Erste Szene

[106] Drei Revolutionärinnen der Stadt.


ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Die letzte Schüssel Milch für alle. Was soll ich mit meinen Kranken machen?

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Wir selbst haben es noch gut. Aber meine Arbeiter in den Fabriken?

DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Ich bin schon ganz schwach. Und dabei die Männer immer wieder vertrösten, solang die Brotverteilung stockt!

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Man kann keinem Menschen mehr ruhig, ins Gesicht schauen, so kriecht diese Seuchenluft um einen. Die Männer fallen an den Barrikaden mit den Waffen in der Hand um vor Hunger oder weil die Pest auf ihnen sitzt.

DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Kein Mensch hat mehr zu essen, wenn wir nicht sorgen! Wie lange können wir uns noch halten? Was sollen wir denn machen?

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Wir müssen den Weg aus der Stadt finden. Sie verlieren sonst alles Vertrauen, das sie zu uns haben.

DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Wenn wir zu den Bürgerlichen hinüberkämen und mit denen verhandelten.

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Wie sollen wir hinüberkommen? Ein Schritt über diese Barrikademauern und durch die Gräben, und wir sind erschossen wie unsere Männer!

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Ich kann diesen Hunden kein gutes Gesicht machen, selbst wenn sie den Angriff gegen die Stadt ließen. Achtzigtausend Menschen haben sie uns aus dem Land geschleppt, achtzigtausend als Sklaven in die Bergwerke gesteckt, in ihren Kloaken ersticken lassen, geschlagen, gefoltert, zu Tode getreten, als Sklaven! Was,[106] dazu haben die Unsrigen sich das Blut in den Adern verdorren lassen, vor Arbeit und Hunger und Müdigkeit und Krankheit, daß wir nun mit den Bürgern verhandeln!? Alles soll für nichts gewesen sein?

DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Aber es geht nicht weiter! Was soll man machen? Die Unsrigen halten es nicht länger aus. Und heut war ein Tag, das war noch nie. So eine Schwäche kam plötzlich über alle. Eine sinnlose Hoffnung wie bei Sterbenden!

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Zum erstenmal hörte ich heut Gerüchte in der Stadt – als wenn sich etwas Großes geändert hätte in diesem Elend!

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Ich auch!

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Als ob ein Flieger aus der Luft hunderttausend Proklamationen abgeworfen hätte, die jedem das Glück versprachen.

DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Das ist viel unheimlicher als Fliegerzettel. Morgen sind sie alle aus Enttäuschung auf Gnade und Ungnade ausgeliefert!

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Ausgeliefert, heißt »auf Ungnade«.

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Es sollen Menschen in der Stadt sein, die keiner noch gesehen hat, sie gehen herum und muntern die Schwachen auf. Aber wer kann das glauben? Fiebergerüchte. Wie sollen die hereingekommen sein?

DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Hinauskommen! Wie kommen wir hinaus? Kämen wir nur einen Fußbreit hinaus, so wär schon Hoffnung!

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Hinauskommen – unmöglich. Wir sind hier gefangen.

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Gefangen!

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Das erleben wir nicht mehr: die Freiheit.

ZWEITE UND DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Die Freiheit!

DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Die Freiheit sag ich? Wie kommt das nur aus meinem Mund! Blumen wieder zu sehen? Der Himmel über mir, Luft um mich? Mein Kleid über eine Wiese wehen?

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Wie sind aber die Bürger aus diesem Schloß entkommen? Die Unsrigen haben niemand gefangen, nur die paar Diener, die als Wachen an den Toren standen![107]

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Die Bürger sind entkommen, und am ersten Tag, als der Aufstand losbrach.

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Dann müssen Ausgänge aus der Stadt heraus dasein!

DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Ich bin ganz schwach. Wir müssen suchen!

ERSTE UND ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Suchen! Hinunter in die Gewölbe!

DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Hinunter. – Hast du Mut?

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Jetzt fragt keine nach Mut. Hat auch keine von uns gefragt, als der Aufstand begann. Es ist das Letzte!

ZWEITE UND DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Hinunter!


Die drei Frauen sind im Begriff, in die Versenkung hinabzusteigen.


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 106-108.
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