückel, ich habe mich persönlich herbemüht, um Ihnen eine Mitteilung zu machen, die ich Ihnen schuldig zu sein glaube ... Hm. Es hat heute morgen vor dem Dortmunder Landgericht ein Prozeß gegen unsern früheren Steiger Wittbräuke stattgefunden. Wittbräuke war angeschuldigt, durch nachlässige Aufsicht das vorzeitige Zubruchegehen einer Verzimmerung verursacht zu haben, bei welchem Unglück auch Angehörige und Verwandte von Ihnen leider mit betroffen worden sind. Der Steiger ist schuldig befunden und zu einer mehrmonatlichen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Die Werksverwaltung teilt Ihnen dies offiziell mit, damit Sie sehen, daß das Vergehen seine Sühne gefunden hat.

ALLE außer Liesa. Ach Gott, Herr Direkt'r ... der arme Wittbräuke ... er hat doch auch Kinder ... dat hätt ich ihm nich gewünscht, Herr Direkt'r.

KLÖNNE. Bitte ... Ich habe Ihnen dann noch etwas anderes mitzuteilen ... Blick zur Türe. Haben Sie immer Tür und Fenster aufstehen?

ALLE außer Liesa. Mir wer 'n schließen, Herr Direkt'r ... die Fenster auch ... so-o-o. Schließen Türe und Fenster.[679]

KLÖNNE zieht einen Bogen hervor und prüft seine Notizen. Sagen Sie mal, Frau Lückel ... ich habe Veranlassung genommen, mich aus den Verwaltungsbüchern über Ihre Verhältnisse zu informieren.

MUTTER LÜCKEL erschrickt, dann demütig. Jawoll, Herr Direkt'r.

KLÖNNE ablesend. Sie leben von einer Pension, die Ihnen, als der Hinterbliebenen des mit Tod abgegangenen Bergmanns Peter Joseph Lückel, aus der Wohlfahrtskasse des Werkes bezahlt wird.

MUTTER LÜCKEL. Nu ... leben. Et sünd man bloß veer Daler upp den Monat ...

KLÖNNE. Das macht pro Jahr hundertvierundvierzig Mark, eine ganz nette Summe, für die man schon danke sagen kann.

MUTTER LÜCKEL. Jawoll, Herr Direkt'r, ich bün auch sehr dankbar ...

KLÖNNE. Schon gut. Dann haben Sie einen Sohn, der als Karrenschieber auf der Zeche verunglückt ist.

MUTTER LÜCKEL. Jawoll ... uns' Pittjupp, Herr Direkt'r.

KLÖNNE. Und der für Verlust eines Gliedes zukünftig Unfallrente beziehen wird.

MUTTER LÜCKEL. Jawoll.

KLÖNNE. Sie haben die Verwaltung gebeten, den jungen Mann, nach Möglichkeit seiner verbliebenen Körperkräfte, weiterhin auf dem Werke zu beschäftigen.

MUTTER LÜCKEL. Ja, weil er doch nich weiß, wat er machen soll ...

KLÖNNE. Die Werksverwaltung wird Ihrer Bitte willfahren.

MUTTER LÜCKEL. Ich dank Ihnen, Herr Direkt'r, ich danke.

KLÖNNE. Dann haben Sie eine erwachsene Tochter Katharina.

MUTTER LÜCKEL. Da is se selbst, Herr Direkt'r.

KLÖNNE. So, so. Ach ja, richtig. Sie waren die Ehefrau des mit Tod abgegangenen Häuers Biggen?

TRINA. Ja, Herr Direkt'r ... ich bün siene Witwe ... zwei Kinner hevv ich. Wenn Sie wat för uns dun könnten, Herr Direkt'r.[680]

KLÖNNE. Die Werksverwaltung hat Ihre Eingabe um Witwenpension leider abschlägig bescheiden müssen ...

TRINA. Herr Direkt'r ... o Gott ... wat soll ich denn da bloß machen ...!

KLÖNNE. ... da der Häuer Biggen insgesamt nur fünf Jahre, nicht aber eine Minimalzeit von zehn Jahren auf dem Werke gearbeitet hat. Ich habe jedoch bewirkt, daß Ihnen aus freien Stücken eine kleine monatliche Unterstützung so lange bezahlt werden soll, bis Sie sich wieder verheiratet haben.

TRINA. Ich ... Ich danke, Herr Direkt'r.

KLÖNNE. Bitte ... Dann haben Sie eine Tochter Elisabeth.

