Ludwig Rubiner

Aufruf an Literaten

Ich bitte Sie, meine Kameraden, meine Blutsbrüder, meine Gegner, meine Feinde: Seien Sie nur dieses Mal nicht vornehm! Halten Sie hier mit uns zusammen, Mann, der nur Gedichte macht, berühmter Romanschriftsteller, Kriminalreporter auf Zeilenhonorar; alle, denen Tinte und Feder einmal das Ehrgefühl gestärkt haben. Nicht weil Sie schreiben und weil es einen Schreibenden betrifft. Sondern weil Sie schreiben können, öffentlich sich äußern ... Und wer soll zu der Öffentlichkeit sprechen, wenn nicht Sie?

Schreiben Sie nicht gewählt oder schön, überlegen Sie nicht lange. Seien Sie nicht feige, man könne Ihre Worte in fünfzig Jahren altmodisch finden oder unkonzentriert. Haben Sie keine Angst, irgendein Satirenmann könne eine Ungeschicklichkeit, die Ihnen hier entwischt, notieren! Schreiben Sie; wozu sind Sie denn da! Pathetisch, rhetorisch, mit Lärm, ganz gegen Ihre Gewohnheit; auch wenn Sie sonst den vornehm Zurückgezogenen markieren. Machen Sie diese Sache öffentlich, benutzen Sie alle Mittel, die Ihnen einfallen, von den direkten bis zu den schmierigsten! Laufen Sie auf die Zeitungen; lassen Sie sich nicht durch die weltmännische Ablehnung des Redakteurs verblüffen: der Mann tut nur so; in Wahrheit hat er Angst! Laufen Sie zu den Verlegern. Alarmieren Sie die Zeitschriften, auch solche, die erst in fünf Monaten erscheinen. Teilen Sie Faustschläge aus; lassen Sie sich auslachen: es sei ja nicht so wichtig – – oder es sei ja ein privater Fall – – oder so etwas kommt ja alle Tage vor. Und dann spucken Sie dem zweideutigen Kerl, der das sagt, ins Gesicht! Machen Sie sich jede Gelegenheit zum Schreiben. Schreiben Sie. Schreiben Sie. Denn Sie können ja nichts anderes. Tun Sie, was Sie können;schnell! Regen Sie endlich die Menschen auf. Gebrauchen Sie ganz gemeine, ordinäre Ausdrücke, damit Sie einen Prozeß bekommen – und dann sagen Sie: ich habe wirklich mit Absicht diese Worte gesetzt, damit ich[265] einen Prozeß bekomme und die Sache noch öffentlicher mache.

Helfen Sie, daß alle Menschen unter uns ein Zittern ankommt, eine Sorge, ein Frost – – daß die galleartige Idee sie ekeln macht: eines Tages können zwei Kerle, die noch nach dem Verkehr mit Polizeihunden riechen – können zwei Kerle mit Revolvern in den Taschen sich in ein Zimmer schleichen. Und die Tür zumachen. Ihren Freund nicht mehr herauslassen. Niemandem zu ihm Eintritt geben. Drin der Mensch wehrt sich gegen den Griff und den Stoß dieser klobigen, auf Verbrecher eingelernten Fäuste. Und kein Unbeteiligter sieht zu! Ihr Freund wird einen Tag lang von zwei Militäranwärtern eingesperrt, in seinem eigenen Zimmer. Dann transportiert. Transportiert! Gefangenentransport (kein russischer Katorga-Sträfling!) durch Deutschland, wo man deutsch spricht, in einem Viehwagen. Festgehalten, »bewacht« von frechen Militäranwärtermuskeln. Ihr Freund? Ja? Nein Sie, Sie selbst! Ihnen geschieht das. Sie sind nur so teilnahmslos, weil Sie glauben, das könne nicht Ihnen widerfahren! Jeden Tag, jeden Tag!

Sie arbeiten eine Idee aus, eine kleine Idee, vielleicht eine, die Ihnen ganz alltäglich vorkommt. Sie arbeiten daran, längere Zeit; an jeder Idee arbeitet man längere Zeit. Sie äußern sich, ohne es zu wollen oder mit Wissen. Nicht wahr, Sie werden sofort mißverstanden! Und dabei sind Sie nicht eine Spur von Märtyrer. Sie sind so kühl wie noch nie – aber was? Man hält Sie für äußerst reizbar. Ist das nicht so? Nun, denken Sie den Fall, Sie seien wirklich reizbar, empfindlich, beunruhigt durch Ablenkungen? Ihre Umgebung hält Sie – und Sie sind wahrhaftig kein Märtyrer – für verrückt. Und Ihre Umgebung ist guten Willens.

Aber: Wenn Ihre Umgebung bösen Willens ist? Wenn Ihre Idee ungewöhnlich ist, mißverständlich? Wenn Ihre Umgebung bösen Willens ist?

Männer mit Fäusten, die Macht über Sie haben, »transportieren« Sie im Viehwagen durch Deutschland; reizen Sie, mißachten Sie körperlich, behandeln Sie als Kranken. Als gefährlichen Kranken. Denn Sie kommen ins Irrenhaus.

