Der Führer

[157] Der Führer ist überall von dem grossen, bebenden Völkergeschöpf umgeben, das unaufhörlich seine Gestalt und seine Substanz ändert. Immer liegt es zitternd um ihn.

Er ist kein besonderer Mensch, er denkt einfach, er ist nicht merkwürdig und schön.[157]

Er hat schon den faltigen Schauspielermund, er hat den kurzen, wichtigen Schritt, der über viele Tribünen geht. Er weiss längst, wie er seinen Augen kommandieren kann, und er muss auf neue Register der Erregung sinnen wie der Akrobat auf neue Trapezsprünge. Er merkt bei allem, wie er der Mitmensch seiner Genossen ist, und er ist jede Sekunde darauf gefasst, dass aus der ungeheuren Menge, zu der er spricht: einst ein Bruder aufsteht, der noch zum ersten Male und unabgenutzt den Mund öffnet. Und der ihn zu einem Häuflein Asche verwandelt, weil in seiner Hand die wahren Blitze Gottes ruhen. Doch bis dieser Augenblick eintritt, wird er selbst, mit allen Mitteln, mit der abgenutzten Wahrheit, mit dagewesenen Blitzen und den grossen unermüdlichen Beteuerungen vom Wissen: seine Pflicht tun.

Er weiss sich eine kleine, Störungen unterworfene Blutsäule. Er kennt seine Kleinheit. Um ihn herum liegt die Ewigkeit. Um ihn, überall, steht die Gewissheit so sicher wie die Horizonte, die sein Auge überkreist in der Ferne. Um ihn, über ihn strömen die Saftstrahlen des Absoluten, sie schiessen in eine kristallene Glocke rund über den Erdball hinaus; fern und blass ziehend wie die durchscheinende Milchstrasse schwebt die unbedingte, göttliche Wahrheit um den Menschenball.

Der Führer weiss, wie fern und wiederholt er ist. Er will zur Ewigkeit. Er will, dass sein Schritt mit der Drehung der Erde gehe (der Schritt des Magiers). Er will, dass seine geballte Faust abgestorbene Planeten zu Himmelsstaub drückte. Er will, dass seine Augen, die den Blick der Menschen aufwärts blitzen, eine Strasse wahrhaft ins unbedingt Zukünftige bauen; er will, dass die Worte, die sein Mund als Fackeln auswirft, die zwar flammen aber nur aufs Geratewohl zünden, wahrhaft unabänderlich in die Welt gefallene Tatsachen seien.[158]

Er will nichts anderes als die Ewigkeit. Aber er weiss, dass er ihr namenlos fern ist. Er weiss, dass die Menschen um ihn in einer grauenhaften Ungewissheit leben, und dass er sie nur aufrecht erhält, indem er ihnen von Zeit zu Zeit die Ewigkeit nennt. Aber er, was ist er denn? Ist er anders als jene? Auch er kann sich ja nur der Ewigkeit erinnern. Er kann sie nicht geben.


*


Kein Mensch von uns allen will vollkommen allein auf der Erde sein. Niemand will der Einzige sein – und um sich, unter sich, neben sich die Kugel leer von Menschen. Wussten wir es je, dann gewiss heute, dass es keine Übervölkerung der Erde gibt. Die Freiheit, die jeder Mensch auf der Erde will, heisst keinem, dass es um ihn öde sei. Im Gegenteil. Mit ihr meint man die Kraft: inmitten der Menschen vollkommen den Raum lebendig zu schaffen, in den man geboren wurde. Dies heisst: seinen Platz ausfüllen. Freiheit ist kein Begriff, der mit Moden oder intellektuellen Zeitströmungen kommt und dann wieder alt und wertlos wird. Freiheit ist ein ewiges und absolutes Ziel. Dieses Ziel schliesst als etwas ganz Selbstverständliches das Wissen um die Unersetzlichkeit jedes einzelnen Menschenlebens ein. Nur der sinnlos teuflichste Bureauindustrialismus konnte zu der Entwertungsformel vergangener Jahre kommen: »Kein Mensch ist unersetzlich«. In Wahrheit ist keiner ersetzlich. Denn mit dem Tode jedes Menschen wird jedesmal von neuem eine ungeheure und unausgeschöpfte Möglichkeit zu fleischgewordener Liebe vernichtet. – Aber zur Freiheit, zur Fähigkeit seinen Platz als Bruder des Menschen auszufüllen, gehört das Wissen von der Einmaligkeit dieses Platzes. Wir müssen einmal ihn ganz und allseitig stark sehen; es bleibt uns nichts übrig, als aus allen unseren vorhandenen Kräften einen unsichtbaren Turm zu bauen, von[159] dessen riesenhoher Spitze wir unsere eigene Bestimmung in der Welt schauen, als wäre sie der Liniengang einer kleinen, bewegten Schachfigur. Dies ist das Wunder, an das wir glauben. Es ist nichts anderes, als dass wir in aller unserer gesammelten Energie vor das Absolute treten wollen. In dem Moment, wo wir zu Gott gehen, sehen wir uns selbst.

