Zwölfte Szene

[126] Die Frau.


DIE FRAU allein. Mißtrauen. – Hunger. – Die Luft um mich braust von Menschen, umkrampft halten sie sich keuchend ineinandergebissen im Kampf. Eine Höhle von Brausen ist um mich. Schwarzer Wind von Nachtstimmen. – Lärm, Schreie. Wie heraus? Zu den andern? – Hört ihr mich? Kann ich euch ein Wort von mir hinüber durch die Mauern werfen? Kann ich mich tausendfach durch den Sturm zu euch hinwehen? – Ah – hier ist eine Zunge, die für euch redet! Sie hebt eines der Flugblätter, das Nauke zur Erde fallen ließ, auf. Papier, Gedrucktes.

Ein Aufruf – ah, und das hilft? Hilft das? Wissen sie darnach, wohin sie gehen? Liest. »Volk! Die Stunde deines Glückes ist da! Nimm dir deine Rechte. Nimm dir selbst die Freiheit, deren du dich würdig fühlst.« Unterbricht sich im Lesen. In diesen Buchstaben, das Schwarze zwischen dem Weißen, reckt sich dunkles Grinsen. – Betrug! – Da müßte stehen: »Mensch!« »Mensch« – dann hätte es mich gestoßen, dann würde ich es glauben! »Mensch, nimm dir selbst die Freiheit.« Ich seh es, was da steht – Betrug! Liest. « ... deinen Gegnern die Hand reichen ... sie sind nicht deine Gegner ... Arbeit aufnehmen ... Heute abend große Verteilung von Lebensmitteln ... Zeichen der Versöhnung ... der Kampf ist beendet ...« Sie knüllt den Zettel zusammen. Betrug! Und ich bin inmitten, während hunderttausend Hände diese Blätter ergreifen. Diese Worte stürzen in[126] müde, widerstandslose Augen, Männer sprechen sie zu Frauen, Frauen schreien sie als Hoffnung weiter! Oh, nur helfen, helfen, daß ein Wille mit Händen und brennenden Flammen über dieses Papier hinsaust und die Lüge herausätzt, eh sie die Adern der Menschen frißt! Mensch! Mensch, nimm dir selbst die Freiheit!

Mensch, du bist im Dunkel. Die Finsternis ist deine Wohnung: Du öffnest den Mund heraus aus deiner schwarzen Höhle, um nur zu fressen, und du schluckst einen Tropfen Licht ein. Du ergießt dein Geschlecht in der bittersten Nacht, und ein Flammenlicht streicht an dir vorbei! Mensch, dein Geist fliegt im Licht! Ich rufe deinen Geist! Mensch, ich rufe deine Liebe! Mensch, fahr aus dir auf! Höre mich, Arbeiter! Du schlingst täglich, du weißlich zitternder Wurzelbaum, deine Arme um die Maschine; Arbeiter, Geist in dir, du bist Mensch! Du preßt dich täglich, wie ein kranker Zweig, über den Tisch und rechnest; Mensch, laß deine Bücher vor dir versinken! Du stehst täglich an einem Pult und redest zu den Armen, Mensch, hauche dein Licht in das Wort für die Brüder. Männer, Frauen, Arbeiter, Verfolgte, Getriebene, ihr im Dunkel, in den Fabriken, in den Stuben, am Hunger, kaum daß ihr euch besinnt, herauf aus dem Dunkel. Ich rufe zu euch. Fliegt durch das Licht. Ihr seid das Licht. Herauf gegen das Dunkel. Brüder, Schwestern! Empörung gegen das Dunkel! Empörung! Freiheit! Menschen! Freiheit! Sie stürzt nieder.


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 126-127.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gewaltlosen
Die Gewaltlosen; Drama in Vier Akten
Die Gewaltlosen: Drama in vier Akten