Das Was ist

[92] Die unglücklichsten Menschen sind heute die, die in der Welt einen spannenden Roman sehen. Sie haben nie genug zu lesen; sie wollen schliesslich aus Verzweiflung ihren eigenen Roman lesen. Das heisst, sie wollen die Welt mitmachen, statt sie zu machen.

Man müsste gerade diese Menschen immer wieder aufklären, einfach über ihre groben Irrtümer aufklären. Denn wenn gerade sie öffentlich werden, dann sind sie allem Wertvollen gefährlich. Sie sind ja stets unsicher, ob sie sich zum[92] revoltierenden Dichter entschliessen sollen oder zum freiwilligen agent provocateur (aus lauter Verständnis für den fremden Typ). Von hier drohen Schmuckstücke des Aufruhrs, Rebellions-Krawattennadeln oder Gedichte, dekorative Revolutionen; Reifenspiel ästhetischer Streiks. (Bunter Krawall statt politischer Ziele. Oder: Spectator schreibt ein Aufruhrdrama.) Eine verbrecherische Künstleransicht vom Leben: Menschen sollen verhungern, Menschen sollen niedergeschossen werden, um – unbeteiligt – noch im Sterben lebende Bilder zu stellen!

Man sieht, wie sehr es auf das blosse »Was« ankommt. Mildere Töne: Skepsis ist fruchtbar. Aber Verzicht auf das »Was« ist zur Vornehmheit verdammt. Man kann sich eine Gewissheit nicht dadurch verschaffen, dass man eine fremde annimmt. Menschen, die für frühchristliche Mosaiken, Exotenplastik oder gregorianische Kirchenmusik himmeln, unterscheiden sich nicht von Humpen-Sammlern. Wenn einmal irgendeine Ferne ursprünglich war – der Amateur der Ferne ist es nie. Der Nur-Methoden-Mann; der Bloss-Bedeutungs–. Rechereur; der feierliche Form-Erläuterer: dieses albernste, weil tatenloseste aller Geschöpfe, Primitivus Symbolicke ist ein Schwindler!

Die Geschichte einer Wirkung: Calvin sagt, das Abendmahl bedeutet nur den Leib Christi; er war vornehm, symbolisch, von der Skepsis des bilderreichen Künstlers. Die Härte, Klarheit, Ethik seiner Reformation viel stärker als die Luthers. Gegen Luther Calvins Erfolg gering. Der Riesenerfolg des Protestantismus bei dem dicken, groben Luther (wenngleich schauerlichem Kompromiss- und Demutsmacher), der mit schweissiger Mönchsfaust das Pult schreiend schlägt: »das Abendmahl ist der Leib, ist, ist; nichts von Bedeutung; es ist wirklich der Leib!« Der sich den groben Inhalt wahrt. Die[93] Wirkung ist beim Inhalt. Man nennt das: an etwas glauben. Es kommt aber auf das Was an.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte, Potsdam 21920, S. 92-94.
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