MUTTER LÜCKEL. Ja ... hier.

KLÖNNE. So, so ... aha. Sie sind Verkäuferin im Laden des Produktenverteilungsvereins unserer Kolonie?

LIESA. Ja.

KLÖNNE. Sie haben also auch Ihre Existenz durch das Werk?


Liesa sieht ihn an, dreht ihm den Rücken.


KLÖNNE betroffen. Ich muß sagen ...

MUTTER LÜCKEL. Herr Direkt'r ...

KLÖNNE. Schon gut, schon gut ... Dann wohnt bei Ihnen der Werksinvalide Schniermann.

DER ALTE SCHNIERMANN demütige Verlegenheit. Herr Direkt'r, ich mache darauf aufmerksam ... dat ich die Ehre habe ...

KLÖNNE. Sie beziehen aus der Werkskasse Pension?

DER ALTE SCHNIERMANN. Mit devotester Zustimmung zu vermelden ... dat dies siene Richtigkeit hat. Zweiundzwanzig Jahre hab ich gearbeitet.

KLÖNNE. Ich weiß, ich weiß. Ich gönne Ihnen Ihre Pension von ganzem Herzen, lieber Schniermann. Allein ich möchte darauf hinweisen, daß das, was Sie und Ihre Angehörigen, Frau Lückel, der Werksverwaltung verdanken, lediglich Wohltaten sind. Unsere Aktionäre tun das aus freiem Ermessen, um unsere Arbeiterschaft neben ihrem Arbeitslohn in geeigneter Weise an den Betriebsüberschüssen[681] zu beteiligen. Hart. Die Werksverwaltung wünscht aber nun, daß Sie sich endlich einmal all dieser Wohltaten würdig erweisen!


Die drei stehen erschrocken da. Liesa steht hoch aufgerichtet im Hintergründe.


KLÖNNE zieht ein Papier aus der Tasche, zu Mutter Lückel. Es ist Ihnen gestattet worden, auch nach dem Tode Ihres Mannes, die innegehabte Koloniewohnung, zu dem üblichen niedrigen Zinssatze weiter zu bewohnen. In dem von Ihnen unterzeichneten Mietsvertrag steht nun, daß die Koloniebewohner sich eines anständigen und sittlichen Lebenswandels zu befleißigen haben. Ich bedaure, daß das bei Ihnen nicht der Fall gewesen ist.

MUTTER LÜCKEL. Herr Direkt'r, ich ... Sie dürfen mich dat nich ievelnähmen ... aber ich bün 'ne gottesfürchtige Fruu ... mir leben in der Zucht un Ordnung ...

KLÖNNE. Ihre Tochter Johanna – und damit komme ich nun zum Kern der Sache – ist, wie Sie selbst der Werksverwaltung gemeldet haben, dem Elternhause entlaufen. Nicht wahr?

MUTTER LÜCKEL. Ja, dat heißt ... Herr Langenscheidt hat uns' Hannchen fortgeschleppt ...

KLÖNNE barsch. Wie können Sie sich erlauben ...! Woher wissen Sie das ... was?

MUTTER LÜCKEL. Nu aber ... sie hat et doch upp den Zeddel geschrie'm, Herr Direkt'r ...

KLÖNNE. Ein junges Mädchen, von der sittlichen Beschaffenheit Ihrer Tochter, ist eine durchaus unglaubwürdige Person. Wir wissen nur, daß Ihre Tochter davongelaufen ist; mit wem, wissen wir nicht und Sie auch nicht, und ich hoffe, daß Sie auch öffentlich nicht mehr behaupten werden! Verstanden?

MUTTER LÜCKEL stockt, dann unterwürfig. Ich ... ich werde mich nich unterfangen.

KLÖNNE. Wie mir mitgeteilt worden ist, wird Ihnen morgen[682] Ihre Tochter Johanna – – und wahrscheinlich durch die Polizei – – wieder zugeführt werden.


Alle schrecken zusammen.


KLÖNNE. Man hat dieses ... dieses Mädchen in einem Düsseldorfer Hotel aufgegriffen, und zwar ... – Sieht sich vorsichtig um, dann leiser. – und zwar in Gesellschaft eines unserer Volontäre, des Sohnes des Herrn Geheimrates Langenscheidt.

MUTTER LÜCKEL. Langenscheidt ...!

