Zweite Szene

[89] Vorige. Anna.


ANNA kommt. Was wollt ihr? Was ruft ihr mich? Was schreit ihr hinein in mein neues Leben? Ich war auf dem Meer, ich habe die Sterne gesehen. Das Licht sprudelte über mich. Um mich war Licht. So streck ich meine beiden Arme hoch im Licht. So umarme ich euch, meine Lieben, im Licht. Ihr seid die vollen milden Strahlen, und ich bin in den Strahlen. Wir haben die Finsternis zerrissen. Wir haben die Schatten zerschlagen.

NAUKE. Zerschlagene Köpfe hatten sie freilich, die Schatten. Wir haben sie unten ins Zwischendeck gesperrt. Ob's da wohl noch finstrer ist als sonst? Und die Ladung, die wir ihnen abgenommen haben – alles Schattenware. Und der Wein, das Bier, der Rum und der Proviant, den wir von ihnen herübergeschafft haben – alles Finsternis. – Eßt, eßt, Jungens: Nieder mit der Finsternis!

ANNA. Nieder mit der Finsternis! Wir sind vom Licht. Ich bin nur noch Licht. Du bist Licht. Ich dreh mich und schau dich: du bist Licht. Ich spring unter euch, wir sind eine große, breite, quellende Strahlenflamme.

ERSTER GEFANGENER. Flamme, Flamme! Die Flamme über die Länder! Feuersbrünste an die Bankhäuser, Feuer an die Papiere, die Scheine; der Zins der ganzen Welt ist Asche!

ZWEITER GEFANGENER. Ein Schutthaufen, klirrende Kehrichtreste das Geld! Die Menschen geben sich die Hände. Ich hab's gewußt. Die Welt wird unschuldig.

OFFIZIER. Unschuldig, unschuldig! Kann man Unschuldige töten! Ich knie vor euch nieder, ich umfasse euere Füße. Ich bin frei geworden. Weib, hier halte ich mit beiden Händen deine Füße, dein erschossenes Kind lebt in mir! Und ich lebe in deinem Strahlenbett, dein Gesicht ist der Lichtbrunnen, deine Arme sind die zuckenden Lichtflüsse, umstrahle mich mit deinen Lichthaaren! Ich bin die Schuld. Ich komme aus dem Kasernendunkel. Ich bin Mörder, ich habe gemordet, ich müßte sterben: nun lebe ich neu im Lichtbrand. Ich knie vor dir auf der Erde, ich schlage vor dir auf die Planken nieder, wehrlos, du[89] weißt alles von mir. Leuchte zu mir, ich lebe neu für die Freiheit.

ANNA. Freiheit! Wie diese Wirbel im Kreis aus mir hoch strömen! Oh, daß ich noch hier auf meinen Füßen stehe! Merkt ihr nicht, rasend aus mir, rundherum um die Welt die mächtigen Drehungen toben, die drohenden blitzenden Kreise. Was steht ihr da? Ihr ruft mich. Merkt ihr nicht, wie der Raum brausend hinter uns rauscht? Wo seid ihr? Warum bin ich allein? Warum fliegt ihr nicht mit mir? Habt ihr schon vergessen, wie wir auf die fremden Schiffe stürzten, wie wir die zitternden Schiffsknechte knebelten – und wie wenige waren wir: Nur weil wir Freie sind! – Warum schlaft ihr? Warum wache allein ich? Auf! Herauf zu uns! Löst euere Glieder! Vergeßt eure dunkle Nacht von Gestern!


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 89-90.
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