Aber dieser Augenblick wird uns nicht geschenkt; wir müssen alles selbst tun. Unseren Weg zu Gott wollen wir in einem Nu zurücklegen. Doch die Fähigkeit dazu wäre selbst schon göttlich. Man misstraue den Mystikern, die ihre angebliche Einheit mit Gott bezeugten; sie waren entweder hingerissene Beschreiber von blossen Seelenzuständen, oder sie drückten sich aus Wortmangel falsch aus, oder sie irrten. Wir sind selbst nicht Gott, nicht absolut, sondern Geschöpfe der Absoluten. Wir sind einfach Menschen. Wir sind nicht selbst Geist, sondern wir sind geistige Wesen.

Zwischen dem Absoluten und dem Menschen gibt es Stufen, und sie können dem Menschen helfen, zum Bewusstsein des Absoluten zu kommen. Doch nur, wenn er stets nicht sie erreichen will, sondern das Absolute selbst. Der Mensch muss auch mit der Hilfe kämpfen, die jene Zwischenexistenz ihm gewährt. Der Kampf mit dem Engel ist allein der Weg zu Gott.


*


Der Führer befremdet uns immer von neuem ein wenig. Vor uns wird er nie eine gewisse Lächerlichkeit los. Gleich darauf entzückt er uns, weil er von Dingen sprach, die die unsrigen sind. Doch dann bemerken wir, dass die Wege, auf denen er unser Bruder ist, uns lange selbstverständlich sind. Neuer Grund, ihn gering zu schätzen, und wir verurteilen uns, da wir bereits die Nennung eines uns werten Ideenkreises als Teilung des gleichen Interesses nahmen. Wir achten den Führer[160] nicht, weil er nicht unser Leben teilt, und dennoch Führer ist.

Aber wir sind im Irrtum. Es ist der Irrtum der Vornehmheit. Unsere Vornehmheit – die Bequemlichkeit und Feigheit ist –hat das Leben in blosse Themen aufgeteilt. Der Führer befremdet uns, weil ihm nichts Thema ist, sondern alles Idee. Er denkt nicht, wie wir fahrlässig Zurückgezogenen, über eine Idee nach, sondern er denkt in einer Idee. Er scheint uns beschränkt zu sein, doch seine Begrenzung lässt in Wahrheit nur diejenigen unserer Lebensangelegenheiten zu sich, die ihm zu wirklichen Lebensleitern werden. Wir erwarten vergeblich, dass er unsere bequeme Allseitigkeit zum Ausgang des Führertums nehme. Wir erwarten dies darum, weil wir selbst nichts für unsere Angelegenheiten tun, sondern sie nur betrachten wollen. Unsere Vornehmheit kommt daher, dass wir die Tat für uns immer einem Anderen zuschieben wollen. Wir erwarten, dass der Führer unsere Sache tue, die wir selbst noch nicht einmal entschieden haben. Wir schätzen ihn gering, weil ihm unsere Revolten in der Tasche – und die uns selbst nur Ausflüchte sind – nicht am Herzen liegen. Wir wünschen von ihm, dass er unsere Vorstellungen in greifbare Wirklichkeit setze, jetzt gleich, bis heut Mitternacht; unsere Vorstellungen, zu deren Verwirklichung wir selbst keinen Schritt getan haben. Wir wünschen von ihm das »Gleich jetzt!«, und uns selbst gewähren wir ewigen Aufschub.

Dabei vergessen wir: Er ist der Führer! Er führt auch uns.