KLÖNNE. Herr Geheimrat Langenscheidt war außer sich über den unbegreiflichen Fehltritt seines Sohnes. Er hat ihn zur Rede gestellt. Der junge Herr hat gestanden: er sei, bei seinen Spaziergängen durch unsere Kolonie, von Ihrer Tochter Johanna angelockt worden und schließlich habe ihn das ... das Mädchen mit den Mitteln einer raffinierten Verführungskunst überredet, mit ihr durchzugehen.


Alle stehen starr.


LIESA ruhig und bestimmt. Dat is nich wahr.

KLÖNNE. Was ...!

LIESA. Dat is nich wahr.

MUTTER LÜCKEL. Liesa, wirst du ruhig sein ...!

KLÖNNE. Diese Darstellung hat der junge Herr Langenscheidt gegeben, und der Sohn des Herrn Geheimrats Langenscheidt lügt nicht!! Verstanden?

LIESA ruhig. Wenn er dat seggt, dann hat er gelogen.

DIE DREI. Liesa ...! Wirst du dat Muul halten ...! Wirst du nich ...! Wirst du schweigen ...!

LIESA. Er hat ihr nachgestellt, er hat ihr keine Ruh lassen, un dann hat er sie hier fortgeschleppt, dat er sie in der Gewalt hat.

KLÖNNE. Das ist ja unerhört ...!

MUTTER LÜCKEL. Wenn du nich ruhig büst, so jag ich dich naus!

KLÖNNE. Und das wollen Sie behaupten?[683]

DIE DREI. Nee, dat werden wir nich ...! Herr Direkt'r, dat wollen wir nich ...!

MUTTER LÜCKEL. Herr Direkt'r, wat Sie seggen, dat is die Wahrheit. Ich wer' uns' Hannchen nix gläuven, mir wer 'n nix anneres seggen.

KLÖNNE Seitenblick auf Liesa. Sie scheinen eine sehr unglückliche Mutter zu sein.

MUTTER LÜCKEL in Tränen aufbrechend. Ja, dat bün ich auch, Herr Direkt'r.

KLÖNNE. Ich bedaure, Ihnen noch eine Bemerkung nicht ersparen zu können. Sie müssen doch einsehen, daß der Vorfall mit Ihrer Tochter Johanna die Werksverwaltung berechtigen würde, wegen Verstößen wider die guten Sitten, den Mietsvertrag so fort aufzuheben.

DIE DREI. Herr Direkt'r ...! Herr Direkt'r ...!

KLÖNNE. Indem Sie die Kolonie verlassen müssen, würden Sie dann, statutengemäß, aller Bezüge aus unserer Wohlfahrtskasse verlustig gehen.

DIE DREI. Wir bitten Sie ...! Herr Direkt'r ...! Ich bitt Sie inständigst ...!

KLÖNNE. Seien Sie unbesorgt. Ich bin kein Unmensch, ich habe mich sogar für Sie verwendet. Es wird nichts dergleichen geschehen. Einmal, weil Sie selbst sich' einwandfrei geführt haben, und dann auch, um den Eklat zu vermeiden.

MUTTER LÜCKEL. Sund Sie bedankt.

KLÖNNE. Aber ich erwarte auf das allerbestimmteste, daß nicht mehr das Geringste vorkommen wird.

DIE DREI. Nix mehr, Herr Direkt'r. Dat versprechen wir.

KLÖNNE. Daß Sie vor allem Ihre Tochter Johanna unter strengster Aufsicht halten und, wenn wir die Vorfälle mit dem Mantel des Vergessens bedecken, dasselbe von Ihrer Seite auch geschieht.

DIE DREI. Jawoll, Herr Direkt'r, jawoll.

KLÖNNE bereit zum Gehen, mit stockender Stimme. Und dann ... dann hat mich der Herr Geheimrat noch mit[684] einer Mission beauftragt ... Der Herr Geheimrat will in seiner überströmenden Güte und ... wenn die Umstände dies notwendig machen sollten ... für Ihre Tochter Johanna in einer ihrem Stande angemessenen Weise sorgen.

LIESA hart. Dafür werden wir uns bedanken!

KLÖNNE. Was!

DIE DREI. Liesa ...! Liesa ...!

LIESA. Wat auch geschehen mag, ich wer' uns' Hannchen seggen, dat sie den anspucken soll, der ihr hier Geld bringt!

MUTTER LÜCKEL. Herr Direkt'r ... uns' Liesa ... Ich kiek sie nich mehr an, ich kenn sie nich mehr!

KLÖNNE. Wissen Sie, mit wem Sie sprechen? Der Produktenverteilungsverein ist auch bloß eine Abteilung des Werkes ...!

