Ludwig Rubiner

Die Anonymen

Seit einigen Wochen dürfen wir wissen, daß Deutschland existiert. In einem Lande, das bevölkert war von industrialisierten Kegelklubs und ihren grad so hochnäsigen Gegnern: schwermütig fettansetzenden Einzelgängern, ist das Wunder da. Menschenstimmen wurden hörbar. Seien Sie irgendwo auf Java in einem fernen runden, einsamen Waldloch; vielleicht kurze Zeit nur allein, aber fühlen Sie sich abgetrennt vom Willen und vom Leben anderer, weit von jeder Hülfe – und finden Sie plötzlich, kaum sichtbar hinter Stämmen und Blättern, ein kleines Haus, in dem Leute leben, die schon sehr lange da wohnen, zu Ihnen sprechen und alles rings kennen. Wenn Sie noch Zeit haben, dann heulen Sie los.

Schleußen Sie die letzte Sentimentalität auf, die heut jeder wirklich anständige Mensch hat. (Sie ist noch das Reservoir der Werte, aber morgen gibt's keine mehr!) Seien Sie gerührt, heulen Sie vor dem Wunder der Menschenstimme in Deutschland.

Seit einigen Wochen erscheint in Leipzig im Demeter-Verlag eine Zeitschrift. Sie heißt »Der lose Vogel«. »Der lose Vogel« hatte die Aufgabe, in ganz Deutschland einen Satz zum Lesen zu geben, dessen aufrüttelnd erarbeitete, durch Schlagen, Zerren, Brennen erarbeitete Geistigkeit seit hundert Jahren nirgends erwartet werden konnte. Im »losen Vogel« stand:

»Eine ganz kleine Gruppe von Schriftstellern, die mit der Anonymität ihrer Beiträge die Sachlichkeit betonen möchte gegenüber der heute so beliebten Betonung des Persönlichen«, schreibt diese Monatsschrift »Der lose Vogel«, »in der vielleicht nicht ganz aussichtslosen Hoffnung, dazu zu helfen, daß dieser sogenannte moderne Mensch auf sein Epitheton verzichten lerne und ein Mensch werde, bestimmt durch seine Art und Begabung, aus der, und sei sie noch so gering und eng, zu wirken, ihm und damit dem Ganzen des Lebens von größerem Nutzen und besserem Glück sein[187] wird, als wenn er sich in eine immer nur oberflächliche Vielseitigkeit und falsche geistige Geschäftigkeit verliert, die ihn zum Toren macht und keinem dient.«

In diesen Worten ist nichts mehr zu spüren von dem Zungenschnalzen über der Materie, das das ganze letzte Jahrhundert geschändet hat. Aber dies wäre nichts.

Ist es denn nicht zu merken? Muß es gesagt werden? Die Revolution ist da. In diesem Satz brach ein Heer hervor. Die Menschlichkeit, das Gestaltende, geht gegen die starre, widerstrebende, viehische Gewohnheit; gegen den Weltbauch.

Es gibt keine Materie mehr.

Niemand hat mehr vor Bildern zu taumeln. Niemand hat mehr betäubt in Symphonien zu sitzen. Auch der Sieg einer Epoche der Plastik wär nur Mode. Vielleicht darf's noch erlaubt sein, den rundgehauenen Klotz der römischen Engelsburg als ein Zeichen zu nehmen (letztes Zeichen, daß die Erde besteht). Man darf aber als erstes Zeichen für den wirklichen und wirklichen Geist, an die Pyramiden glauben.

In der Zeitschrift des Demeter-Verlags herrscht Anonymität. Ist es möglich, ein Wort auszudenken, das nur etwas von dem Umschüttelnden, von aller Seligkeit dieser real erfüllten Utopie mitteilen könnte? Es gilt zu überzeugen, daß ein Jahrhundert, dessen Aufgabe war, uns Eßnäpfe, Einheitsstiefel, Wagnerpartituren herzustellen, nicht mehr als ein Hindernis für den Geist besteht. Wie soll man es mitteilen, wie soll man andere zum Schreck und zum Entzücken bringen? In einer neuen Zeitschrift herrscht die Anonymität: das heißt, es herrscht nach einem Jahrhundert wieder die Verpflichtung und die Beziehung.