Aber wohin führt der Führer? Er führt zum Geist. Führer sein, heisst, zum Geist führen. Allein zum Geist. Wer nicht zum Geist führt, kann vielleicht ein begabter Vortänzer sein, aber nie ein Führer.

Er führt uns zum Geist auf allen Wegen, die des Geistes[161] sind: Der Umkreis, den wir Politik nennen, ist seine, Bahn, die Ermöglichung unserer menschlichen Gemeinschaft.

Der Geist ist das Palladium der Gemeinschaft.

Die Materie ist das Abzeichen der Isolation. Man sagt, die Unterscheidung: hier Geist – dort Materie – – sei eine nur schulmässige Bequemlichkeit. Sehr gut! Jene Scheidung ist auch falsch, solange sie nur deskriptiv gemeint ist und behaupten will, sie stelle vollzogene Tatsachen dar. Aber sie ist herrlich: sie ist schöpferisch, wenn sie eine Forderung ist. Nur mit dieser Forderung, allein durch sie, leben wir: Seid geistige Wesen! Stammt von Gott ab!

Wenn unser Leib jetzt am Leben bleibt, so haben wir die Gelegenheit, gerade noch Blicke aus den schmalen Luken eines schauerlich versinkenden Zeitalters hinaus in eine neue Zeit zu tun. Aus dem Zeitalter der sinnlosen Welt – um es genau zu sagen, wie denn eigentlich die »Materie« aussieht:

sie sieht aus wie die Welt, das Sein, das Gegebene, das für uns ewig Gewesene.

Die Welt liegt da vor uns, um von uns geknetet, geformt, gestaltet zu werden, stets von neuem, nach göttlichem Plan, dessen Zeiger wir sind.

Aber wie menschvergessen, wie unsprungs- und gottvergessen ist es, sich von der Welt, der Materie, kneten, formen, gestalten zu lassen. Als sei man selbst Untermaterie. Die Elemente drängen in uns hinein, jene Macht, die man dämonisch nennt. Nur der Ungeistige wird vom Dämonischen übermannt. Alles, was an uns erlebt, das Seelische, das Aussergeistige an uns, ist ungöttlich. O sinnlosestes, chaotisch blutendes Zeitalter, das nun zusammenbricht, Zeitalter des Erlebens, der Seele, des Elementenspieles! Es geschah das grosse Sichpassivmachen. Sichaufteilen als Objekt für Gelegenheiten. Jedes fremde Objekt zwischen sich und Gott treten lassen, ohne dazu[162] etwas zu tun. Das Ereignis – den Accident – den Rohstoff des Lebens, die Natur, wie einen Billardball an sich stossen lassen, und im Anprall erst das Ich vermuten. Zeitalter des ewigen Nehmens! Denn Erlebnis – in rückschlagender Rache ausgesetzt sein dem dämonisch Elementaren – ist: Nehmen. Während doch unter Leben die Liebe ist, und wir zu geben haben, geben, geben, geben, und um so mehr, je geringer die Zahl der Menschen auf der Erde wird, und wir einsamer werden. Das vergehende Zeitalter versuchte, das blosse Bild des Lebens zu geniessen, ohne es selbst zu schaffen. Aber wir haben zu leben, um mit unserem Leben der Welt geben zu können.

Grausamer Millionentod ist die Gipfelung des elementarischen Zeitalters. Heraus aus dem Elementaren, aus der Seele, aus der Vereinzelung! Heraus aus dem Treibenlassen, aus dem Besitz des Gewesenen, aus dem Erlebnis! Seid göttliche Wesen. Geht in die neue Zeit des Geistes. Seid Führer zum Geist.

Wir haben die Erbsünde, sie heisst heute für uns: Isolation. Sie ist Insichsein, Einzelner sein, Seele sein. Nehmender sein.

Wir haben aber auch die Erbliebe. Und die ist: Geben; Schöpfer sein; Genosse, Mitmensch, Kamerad, Bruder sein. Die Erbliebe heisst: Gemeinschaft!

Nichts wird von unserm Kampf mit dem Engel uns erspart. Keine Mythologie steht zu unserer Hilfe mehr da. Zwischen uns und Gott hat nichts Gewesenes mehr Platz.