LIESA vorstürzend, rasend, ihre Hände hinstreckend. Die Hände sollen mir abfaulen, wenn ich sie noch mal für euch rühre!

DIE DREI. Liesa ...! Bist du doll ... Wirst du ruhig sein!

KLÖNNE. So. Wissen Sie denn auch, daß in der Kolonie nur Personen wohnen dürfen, die von uns beschäftigt werden?

LIESA. T-hä! Dann gehe ich meiner Wege.


Pause.


KLÖNNE. Das ist also der Dank dafür, daß man sich für euch verwendet. Geht.

MUTTER LÜCKEL. Herr Direkt'r, vergelten Sie mir's nich, ich bün 'ne aale Fruu ...

DER ALTE SCHNIERMANN. Herr Direkt'r, ich wohn man bloß hier, ich hevv damit nix zu dun ...

TRINA. Herr Direkt'r, eine arme Witwe bitt' Sie för ihre Kinners ...!

KLÖNNE. Das wird sich ja alles finden. Geht über die Koloniestraße.


Die drei sind einen Augenblick starr, dann fallen sie über Liesa her, die trotzig vorn am Tische steht.
[685]

MUTTER LÜCKEL. Du Schandplaster! Einen Knüppel sollt man nehmen ...!

DER ALTE SCHNIERMANN. Du wirst uns alle unglücklich machen!

TRINA. Sühst du, ich sitz mit miene Kinners im größten Elend. Wenn ich kein Witwengeld vom Werk kriege, dann komm ich her, dann nehm ich's erste beste un hau dir's übern Kopp ...!

DER ALTE SCHNIERMANN indem er Trina zurückdrängt. Pscht, pscht ...! Nee, wie die Lies dat seggen kann ...! Da muß man doch gar kein bißken Verstand nich ham!

MUTTER LÜCKEL. Diene Mudder muß verhungern, wenn ihr dat Werk nix mehr gibt!

DER ALTE SCHNIERMANN. Un d'r Klönne is d'r Schlechteste noch lange nich. Er hat sich för uns verwendet.

TRINA. Muulschellen könnt ich dir gevven!

MUTTER LÜCKEL. Pscht, pscht! Nu laßt nur un seid ruhig, dat sie in der Kolonie nix hören.

TRINA fällt heulend auf einen Stuhl. Ach Gott, ach Gott, wat soll ich bloß machen!

MUTTER LÜCKEL. Komm nur, Trina. Ein Tuch überwerfend. Ich wer' dich zu Huus bringen ... wohl? wir werden uns dat mal ieverlegen, wat mir dun.

DER ALTE SCHNIERMANN. Dat 's recht, dat 's recht, ieverlegt's euch mal. Wir müssen ihn versöhnlich stimmen; ja, dat müssen wir.

MUTTER LÜCKEL. Ich wer' schon mit ihm reden. Ich wer' ihn recht schön bitten ... wohl, Trina?

TRINA wendet sich unter der Tür nochmals um. Vadder Sniermann ...

DER ALTE SCHNIERMANN. Ja, wat denn, Trina?

TRINA zögernd. Der Kobanski, der Pole ... Bestell ihm mal einen rechten schönen Gruß von mir.

DER ALTE SCHNIERMANN. Dat 's recht, Trina, dat 's recht. Hähähä.


Trina und Mutter Lückel entfernen sich über die Straße.[686] Man hört, wie Mutter Lückel redet: »Der Kobanski, verstehst du, der Kobanski ...«


DER ALTE SCHNIERMANN steht überlegend. Sie läßt ihn grüßen, hähä, sie läßt ihn grüßen. Dat heißt, da wird er sich freuen ... ich wer' doch mal nachsehn, ob er noch in der Kneipe is. Ein Snäpsken kann er dem Vadder Sniermann dafür wohl gevven. Geht hinaus.


Liesa steht noch eine Weile am Tische, dann seufzt sie tief und geht langsam, gebeugt an den Arbeitstisch beim Fenster, mit Zigarrenwickeln beginnend.


KÖRTING tritt hastig ein. Er ist sorgfältiger und sauberer gekleidet als vordem, Haar und Bart sind korrekt verschnitten; sieht sich suchend um. Liesa ...!

LIESA jauchzender Freudenschrei. Körting ...! Will auf ihn zustürzen, dann bemeistert sie sich. Herr Diakonus ... ach Gott, Herr Diakonus ... ich freu mich ja so, dat Sie wedder da sünd!

