Neunte Szene

[123] Vorige. Das Volk draußen. Später die Frau. Zwei Gruppen des Volkes. Der Greis. Der Bucklige. Der Krüppel. Ein Junge.


DAS VOLK draußen. Hunger!


Die Frau bricht herein, hinter ihr und um sie ein Knäuel von Volk. Im Volk: Junge Burschen, Greise, Männer, der Bucklige, der Krüppel und die beiden alten Gefangenen.


DIE FRAU. Verloren! Verloren, wenn wir nicht retten! Die Führer sind weich, verhandeln. Die Bürger sind in der Stadt: in allen Ecken stecken sie mit den Führern. Das Volk wird verraten, wie man eine Nuß vom Baum schüttelt.

STIMMEN AUS DER EINEN GRUPPE DES VOLKES. Hierher. Ihr nach!

STIMMEN AUS DER ANDERN GRUPPE DES VOLKES. Warum ihr nach? Wir kennen sie nicht!

STIMMEN AUS DER ERSTEN GRUPPE. Eine Frau! Die weiß immer, wo es Essen gibt!

STIMMEN AUS DER ANDERN GRUPPE. Ihr seid Opfer bei jedem Verrat![123]

STIMMEN AUS DER ERSTEN GRUPPE. Ihr seid Opfer bei jeder Lüge!

DER MANN. Lüge und Verrat! Ihr seid mittendrin!

EIN GREIS AUS DEM VOLK. Was können sie uns antun? Wir haben nichts zu geben.

EIN JUNGE AUS DEM VOLK. Wir können's nur besser haben.

DER KRÜPPEL. Lüge – war das erste freundliche Wort, das haben wir noch nie gehört.

DER BUCKLIGE. Nie gehört? Wir haben nichts anderes gehört. So haben sie uns immer gefangen!

DER JUNGE. Es ist gleich. Wir haben nichts zu verlieren!

DER GREIS. Nichts zu verlieren! Du Nachschwätzer! Du Lügner! Alles, alles: Das Leben! Das Leben! Das Leben! – Könnte man sich endlich doch ausruhen!

DER MANN. Ausruhen! Ihr sollt ausruhen! Die Hände sinken lassen, sie beschauen. Nicht in gespanntem Zittern warten auf den nächsten Pfiff zur Arbeit.

DER GREIS. Und leben?

DER MANN. Dann gerade werdet ihr leben. Aber so leben die Feinde von euch!

DER BUCKLIGE zu Mann, Klotz, Frau. Was tretet ihr uns entgegen? Was wollt ihr von uns?

DAS GANZE VOLK. Was wollt ihr von uns?

DIE FRAU. Ah! Mißtrauen!

DER MANN, KLOTZ. Mißtrauen!

ERSTER GEFANGENER. Halt, es sind Kameraden! Ich bürge für sie. Ihr kennt mich. Meine Jahre sind im Gefängnis geblieben, für euch. Ihr wißt es.

DER BUCKLIGE. Vergangenheit. Das gilt nicht mehr. Wir haben nichts von euren Gefängnissen.

DER KRÜPPEL. Ihr seid selbst Bürger! Ihr seid so fern von uns wie die andern: ihr seid gerad so glatt und lau wie sie!

KLOTZ. Lau? Wer ist lau? Du, Volk, bist weich, und sie machen mit dir in ihren Händen, was sie mögen!

DAS VOLK. Wir wollen Leben! Leben![124]


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 123-125.
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