*


Der Mensch machte es sich leicht. Er formte eine Wachspuppe nach seinem Bilde, beweglich, lebensgross mit Vollbart, langem Haar und Schlapphut. Sie steht auf ihrem Wachsfigurenpostament im Fürstensaal des Panoptikums. Der Mensch dreht das Uhrwerk auf, sie hebt mit knackendem Ruck eine[163] Trompete krächzend an den starren Mund, darnach stösst sie dünne, rostige Laute aus, die vorbereiteten Ohren ähnlich klingen wie »Revolution, Revolution!« Eine ungeheure Wachsfigurengebärde schüttelt den Mantel über der Holzschulter zurecht. – Der Mensch steht befriedigt vor seinem Werk. Noch ist er nicht totgeschossen; so geht er höchst angeregt schlafen.

Der Mensch schläft. Kein Führer ist für ihn da, denn er selbst wollte nicht Führer sein. Unterdessen stehen die Führer der Dämonen grinsend bereit, gigantische Metzgergesellen, geschürzten Arms, mächtig mit erdachsengrossen Maschinengewehren, die Fleischfetzen und Totenklumpen bis zu den Sternen hochspritzen werden.


*


Die Dinge sind so einfach. Dennoch muss man um sie kämpfen. Was wir wollen, ist gar nicht neu. Es ist nur ewig.

Der Führer will immer wieder alles in der Welt plötzlich, mit einem Ruck und auf einmal ändern. Er sieht, dass dies nicht möglich ist. Aber er sieht auch, dass der sichere Glaube, trotzdem sei es möglich, nötig ist, um auch nur einen kleinen Schritt zurückzulegen. Der Kampf mit dem Engel besteht darin: Nicht zu resignieren.

Resignation ist Vornehmheit.

Nicht vornehm sein!

Immer wieder steht der einfache Mann – auf den wir herabsehen – als Führer da. Immer wieder sind wir die, welche vom Volksmann geführt werden, da wir nicht selber führen!

Der einfache Mann, der Führer, ist weder talentlos, wie wir glauben mögen; noch ungenial, wie wir ihn zwecks verbitterter Karikatur einschätzen; noch ist er absonderlich zufällig. Sein Talent, seine Gabe, sein Genius, seine Notwendigkeit,[164] ist: der vollkommene Mut, sich ganz hinzugeben, nicht Eigener im Besitz einer Seele zu sein; ganz erfüllt noch im letzten Blutstropfen Vertreter des Geistes zu sein. Auch auf rückständig kindlichen Irrtümern noch der gerechte Führer zu Geistigem zu sein. Nichts übrig zu lassen von sich für einen anderen als den öffentlichen Menschen. Kein Privatleben, keine Privatansichten, Privatfreunde, Privatfreuden mehr. Gleichviel was er sonst hätte sein können und wie in einem anderen Leben seine Gemütseinstellung zu uns gewesen wäre (eine Perspektive der Unwirklichkeit, nach der wir ihn fälschlich beurteilen); gleichviel: Er ist der öffentliche Mensch, und das ist er ganz. Dies ist gesehen vom obersten Turm der Menschenschicksale, seine göttliche Stellung in der Welt. Er erfährt oft erst sehr spät, in der höchsten Krisis der Menschheit, dass er göttliche Gesetze ausführt. Er kämpft mit dem Engel, um seine Besitzlosigkeit zu wahren, um nicht abzufallen zu dem Parasitenluxus des Augurentums; um trotz seines Hindurchschlüpfens durch eine neuere und vielverbrannte Haut von Menschenkenntnis, dennoch mit der Unmittelbarkeit des scheinbar Naiven auf das Geistige und Absolute hinzugehen.

Wir sehen nicht, wie er kämpft. Seine Robustheit erschreckt uns, und seinen göttlichen Platz in der Welt erkennen wir erst, wenn er unsere eigenen Unterlassungen vertritt und mit auf sich nimmt. Wenn er laut unsere Sache führt, die Sache des Geistes.