KÖRTING. Ich danke Ihnen, Liesa. Es tut mir wohl, daß Sie so an mir hängen. Ich konnte die letzten Wochen nicht herkommen, ich war in Arnsberg.

LIESA glücklich. Ach ... aber nu sünd Sie wedder da.

KÖRTING. Ja, nun bin ich wieder da, und ich bin so froh, so unsagbar glücklich, Liesa. Denn, sehen Sie, förmlich über Nacht ist mir ein großes Glück geworden. Und da bin ich denn hergeeilt. Sie sollen die erste Menschenseele sein, die es von mir erfährt, denn ich weiß ja, wie sehr Sie sich freuen werden.

LIESA. Ach.

KÖRTING außer sich vor Freude. Liesa ... ich bin Pfarrer geworden! Ich habe eine Pfarre in Arnsberg bekommen!

LIESA betroffen. Pfarrer ... in Arnsberg ... Da gehn Sie nu fort, wohl?

KÖRTING. Ja, Liesa, ich bin gekommen, Abschied von euch allen zu nehmen.

LIESA. Für immer ...![687]

KÖRTING. Ja, das wird wohl für immer sein. Ich habe einen guten Eindruck auf die Leute gemacht. Das ganze Presbyterium ist auf meiner Seite.

LIESA steht vorn am Tische, stockend. Da ... da gratulier ich Ihnen herzlich.

KÖRTING. Ich danke Ihnen, Liesa. Umhergehend. Ach, es ist ja ein so schier unglaublicher Glückszufall für mich! Denken Sie, ich habe weder Vater noch Mutter gekannt, ich bin im Waisenhause aufgewachsen, ich habe hier manchmal kaum trocken Brot zu essen gehabt ... Und nun komme ich plötzlich, wie mit einem Ruck, nach oben! Ich komme mir förmlich wie ein ganz anderer vor; ich habe mein Selbstvertrauen wiedergewonnen, ich habe plötzlich solchen Mut, solche Tatkraft! ... Und alle sind jetzt so liebreich zu mir, der Superintendent, der Werksdirektor Klönne, sogar der Geheimrat Langenscheidt, den ich nicht einmal persönlich kenne, sie alle haben mich nach Arnsberg empfohlen ... Sie sind so still, Liesa. Ach so ... ich habe gehört ... Sich umschauend, dann leise. Sagen Sie, ist es denn wahr, mit Hannchen ...?


Liesa nickt traurig.


KÖRTING. Hm. Ich habe es kommen sehen. Ihre Schwester war immer ein so leichtsinniges Geschöpf, mit einem so geringen sittlichen Fundus ... Der arme Geheimrat Langenscheidt! Er soll ein so sittenstrenger Mann sein, und ihm muß nun diese Schande bereitet werden.

LIESA horcht auf, blickt ihn erstaunt an. Wie ...? Un dat seggen Sie ...?

KÖRTING. Je nun ... Sie verstehen doch, wie ich's meine, Liesa. Wenn Sie gerecht sein wollen, auch gegen Ihre Schwester ...

LIESA starrt mit großen Augen ins Leere; unsicher. Ich nehm Hannchen nicht in Schutz ... nee, nee, aber vor ein paar Wochen hätten Sie dat nich seggt.

KÖRTING. Aber Liesa ...[688]

LIESA. Nee, nee, dat hätten Sie nich seggt.

KÖRTING. Es sollte mir leid tun, wenn ich Sie gekränkt hätte.

LIESA. Och ... sie seggen's ja alle, un da muß et wohl so sein.

KÖRTING. Hm ... Wo ist denn Ihre Mutter?

LIESA. Sie is mit Trina fort.

KÖRTING. So. Dann richten Sie ihr von mir einen recht herzlichen Abschiedsgruß aus.

LIESA. Danke.

KÖRTING gibt ihr die Hand. Gott befohlen, Liesa.

LIESA unsicher. Adjüs.

KÖRTING. Ich hatte mir den Abschied von Ihnen doch ganz anders vorgestellt. Sie waren mir wirklich ans Herz gewachsen, und nun ...

LIESA. Ich kann dat noch gar nich fassen, dat Sie nu weggehn sollen.

KÖRTING. Nun, nun ...

LIESA. Ich hab Ihnen ja so veel zu danken.

KÖRTING. Ach.

LIESA. Jawoll, Herr Diakonus ... alles, wat ich bün, bün ich durch Sie.