Irrenhaus klingt wie ein alter, schlechter Melodrameneffekt. Aber Irrenhaus, das gibt's! Das gibt's für Sie! Wirklich[266] noch. Es ist kein aufpolierter Strindberg. In dieses Irrenhaus werden Sie geschoben, nach München, Berlin, Prag, Graz, Wien, Freiburg oder Zürich. Das geht mit größter Leichtigkeit, Ihre Verwandten brauchten es nur zu beantragen. Sie haben vielleicht nicht verschwiegen, daß Sie Ihre Verwandten für Trottel halten, oder Sie sind ganz einfach Neurasthetiker – es gibt wohl wenig unter uns? –, haben Ihren Verwandten gedroht; oder – Ihre Verwandten sind durch Ihre juristische, materielle,. kapitalsteilhaftige oder auch nur öffentliche Existenz geärgert. Man schiebt Sie durch Deutschland ins Irrenhaus.

Machen Sie doch endlich Lärm, seien Sie beunruhigt, beunruhigen Sie die andern. Es handelt sich um Sie, um Sie, um Sie!

Der deutsche Schriftsteller hat einen fürchterlichen Ekel vor sich selbst, er ist gewohnt, sich zu verachten und seine Kameraden zu verachten; er nimmt jeden lumpigen Ingenieur, Kaufmann, Bankmenschen, Maler, Musiker, Soldaten ernster als sich; er hält sie im Gegensatz zu sich für »Lebensmenschen«, nur weil sie seine alten, abgelegten Ideen nachsprechen. (Und in Frankreich kenne ich einen Dichter, der wirklich gestohlen hat und der freigegeben werden mußte, weil alle Menschen, die in französischer Sprache die Feder führen, für ihn eintraten!)

Ich weiß, ich weiß: Wäre hier ein Dichter, ein Romanschriftsteller, ein Zeitungsmann niedergeknüttelt worden, Sie, meine Freunde, Dichter, Romanschriftsteller, Zeitungsmenschen, würden sich sehr verlegen zurückziehen. Er gehört ja bloß zu uns!

Darum, nur um Sie zu überreden, unterschob ich, der Fall könne jeden Tag Ihnen selbst widerfahren.

Aber es ist ja gar nicht nötig, Sie zu überreden. Otto Gross, der in seiner Wohnung gejagt, verschlossen, gefangen wurde, den man soeben zuchthäuslerisch durch Deutschland ins – – – Österreichische (österreichische – – –) Irrenhaus transportiert hat, Dr. Otto Gross ist kein Schriftsteller. Der Mann ist nur ein Gelehrter. Sie brauchen sich also nicht zu genieren. Sie dürfen nunmehr nicht schweigen. Sie haben sich um die Angelegenheit zu kümmern!

Dieses infernalische, widerliche Molluskenschicksal, vor dem wir alle zittern müssen – und jeder Vernünftige hat vor[267] dem Irrenhaus eine maßlose Angst –, konnte in Deutschland einen bedeutenden Gelehrten treffen!


Ich habe das Recht, von der Bedeutung und dem Wert des Dr. Otto Gross zu sprechen, denn ich war sein Gegner. Gross ist Psychoanalytiker; es ist eine Kleinigkeit für Dumme oder Böswillige, rein formalhaft Ergebnisse der psychoanalytischen Forschung so zu drehen, daß sie (gewöhnlich dienen sie nur zu Herrenwitzen) in die Gesetzesgegend der »Anreizung zu strafbaren Handlungen« zu gelangen scheinen. Aber das kann man mit jeder Disziplin der Forschung: Als Lionardo da Vinci den Taucheranzug erfunden hatte, sprachen Zeitgenossen die Besorgnis aus, so ein Taucher könne unter Wasser heimlich Schiffe anbohren und Menschen ermorden. Die russischen Bauern glauben noch heute, die Cholera komme von den Ärzten. Man kann jedes Fachwissen als »gefährlich« erscheinen lassen. Aber, welche teuflische Falle, wenn der Psychoanalytiker am Ende noch ein stark nervöser Mensch ist? Und man hat mir das von Gross bestätigt. Was für eine Kleinigkeit, mit ein bißchen Borniertheit und Übelwollen den Menschen schnell als »gefährlichen Geisteskranken« zu maskieren!

Ich, sein wahrer Gegner, weiß nicht, was für Gegner Gross im Privatleben gehabt hat; ob Frauengeschichten, Klatschsachen oder verletzte Eitelkeit dahinterstecken.

Wenn Ihre Idee ungewöhnlich und mißverständlich ist; und Ihre Umgebung bösen Willens?

Man teilt mir mit, die Veranlassung zur Verhaftung von Gross habe sein Vater gegeben, der Strafrechtspsychologe Prof. Hans Gross. Ich kann nicht wissen, ob das wirklich wahr ist. Aber angenommen, es sei wahr, so beweist dies ...

So beweist dies nur, daß Behörden, die bei den offiziellen Diners ihre Hochschullehrer unter den schäbigsten Leutnant placieren, der je Rekruten beschimpft hat – daß diese Behörden jedem Wink derselben Hochschullehrer folgen, wenn es gilt: Verhaften, Mißhandeln, Abschieben, Internieren.