Doch unser eigener Kampf mit dem Engel liegt auf der umgekehrten Bahn. Wir müssen herabsteigen. Jeder Schritt, den wir aus unserer erhaben skeptisch überwissenden Isolation herab in die heilige Vulgarität tun, vollzieht einen Teil unserer Aufgabe in der Welt. Heraus aus unserer Seele! Hinab in die Allgemeinheit! Wir ringen mit dem Engel, weil wir ihn uns einverleiben wollen. – Wir wollen selbst der Engel sein –[165] und können uns nicht entscheiden, ob aus Hoheit oder Trägheit. Aber wir sind, im schönsten Fall, nur einfache Menschen. Wir können nicht aus uns heraus Gesetze diktieren. Uns diktiert sie der Geist, und wir sprechen sie nur gesetzgeberisch aus, in Not, weil kein anderer da ist, der es zeugnishaft und bekennend täte. Aber um Gesetze aussprechen zu können, um führen zu dürfen, müssen wir sie vom Munde unseres Lebensengels ablesen. Ablesen die Gesetze vom Munde des Völkergeschöpfes. Nichts mehr darf an uns bleiben von Überlegenheit. Nur Heiligkeit darf noch bei uns sein; aber mehr noch ist der Weg durch die Gosse. Erst wenn wir freiwillig vor die tiefste Gewöhnlichkeit angekommen sind, erst dann sind wir befugt, Pläne zum geistigen Leben zu zeichnen: Führer zu sein. Zum Engel sprechen: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« ist immer wieder der Akt höchster, hoffnungslosester Verzweiflung, und dennoch muss es immer wieder unternommen werden. Immer ziehen wir im Kampfe mit dem Engel den kürzeren. Der Engel fährt davon, wir behalten blaue Flecke. Aber erst die Wundflecke aus dem Kampfe, erst die ganze Haut ein einziges grosses brennendes Wundmal des Kampfes; erst die ganze Notwendigkeit einer Erneuerung der Haut: Erst da ist die Segnung des Engels.

Erkennen wir: Nicht die einzelne, nur stets unerfüllte Wunschsekunde, sondern der ganze, vielzeitige Umfang und die Gestalt des langen Kampfes erst ist in Wahrheit unser Führertum!


*


Nicht eher werden wir unsere neue Erde bauen, als zwischen Gott und uns kein Ding mehr liegt, an dem wir uns zurückhalten können. Wir müssen ganz besitzlos sein. Jeden Besitz müssen wir erkannt haben als unsere Flucht vor dem Menschentum. Aber die letzte Barrikade gegen das Leben im[166] Geiste, gegen die unbedingte Freiheit zu Gott, gegen unseren Weg zum Absoluten: ist die Seele.

Das Denken, der Wille, die Verwirklichung sind untrennbar voneinander. Aber schon das Denken, das nur mit unserem Leibe sich völlig decken muss, um uns zu geistigen Wesen zu machen, errichtet uns Hindernisse auf dem Wege zum Geist. Unsere Feigheit vor dem Verwirklichenmüssen rettet sich zu den niederen Anwendungsarten des Denkens. Die niederen Anwendungsarten des Denkens, da wo es aus seinem Leben als Aktivität des Geistes herabgleitet in ungeistige Surrogatprozesse, sind, auf der Seite der Abstraktion: der Formalismus; auf der Seite des Figürlichen: das Bild, die Vorstellung. Mit dem Formalismus und mit der Vorstellung lassen wir künstlich Naturgegebenes schaffen. Wir stellen das schon Vorhandene noch einmal dar; so erzielt unsere Angst vor der Verwirklichung, dass durch den Mangel an Verwirklichungsursprung die isolierende Schranke – Machtgefühl, Verteidigung des Besitzes – nur noch grösser wird. Aber diese Zwischenfälle können nicht unsere stetig sich erneuende Besinnung auf das geistige Schöpfertum des Denkens, auf seine Menschenformung, aufhalten. Denn so erschöpflich und endlich die Natur ist, so unerschöpflich ist das Denken. Wäre auch die Natur – wie pantheistische Begeisterung besinnungslos behauptet – unerschöpflich, so würde sie der Verwirklichung des Denkens nicht ihre gewöhnlichen, heftig einmaligen Hindernisse bieten, sondern gradweis infinitesimale. Aber das geschieht nicht. Sondern zwischen dem vorangehenden üblichen Auftreten von Hindernissen und ihrem ebenso späteren Nachfolgen tritt jener heilig erhabene Fall auf, in dem die Verwirklichung des Denkens hindernislos ausgeübt wird. Man nennt diesen Fall der hindernislosen Verwirklichung: den Glücksfall. (Die Tatsache des Glücksfalles erweist die Erschöpflichkeit[167] der Natur. Hier sei gleich bemerkt, warum kein Pantheismus uns gestattet ist, selbst im – nicht zutreffenden! – Fall, die Natur wäre hochwertig schöpferisch. Jede Gleichsetzung Gottes mit der Natur und der Welt; jede Repräsentation Gottes; durch einen kosmischen Prozess; jeder solche Determinismus: ist ein Beiseiteschieben des Ethischen.) Aber der Glücksfall ist kein Zufall. Vielmehr, er ist das Wunder. Und jedesmal, wenn der Mensch das Denken ganz mit sich identifiziert, wenn das Geistige so um ihn Sphäre bildet, dass die Natur auf ihre Endlichkeit sich zusammenziehen muss, dann perlen um ihn – unglaubhaft für die bloss elementar naturabhängigen Zuschauer, aber glaubhaft selbstverständlich für die Mithandelnden – die Wunder auf.