KÖRTING. Lassen Sie das, Liesa. Schließlich war es doch nur meine Pflicht, mein bescheidenes Wissen andern mitzuteilen. Und dann ... es hat mir immer Freude gemacht, Sie so allmählich geistig wachsen zu sehen. Da haben Sie nichts zu danken.

LIESA. Un ich segg auch nich danke. Denn jetzt, wo Sie so plötzlich fortgehn, da is mir's bald, als wär's besser gewesen, Sie hätten mich dumm gelassen. Dann säß ich ruhig an Hannchens Arbeitsplatz un würd zufrieden sein, weil ich's nich besser wüßte ... Ach, ich werde sehr unglücklich sein, wenn Sie fort sünd.

KÖRTING. Nun, Sie müssen es eben überwinden, Liesa.

LIESA. Ach ... dat sünd so billige Redensarten.

KÖRTING. Liesa ...! Das hätten Sie nicht sagen sollen ... das nicht.[689]

LIESA abgewendet. Ach.

KÖRTING. Wissen Sie, Liesa ... Es ist vielleicht gut, daß wir auseinandergehen, für Sie und für mich.

LIESA. Wie?

KÖRTING. Sie sprachen vorhin von Dank. Jawohl, Sie schulden mir Dank, aber in anderer Weise, als Sie zu empfinden scheinen.

LIESA. Un för wat? ...

KÖRTING. Liesa, wenn es denn einmal gesagt werden muß ... Sie wissen nicht, was ich während der zwei Jahre, die ich in Ihrer Familie verkehrte, manchmal gelitten habe ... Sie haben mir blind vertraut, und ich glaube, ich habe Ihr Vertrauen nicht getäuscht. Nicht ein Wort habe ich mit Ihnen gesprochen, welches Dritte nicht hätten hören dürfen.


Liesa gleichgültige Bewegung.


KÖRTING. Oh, so sollten Sie nicht tun. Vielleicht ist mir das manchmal nicht so leicht geworden ... Sie sind schön, Liesa.

LIESA. Ach. Wendet sich ärgerlich um.

KÖRTING. Jawohl, Liesa. Und ein anderer, der gewissenlos genug ist, hätte vielleicht Ihr Vertrauen mißbraucht. Aber wenn mich die Versuchung packte, so flüchtete ich in meine Dachstube. Nächtelang habe ich im Gebet gerungen, bis ich den Sieg über mich selbst davongetragen hatte. Und wenn ich dann wieder vor Sie hintrat, haben Sie mir nicht angesehen, was ich gelitten hatte ... Und ich meine, dafür, Liesa, könnten Sie mir ein klein wenig dankbar sein.

LIESA ihm den Küchen zugekehrt, langsam. Dat dank ich Ihnen den Teufel!

KÖRTING fährt zurück. Was ...!

LIESA. Dat hab ich alles wohl gemerkt. So wat sieht eine Frau. Sich ihm zuwendend. Und wissen Sie denn, ob ich nicht oft auch so gelitten habe wie Sie? Hätten Sie[690] nur 'n Wort seggt, ich hätt mich Ihnen an den Hals geworfen!


Körting weicht vor ihr zurück.


LIESA. Und deshalb weiß ich nich, ob ich Ihnen danken muß.

KÖRTING. Das heißt ... ich sollte Sie in Schande und Unglück bringen?

LIESA. Schande ... Unglück ... Danach hätt ich nix frögt.

KÖRTING. Liesa! Jetzt sehe ich mit Schrecken, daß Sie nicht um ein Haar besser sind als Ihre Schwester Hannchen!

LIESA fährt auf. Ah!

KÖRTING. Zwei Jahre lang habe ich einen fast übermenschlichen Kampf gegen mich selbst gekämpft. Ich bin stolz gewesen auf meine Tapferkeit. Und nun sagen Sie mir ... Bittere Lache. Bis zu diesem Augenblick habe ich mit meiner Liebe zu Ihnen gerungen ...


Liesa Schrei.


KÖRTING. Ja, Liesa.

LIESA außer sich. Und ich liebe Sie auch, und wenn wir uns lieben ... Hier bün ich, hier ham Sie mich, machen Sie mit mir, wat Sie wollen!

KÖRTING. Liesa, schweigen Sie ...! Gott soll mich behüten ...!

LIESA. Warum?

KÖRTING. Es hieße zuvor das Glück zertreten, das Gott mir beschert hat.

