Kunst

[89] Es ist bezeichnend für die verräterisch böswillige Dummheit unserer Zeitgenossen, dass sie, anstatt die einfachen wirklichen Absichten einer Mitteilung zu beurteilen, zu werten und mit oder gegen zu wirken: Dass sie statt dessen die Mitteilung viel lieber »verstehen« wollen. Standpunktlosigkeit, billige Konvertitenart, Schöne-Psychologie-Treiben um jeden Preis. Ein Beispiel. Liberale Schriftsteller vermitteln uns, aus lauter Verständnis, den Dichter Kleist. Aber Kleist ist die letzte Rettung des Adels aus seiner Agonie; der Nachtschweiss zusammenkrachender Junkerschlösser zeugt ihn. Der Literat rettet den Adel. Wäre nun etwa Kleist in seinem geschauten,[89] und also doch gewünschten junkerlichen Feudalstaat heute Staatsmann, so wären jene liberalen Schriftsteller längst mit einem gelben Stern auf dem Rücken ins Ghetto gesteckt. (Freilich – für rankende Dichter, gottselige Bestrahler von beglaubigten Weltkonjunkturen, für die gäb es kleine Gnadenstellen.)

Die übliche Ausrede gutwilliger Psychologen ist, man müsse solche »Tendenzen« unberücksichtigt lassen. Es handle sich allein um das Dichtertum eines Dichters. Tiefes Missverständnis! Dichter sein kann ja kein Ziel sein, sondern nur allererste Voraussetzung. Dichter sein bedeutet nur das Notwendigste: dass der Mann imstande ist, seine Ziele glaubhaft genau darzulegen. Sonst würde man sie ja gar nicht erkennen. Wenn jemand spricht, so kommt's darauf an, was überhaupt er zu sagen hat.

Nicht blindlings haben wir den Tanz des Derwisches zu billigen!

Ein Schamane tanzte vor seinem Stamm mit schäumendem Mund.

»Seht, wie bedeutend er schäumt!« sagte der Psychologe.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte, Potsdam 21920, S. 89-90.
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