Die Welt könnte voller Wunder sein. Aber die Seele hält uns von ihnen zurück. Nicht das Geistige des Menschen, nicht sein wollendes Denken in Wirkung wartet auf das Wunder; das Denken tut das Wunder. Sondern die Seele wartet auf das Wunder. Die Seele wartet auf das Wunder, weil sie von ihm eine Bereicherung erhofft. Bereicherung des Besitzstandes. Die Seele ist vom Denken abgesondert, geflissentlich. Sie ist nicht da, um zu verwirklichen; sogar, sie will nicht verwirklichen. Sie will in sich sein. Die Seele ist ein Zufluchtsort, eine geheime Ecke. Ein Schatz. Ein Besitz. Eine Machtfülle. Ein Überlegenheitsmittel. Ein Gegebenes. Ein Erreichtes. Ein Ausruhplatz.

Es kommt aber darauf an, keine Zuflucht mehr zu haben. Es kommt durauf an, dass wir in die vollkommenste Verzweiflung gehen, wo wir nichts mehr zu retten haben. Kein Geheimnis mehr. Kein Fürsichsein. Kein Privatleben. Es kommt darauf an, zu verwirklichen. Es kommt darauf an, Besitz, Macht, Gegebenheit zu vernichten, um das Bewusstsein von der Existenz Gottes zu erreichen.

Die Seele ist unsere tötendste Ausschweifung. Immer wieder[168] sucht sie uns das Mass der Welt anzulegen, wenn wir die göttliche Unermesslichkeit des Geistes menschenhaft anrufen. Immer wieder, wenn wir schöpferisch für das Menschentum werden, sucht die Seele uns zu Einzelzellen zu machen, stolz auf das Vereinzelungstum ihrer Zelle.

Der Geist ist die Gnade Gottes. Er ist fremd allen unreinen Wesen.

Die Seele steht im Banne des Teufels. Der Kampf mit dem Engel ist auch unser inniger Wille, das weltgebundene Sonderwesen der Seele aufzuheben, und die reine Lichtfortsetzung des Geistes zu werden.

Will man handgreiflich sehen, was die Vertretung des Teufels, die Vermenschlichung der Welt ist? die Seele?

Die Seele kennt nicht Werte. Nicht Recht noch Un recht. Nicht den Ursprung der Handlungen noch ihr Ziel. Sie kennt nur Wirkungen, und sie nimmt alle als gleichen Sinnes an. Sie wird darum stets zur Apotheose der Gewalt bestrahlt, denn die Gewalt beruft sich auf Macht, Geheimnis und inneren Besitz. Gewalt findet stets als ihren dunklen Anwalt die Seele.

Aber der Geist allein leitet, auch in der letzten Bedrängnis noch seiner Blutzeugen und öffentlichen Münder, die Verteidigung des Rechts.

Der Privatmensch gibt sich der Seele hin. Aber für uns gibt es kein Privatleben mehr. Wir, die Öffentlichen, die Geistigen, die Menschen: die Geistesmenschen – wir müssen in unserm Kampf mit dem Engel den Weg durch die Seele nehmen, wie wir den durch die Welt nehmen müssen. Offnen Augs, lichtumflammt vom Geist müssen wir durch das Dunkel. Auch dieser Weg wird uns nicht geschenkt.