LIESA starrt ihn an, setzt sich dann an den Tisch. Ich weiß nich ... ich würd alles för Sie hingeben, ins Wasser würd ich för Sie gehen. Sie aber reden immer nur von sich ... Herr Körting, wat Sie Ihre Tapferkeit nennen, ob dat nich am Ende bloß Feigheit is?

KÖRTING. Liesa! Ein Wort, ehe ich gehe. Kehren Sie um, Sie stehen dicht an dem Wege, den Ihre Schwester Hannchen gegangen ist.[691]

LIESA langsam und traurig. Wenn Sie nich ohne dat gingen, so würd ich nu wohl seggen, dat Sie gehen sollten.

KÖRTING. Es ist gut ... Leben Sie wohl. Er geht.


Liesa macht, nachdem er hinausgegangen, eine Bewegung, als wolle sie ihm nachstürzen; wirft dann, wild schluchzend, den Kopf auf den Tisch. Hierauf geht sie weinend und zitternd umher. Plötzlich stockt sie, trocknet ihre Tränen und macht eine energische Bewegung, als habe sie einen Entschluß gefaßt. Sie nimmt aus der Kommode ein Tuch, legt Wäsche und andere Gegenstände hinein und macht davon ein Bündel.


MUTTER LÜCKEL tritt unterdessen ein. Segg mol, Liesa. Der Diakonus ging zur Kolonie ruut. War der bei uns ... wohl?

LIESA. Ja, Mudder. Ich soll dir einen recht herzlichen Abschiedsgruß bestellen.

MUTTER LÜCKEL. Abschiedsgruß?

LIESA. Er geht weg, nach Arnsberg. Er is Pfarrer geworden.

MUTTER LÜCKEL. I nee, soll man's gläuven! Da hat er sien Glück macht ... wohl?

LIESA. Wohl möglich, Mudder.

MUTTER LÜCKEL. Un dat is ihm zu gönnen. Er war ein hübscher Mann, un so goot zu den arm Lüüt; weel zu goot, veel zu goot ... Wat kriegt 'r denn upp siene neue Stelle?

LIESA. Ach, dat weiß ich doch nich, Mudder.

MUTTER LÜCKEL. Nu, dat möcht man schon wissen. Denn sühst du, mir sünd doch goot bekannt mit ihm, un ... da könntst du ihm mal schrieven, am Ende schickt 'r uns 'ne Kleinigkeit.

LIESA. Mudder ...!

MUTTER LÜCKEL. Nu wat denn, hä? Arm Lüüt möten sehn, wo se 't Geld hernehmn. Willst du uns ernähren ... wohl? Also – Macht sich am Ofen zu schaffen. – 's is Zeit zum Essen ... Dat heißt: schad is 's doch, dat der Diakonus fort is. Er war so goot zu den arm Lüüt.[692]

DER ALTE SCHNIERMANN tritt ein. Hähähä ... Mutter Lückel! Nu denkt Üch mal, Mutter Lückel, ich hab's dem Kobanski seggt ... dat mit Trina, wißt Ihr.

MUTTER LÜCKEL. Nu, un wat seggt 'r?

DER ALTE SCHNIERMANN unter fortwährenden Heiterkeitsausbrücken. Hähä ... wie ich ihm den Gruß bestell ... hähä ... da springt 'r upp, nimmt siene Mütze un schreit: »Da muß ich gleich mal nach Dortmund un an ihre Düre pochen!« Mutter Lückel und Schniermann schallendes Gelächter. Sie sind hitzig, die Polen, sie fackeln nich lange. Hähähä!

MUTTER LÜCKEL ernst. Et is man bloß, dat sie einen Ernährer kriegt. Sie kann den Jan nich vergessen.

DER ALTE SCHNIERMANN. Je ja. Die Doten stehn nich wedder upp.


Es beginnt zu dämmern, und im Hintergründe, hinter den schwarzen Gebäuden des Werkes, steigt langsam der Widerschein der roten Feuersglut herauf. – Liesa hat ein Kopftuch umgebunden, ihr Bündel in der Hand, tritt sie vor.


MUTTER LÜCKEL. Wat is denn dat, Liesa? Wat soll dat bedeuten?

LIESA. Ich will fortgehn, Mudding.

MUTTER LÜCKEL. Fortgehn? Ei, un wohin?

LIESA. Dat weiß ich selver noch nich, Mudder. Aber ich geh fort von euch, un ich komm nie wedder.

MUTTER LÜCKEL fassungslos. Wat ...? Du willst dien aal Mudder verlassen, wo sie ihre Kinners so nötig bräukt?