Seien Sie, deutsche Schriftsteller, seien Sie laut, tappsig, klobig, lärmend. Seien Sie populär. Nur keine Angst. Seien Sie populär bis zum Speien.[268]

Ein Hochschullehrer, Dozent der Kriminalpsychologie, der seinen Sohn, einen Gelehrten, ins Irrenhaus sperren läßt? Gibt es das? – Aber wenn es das gibt – was hindert, anzunehmen, daß Vater Prof. Hans Gross dumm, mißverständig, bösartig ist? Was hindert, anzunehmen, daß Vater Gross voller Milde, voller Verständnis, voller Liebe ist;daß er in tiefer herzlicher Zärtlichkeit meint: nur eine kleine Fahrt in ein nettes Sanatorium. Aber, wenn es klug, gerührt, innig gedacht ist, dann ist es doch dumm, mißverständig, bösartig gehandelt!

Dr. Otto Gross und ich sind Gegner. Wir haben uns hier, in der »Aktion«, bekämpft, und nicht um Mißverständnisse oder Wortdeutungen oder bürgerliche Gemeinheiten; auch nicht der polemischen Übung wegen. Wir haben uns um die ersten und schrecklichsten Dinge bekämpft, die ein menschliches Gehirn er regen können. Wir haben uns beide mit den härtesten, den feinsten und den häßlichsten Mitteln, die durch Leidenschaft und Glauben verletzend und boshaft werden, angegriffen. Jeder von uns beiden hat als selbstverständlich dem andern von vornherein die ganze Existenzberechtigung bestritten. Gross und ich sind in allen Angelegenheiten des Geistes – und das sind unsere Leidenschaften – Gegner: jeder wünscht innerhalb des Kampfes sehnlichst, der andere möge nie auf dieser Erde gewesen sein.

O wäre ich imstande, volkstümliche Lokalanzeiger-Artikel über Gross abzufassen!

Ich hatte es zu tun mit dem Typus meiner Gegner, einem Gelehrten im Maximum der heutigen wissenschaftlichen Intelligenz; hinter dem Gegner stand als Privatmensch Psychoanalytiker Dr. Otto Gross. Ich hatte zu schaffen mit dem Dr. Gross als Kopf. Mit dem ins Irrenhaus Transportierten als Kopf! Und gerade mit ihm, mit Gross, mußte ich streiten (ich, ich: es handelt sich nicht um »mich«, aber ich bin nun einmal dabei beteiligt), weil er überall, wo ich angriff, in seinem System bedeutend war!

Ein Irrenhäusler?

Spricht man denn solche Worte von seinem Gegner, wenn man ihn nicht schätzengelernt hat![269]

Dieser wertvolle Mensch wird behandelt wie der ausgerückte Tiger in der Kinematographenjagd. Ein bekannter Gelehrter. Nicht mehr jung. Ein Denkender.

Und Sie fühlen sich noch sicher? Sie zittern nicht für Ihre nächsten Freunde? Sie schreien nicht laut. Sie schäumen nicht? Verachten Sie doch jede Stunde Ihres Lebens bis zum Dezember 1913, in der Sie nicht von den hundert Wiederholungen wußten, die dieser tierisch fürchterliche Fall täglich im Umkreis Ihres Lebens hat. Denken Sie, welches Glück, daß Otto Gross ein Auffälliger ist; so hören Sie und viele andere schnell von seinem Schicksal. Sie können es ändern. Sie brauchen sich nur zu regen.

Aber von wieviel gleichen Vorgängen erfahren Sie nichts, denn da handelt sich's um unscheinbare Köpfe. Sind Sie wirklich ein tiefer Philosoph, ein großer Satiriker, ein überlegener Dichter, wenn Sie antworten: »Was geht das mich an, das Leben läuft auch so weiter!«? Oder sind Sie da nicht vielmehr ein ganz schmieriger Lumpenkerl!

Von wieviel Menschen in Deutschland wissen Sie nichts (in Deutschland, nicht in Rußland), die geknüppelt, geknebelt, erstickt, paralysiert werden! Von gewöhnlichen, mittelintelligenten, wenig sympathischen Massenexistenzen, die Ihnen viel zu durchschnittlich sind, als daß Sie sie je beachteten.

Aber Sie, seien Sie nur dieses eine Mal durchschnittlich. Seien Sie unvornehm. Seien Sie populär. Lärmen Sie so laut von Ihrem Entsetzen und Ihrer Erschütterung wie in der Silvesternacht, wo Sie sich unbeachtet dünken, weil alle lärmen. Seien Sie sicher: auch hier geht's gleich los. Sie müssen nur mitmachen.

Das Blut ist Ihnen ins Gesicht gestiegen. Schnell, helfen Sie, fechten Sie. Wehren Sie sich! – Oder, Sie stehen bei jenem Geohrfeigten, der auf die Frage, wie er sich gewehrt habe, antwortet: »Ich schwieg höhnisch.«

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 265-270.
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