Wir erinnern uns, dass wir die Welt geformt haben zu einein Glied des Geistes. Wir Wesen des Geistes.[169]

Nun haben wir alles von uns abgetan, das uns noch band. Wir stehen nackt da, und selbst unser Leib, der mit Wunden aus dem Kampf bedeckt ist, ist uns nur noch wert als Mittel, unser Geistiges durch seinen Raum zu verwirklichen. So sind wir ganz herabgestiegen von unserm Adels-Sockel, wo wir als Vornehmer, als Seele, als Persönlichkeit, als Einzelner standen. Wir stiegen bis zur letzten Tiefe, die uns gerade noch vom Tod trennt. Wir haben nichts mehr von unserm Besitz aufzugeben und zu verlieren, wir sind besitzlos geworden. Wir haben nichts mehr zu bewahren: Nun können wir geben, so unerschöpflich wie der Geist durch uns strahlt. Zum erstenmal sehen wir.[170]

Führer, du fährst auf aus dir, wie ein entflammtes Zündholz, klein. Schwankend dünn im grossen Taglicht-Umkreis.

Vor dir atmet das Völkergeschöpf vorfühlend und rückt die Glieder, in brauner Angsteshaut.

O steh grade, halte die Augen entgegen, streck die Hände! Du siehst die Löcher aus den Augen schaun, die Arme tastend, Leiber hilfegedrängt, die Köpfe bleich und viel, als blicktest du lang in den schmerzenden Spiegel. Sieh dein Gesicht grosswächsern dir entgegen, Das Blut läuft über die Augen vom erdig weissen Haar, Hungerfalten um deinen zerknirschten Mund, der breit aufklappt zum Schrillen. Sieh dein Gesicht weich und rund, rot, fleischig, zahnlos, sanft erschreckt bei der Geburt. Sieh dein Gesicht erstaunt rasend eh du Mann wirst. Sieh dein Gesicht in der Abendstunde der schwesterlichen Nachdenklichkeit. Sieh die Augen spiegelnd über Nasen, die gekrümmt sind in Jahrtausendgestalt,

Sieh die Augen blass ausgelaugt von Verfolgungen, Sieh den Mund, der faltig blieb von den Flammen der Scheiterhaufen, den Mund, der dünn ist von den Überfällen der Truppen, er schloss sich nicht seit den Handschellen der Gerichtsdiener. Führer, sieh dein Ewigkeitsgesicht. Schmal. Brüderlich.[171]

Der Führer steht klein, eine zuckende Blutsäule, auf der schmalen Tribüne. Sein Mund ist eine rundgebogene Armbrust, ein ungeheurer Ruck über ihm schnellt ihn schwingend ab. Gottes Stoss hat die Krummnase dieser schwächlichen Säule in die zitternden Massen geschwungen. Seine Glieder sind helle fliegende Wesen geworden, losgelöst von ihm, unter seinem Wink, die überall unter den Massen auftauchen und bei den Menschen eifern. Seine Ringerarme kreisen weit hinein, überzeugend wie schlanke weisse Leiber, ins feindliche Menschenfeld. Seine Augen werfen im Horizontschwung leuchtende Flügel. Hohl beflügelt schweben seine Ohren rosig auf bleiernem Volksgeschrei, die hellen Flügel tragen den Thron seines Kopfes sanft hoch über Steinwürfe und graue Beleidigungen. Der leuchtende Ball seines Kopfes schwebt gewoben aus verflochtenen Engelswesen durch den blauen Raum, und schüttelt wie Wolkengefieder blitzende Himmelskuppeln auf die Menschenschultern herab. Die Engelswesen der Augen pfeilen zu den schwirrenden Bruderaugen weitum im riesigen Kreis. Die Engel Gliedersäulen, Arme, Zunge und Lippen verschlingen sich wie Zweige im wehenden Baum. Der Führer spricht. Um ihn schweben auf und ab, ins Weite und zurück, ringend verschlungen seine Engel auf kristallenen Bergen. Pfingstflammen fliessen schmallbrennend auf den riesigen Erdwald der Menschenhäupter herab.


Führer, sprich!


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte, Potsdam 21920, S. 157-172.
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