LIESA. Kann ich dir wat nutzen, Mudding? Dat Werk gevvt mir kein Arbeit mehr, un hat nich der Werksdirektor seggt: wer nich bei uns arbeit', darf nich bei uns wohnen?

MUTTER LÜCKEL. Je ja, aber ... sühst du, ich wollte ihn recht gebeten ham ...

LIESA. Tu's nich, Mudder. Wat nützen dir die paar Groschens, die ich dir verdienen kann.[693]

MUTTER LÜCKEL unschlüssig. Ja, da hast du wohl recht ... Aber dat du so upp einmal von uns fortlaufen willst ...

LIESA. Dat will ich dir wohl seggen. Sühst du, Mudder, ich hab vorhin mit dem Diakonus gesprochen ...

MUTTER LÜCKEL. Mit dem Diakonus ...!

LIESA. Frög nich, Mudder. Wat ich mit Körting gesprochen hab, dat wird nie ein Mensch von mir erfahren. Aber ... Mudder, et hat sich alles in mir zerrissen ...! Un, sühst du, wenn ich hierblieve, dann geh ich da dran kaputt. Un drum will ich fort, vielleicht in die großen Städte am Rhein, dat ich et da vergesse.

MUTTER LÜCKEL. Dadrum gehst du fort. Plötzlich angstvoll. Hör, Liesa, du sollst bei diener Mudder blieven.

LIESA. Nee, Mudder, ich bliev nich. Denn nu kann ich's dir ja seggen: du büst dienen Kinners all Dag eine schlechte Mudder gewesen.

MUTTER LÜCKEL mit hervor stürzenden Tränen. Liesa, dat seggst du zu dien aal Mudder, die graue Haare hat vor Sorgen um üch, die sich gebückt un gebeugt hat, för üch!

LIESA. Ja, dat segg ich, Mudder. Du hast dich zu veel gebückt un gebeugt. Vor ihnen allen hast du dich gebückt un gebeugt, und darum sünd diene Kinners ins Unglück gekommen.

MUTTER LÜCKEL. Wat. Da bün ich schuld, dat du fortmußt ... wohl? Da bün ich schuld, dat Pittjuppche ein Krüppel worden is und dat Hannchen in die Schande kommt ... wohl? ... Nu hör bloß, Vadder Sniermann, dat seggt ein Kind zu siener Mudder!


Der alte Schniermann hat sich, sehr ernst geworden, hingesetzt, zuckt die Achseln.


MUTTER LÜCKEL. Ja, wenn dat richtig is, wat soll ich da dun. Hält schluchzend die Schürze vors Gesicht.

LIESA. Hör mal, Mudding. Morgen bringen sie dir Hannchen her, dien armes Kind. Un da mußt du mir eins versprechen. Wenn Hannchen kommt, dann nimm keinen[694] Knüppel, dann schlag sie nich, Mudder. Dann schließ die Türe zu, setz dich mit dienern Kind in einen Winkel un weine mit ihm, Mudding ... Un nu will ich gehn un zusehn, ob ich draußen in der Welt nix finde – Arme ausgebreitet. – wo ich mich dran klammern kann ... Adjüs, Mudding. Küßt sie. Adjüs, Vadder Sniermann. Sie geht.

MUTTER LÜCKEL UND DER ALTE SCHNIERMANN. Adjüs, Liesa ... Adjüs.


Der alte Schniermann steht unter der Türe und schaut Liesa nach. Mutter Lückel steht eine Weile allein; dann holt sie vom Brett eine Bibel, staubt sie ab, setzt sich an den Tisch und schlägt sie auf.


DER ALTE SCHNIERMANN. Sie ist fort, Mudder ... fort aus der Kolonie. Un wie ging sie ruut! Groß un aufrecht, un ohne sich umzuschaun! ... Ja, wat habt Ihr denn da för 'n Booch? Dat ... dat is ja die Bibel. Er setzt sich scheu an den Ofen und faltet andächtig die Hände auf den Knien.

MUTTER LÜCKEL liest mit gefalteten Händen, langsam und feierlich. »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. – Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich auf rechter Straße. – Und ob ich schon wand're im finstern Tal, so furcht ich kein Unglück. – Denn du bist bei mir ...«


Der Widerschein des Feuers vom Werke flammt grell auf und taucht die Stube in rote Glut.


Quelle:
Naturalismus_– Dramen. Lyrik. Prosa. Band 2: 1892–1899, Berlin und Weimar 1970, S. 672-695.
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