Der Tag, an dem einer den Mut wirklich hatte, den Gedanken der Anonymität bis zum Ende zu umfassen, dieser gehört zu den Schöpfungstagen unserer heutigen Geschichte. So ein Moment des Überschwelltseins mit Geist ist nicht auszudenken, er kommt nur einmal vor. Man kann versuchen auf einem Gang durch die Straßen, allein in der späten Nacht, einmal sich jene Schöpfungsstunde unserer deutschen Anonymität vorzustellen, um zu wissen, nach welcher Hyboris aller Sinne, mit welchem Leiden unter dem unaufhaltsamen Druck des akkumulierten Geistes sie[188] zustande kam. Die Zeitschrift der Anonymität ist ein Herz des geistigen Lebens. Hier muß zusammenströmen, was an Kraft ungeleitet und versprengt in der Welt umherirrt. Diese Anonymität macht tausend Selbstmorde zunicht. Kann etwas menschlicher sein? Nun, hier ist ein Horizont aufgebaut, der jeden Menschen plötzlich seine Verantwortung in dieser Welt fühlen läßt. In diesem Moment gibt es keine Empfindung mehr, die Freude fällt von unserem Fleische ab.

Aus uns wachsen Bäume mit breiten Zweigenkreisen, eine Welt ist da. Hier ist nichts allein. Was bleibt uns – vor dieser Anonymität –, als unser Leben beieinanderzuführen! Denn wer innerhalb dieser Anonymität noch in Gleichnissen sprechen würde, wer sich spiegeln und gefallen wollte, wer sich genösse, auf den würden seine in die Welt geschickten Kräfte wieder wirkend zurückprallen. Den würden sie verzerren und verzierlichen, den würden sie vereinzeln. Er wäre Einzelner und ohne Halt in dem rings zusammengeschlossenen Kreis Verantwortungsvoller. Das wäre der selbstverständliche Tod. Dies weiß der Anonyme, und das drängt ihm die Kräfte auf die stärkste Sachlichkeit zusammen.

Alle Menschen waren heute musikalisch. Die Musik ist die Kunst, sich auf die leichteste und bequemste Art seinen Verpflichtungen zu entziehen. Hineinzuschlüpfen in Polyphonien: ist ein Weg außer sich zu geraten, ohne für andere dazusein. (Die Musik – die gute Musik, und je besser, desto schlimmer – ist der Weg des Vereinzelns. Die Deutschen sind musikalisch: isoliert!) Musikalisch ist der Gegensatz zu Moralisch.

Die neue Zeitschrift ist ohne Musik; trocken.

Die Zeitschrift der Anonymen ist das neue Manifest der Moral!

Es wird nötig, noch ein paar Worte historisch zu reden. Üble Tagesschreiber werden die Anonymität für einen Trick halten; Weichgehirne denken an eine funkelnagelneue Originalität (in Wahrheit brach hier endlich einmal der Mut der Verantwortlichkeit hervor, die Originalität zu züchtigen). Der Verleger hat kein Geheimnis daraus gemacht, daß der »Lose Vogel« von Franz Blei herausgegeben wird. Darf eine flüchtige Erinnerung genügen? Wenn man heute[189] die alten Jahrgänge der Insel aufschlägt, so ist gleich sichtbar, daß da nicht die violetten Leberknödel des Gründers Bierbaum wirkten, sondern das Formgebende sind die Beiträge Bleis. Heute sieht es so aus, als sei er der Leiter gewesen. Dann: er hat die großen Moralischen nach Deutschland gebracht, André Gide und Francis Jammes; übrigens zu einer Zeit, in der keiner fähig war, ihre Einwirkung auch nur zu spüren. Nie wird vergessen werden, wie Blei Claudel übersetzt hat. Diese Menschenliebe ist in der Literatur noch nicht gewesen: diese mächtige Überwindung, die Opferung aller persönlichen Genüsse der Sprache. In der Übersetzung Claudels verging kein Satz, der nicht zeigen wollte, da sei nicht »Übertragung«, sondern bedingungslose unamüsable Nachbildung eines Undeutschen: Nachbildung, die im härtesten Deutsch bedeuten sollte, daß nicht der Übersetzer lustvoll dichte, sondern daß der fremde Dichter einen sachlichen Inhalt habe. Nie hat, wie Bleis Claudel-Übersetzung, etwas so drohend und seelenkräftigend gezeigt, daß »Wortkunst« ein genußreicher Selbstbetrug sei.

