Siebente Szene

[119] Der Gouverneur und der Mann treten in Eile auf.


DER MANN. Hier gingen sie. Es ist kein Zweifel.

DER GOUVERNEUR. Du bist sicher, daß es Nauke war?

DER MANN. Mit einem Feinde!

DER GOUVERNEUR. Was ist das?

DER MANN. Verrat! Die Stadt ist verraten!

DER GOUVERNEUR. Verraten?

DER MANN. Verraten. Mehr noch, es ist nicht zu fassen: Von einem der Unsrigen. Wir sind verraten!

DER GOUVERNEUR. Schlimmer! Wir sind auch die Verräter!

DER MANN. Unmöglichkeit! Zusammensturz! Raserei! Woher kommen wir? Welches Recht haben wir, zu leben? Wenn das möglich war, hat alles keinen Sinn mehr! Wenn das möglich war, hat nichts je Sinn gehabt. Dann sind wir Betrüger, Betrüger!

DER GOUVERNEUR. Du weißt, daß es Sinn hat, du weißt welchen Sinn. Aber vielleicht waren wir lässig, vielleicht hochmütig, Verrat ist Mißverständnis. Daß Mißverständnis möglich war? – Vielleicht hatten wir zu wenig Liebe? – Immer wenn die Stunde groß wird, kommt Verrat. Gerade den Verrat muß man überwinden.

DER MANN. Wie?

DER GOUVERNEUR. Ihn unwichtig machen. Verrat kann nur gegen die Person gehen. Aber verrate du das Volk? Unmöglich. Wir müssen den Verrat aus der Welt schaffen.

DER MANN. Aber er ist geschehen.

DER GOUVERNEUR. Wir laufen ihm entgegen, wir kommen ihm zuvor, wir überbieten ihn. Wir stellen uns ihm.[119]

DER MANN. Verhandeln mit den Feinden, den Bürgern, den Generälen?

DER GOUVERNEUR. Nein, nicht verhandeln. Wir geben uns dem Feind. Er fordert – wir geben alles. Er fordert Waffen, wir legen sie hin. Er will Geld, wir geben ihm, was da ist, er will Speise, wir geben ihm die unsere. Er will unser Leben, wir zeigen ihm, daß wir es opfern. Er kann nichts mehr fordern. Er ist allein, und ihm bleibt nur noch zu verlangen, daß er werde wie wir selbst. –

DER MANN. Und das Volk?

DER GOUVERNEUR. Wir geben zurück, was wir vom Volk empfingen. Wir bringen ihm Brüder, aber solange die Brüder noch Feinde sind, werfen wir uns vor sie, und wir opfern ihnen unser Schicksal! – Zu den Feinden! – Ich kreuze ihren Angriff. Ich laufe durch die Stadt, und wo ich nur einen Windstoß von bürgerlicher Luft wittre, da tret ich hin als ein Mensch, der die Ehre der Vergangenheit nicht mehr hat. – Ich gehe zu den Feinden, den Gang der Selbstvernichtung.


Gouverneur ab.


DER MANN. Du gehst den Gang der Liebe. Ich gehe zum Volk, den Gang der Zerstörung.


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 119-120.
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