Wir werden nie vergessen dürfen, daß er uns wieder neu Moral gelehrt hat. Ein Ding, das unter verschwommenen, dicken weichlichen Händen zur komischen Puppe geknetet worden war. Was für ein Mut gehört dazu, vor Lesern – und im Hintergrund blieben doch unverborgen Künschtler und Literaten –, vor Lesern die Verfilzung gefühlvoller Begriffe zu verstören, die Schlupfwinkel zimperlicher Ausflüchte, die das ehrfurchtweckend bebärtete Wort »Ethos« bot, auszubrennen. Es war Mut, daran zu erinnern, daß wir in einer Gemeinschaft leben. Ein Zufall zeigt, daß Blei vor gerade zwanzig Jahren in einem Züricher Brief an den »Socialist« die Verantwortlichkeit innerhalb der Gemeinschaft verteidigt – 1892, also zu einer Zeit, wo Individualismus gerade was riesig Feines für ausgekochte Jungens war. Dieser Mann hat also die Moral nicht erst in sich »entwickelt«; er hat die Moral. Sie ist das Zeichen seines Typus. Jede Zeile, die Blei in diesen zwanzig Jahren geschrieben hat, ist nur befühlbares Sachargument für eine wertende Metaphysik. (Nicht seine Schuld ist's, daß Marquisenjäger und Zahnstocherathleten sich auf Unterröckchen und Manschettenknöpfe stürzten. Wenn Gentleman-Literaten[190] in Lieferüngen die »galante Zeit fürs Volk« entdeckten, so zeigt dies nur von neuem die große Aufopferungsfähigkeit Bleis, der, trotz äußerster Gefahr des Mißververständnisses, Anekdoten als moralische Beweise gab!) Soll noch rudimentär und zufällig hinzugefügt werden, daß es an Blei liegt, wenn der große furchtbare Pascal in Deutschland einigen nicht mehr Angelegenheit der Dictionnaire blieb? Doch dies sind ja alte Zeiten. Es ist auch alles bloß roh biographisch. Und in dem nur historischen Überblick könnte man auch von der Luther-Rolle Bleis als Übersetzer oder Vermittler von allen Erweckern des Moralischen reden.

Aber nun, welches Glück für uns, die notwendige letzte Folge zu sehen, den Querschnitt dieses Typus zu haben; dazusein und zu leben bei der Formung aufgespeicherter Kräfte. Mitzuerleben, was man doch nicht mehr zu hoffen gewagt hat: Der Geist springt hinein in den steinernen Raum der Sache. Es bleibt auf der Welt davon hallend ein Satz, ein Wort; es bleibt ein Wert. Mit der Anonymität jener Zeitschrift sind wir geistig geworden, seit hundert Jahren zum ersten Male wieder. Von heut an geht es uns nur darum – wie dem alten Zuschauer der Comédie française, der vorm Fallen des Vorhangs wirklich nicht den Namen des neuen Dichters wußte –, ob unsere Sache agiert wird, die Sache; Menschliches beziehungsvoll. Denn jeder Mensch erlebt einmal den Tag, an dem die Sache aller andern bei ihm liegt. Er soll es wissen. Er soll seine Sache tun. Nur seine Kraft wirkt, seine Lebensgeschichte steckt ganz in der »Sache«. Biographie gilt nicht mehr. Name ist gleichgültig. –

Hier begann die deutsche Revolution von 1912. Der »Lose Vogel« ist bisher zweimal erschienen.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 187-191.
Lizenz:

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