Ludwig Rubiner

Hören Sie!

Hören Sie, Kamerad, Mitarbeiter, Leser, immer wieder den Bannruf »Literat«, den Fluch, der uns exkommuniziert, den Fall des Roßapfels, der nach uns geworfen wird?

Hören Sie den Hohnschrei: »Literat«?

Das Scherbengeklirr eingeworfener Fenster: »Literat«?

O Schwindler, die, geduckt in die laufende Menge, rufen: »Haltet ihn, Literat!«

Der lehrhafte Rauschebart, verhinderter Tolstoi, der seine gutmöblierte aufständische Eigendung-Grube bewacht und eifrig in Kapitalszeitungen schreibt,

Der Theaterdirektor, mit Unehre an Possen verkracht, der sich in die Tageskritik geflüchtet hat vor dem Tode,

Der feierliche Verleger, der jedes große Werk eines toten Literaten in eine glatt mühelose, geheimnisvolle Öligkeit verwandelt in die Buchläden schickt (immer noch imitiert Bütten),

Der Kokottenhälter, der unter den Betten seiner Freunde auf Literaturmögliches lauscht,

Der dreihundertste Gottfried-Keller-Imitator,

Der Gründer von Kneipen mit humanitärem Augenaufschlag, der zwecks Empfehlung die Redaktionen besteigt,

Der Spezialist in Verkündigungen,

Der an sich haltende Mystiker, der jede alte Legende, jedes Märchen, jede Erfindung fremder Köpfe in die Marktgängigkeit eines tiefen Buches schmalzt,

Diese, die nur Literatur machen, von Literatur leben, hinter der Literatur her sind, schweißbedeckt,

Alle diese, die eine widerspenstige Literatenbemerkung sofort auf den Quivive bringt (wie merkwürdig!),

Alle sie beschimpfen mit »Literat«, sie entehren im Wort »Literat«, sie arbeiten an Mißkredit mit »Literat«,

Sie entkameradisieren damit.

Der Aufrührer, der sein ganzes Leben lang nur Zeitungen liest und schlechtgeschriebene Sätze nachweist, schäumend,

Der Romanschreiber, der mit seinen Kritiken nicht zufrieden ist,[37] Der saure Klassiker, der nach alten Vorbildern hohe Dramen sich entstößt und auf Papier drucken läßt,

Der Nutznießer des Geistes, der Arzt, Beamte, Bankier, Gewerbetreibende, Direktor, der, ach, nur in Freistunden dichtet,

Der Zeitungsmann, der auf seine Hirnkraft nicht mehr stolz ist,

Und der Literat selbst, der Untüchtige, Ängstliche, zur Nachwelt Schielende, der Murmler, der Nachsprecher, der profunde Feintuer, der Wortklauber (durchaus auf Posthumität bedacht), dieser Feigling,

Sie alle sollen sich schämen und ihrem Leben ein Ende machen,

Denn es ist nutzlos gewesen.

Oder warum schreiben sie?

Nur weil andere schreiben?

Was hatten sie uns zu sagen?

Nur Selbstbetrug, Eigenschwindel? Privatsache!

Oder den Betrug gegen andere?

Kerle, die in der wichtigsten Stunde ihren Platz verlassen,

Ihr Platz ist nicht, Worte zu machen über Gewesenes.

Wir brauchen nicht Interpreten, heute dolmetscht jeder sich selbst.

Ihr Platz ist,

Worte zu machen für Dinge, die gut sind. Für Menschliches, das kommen soll.

Worte zu machen gegen Schändung des Geistes,

Worte zu machen gegen Verrat am göttlichen Menschen,

Worte zu machen!

Denn Würste zu geben, Anzüge, Handschuhe, Schränke, Bier, Stiefel, Semmeln kann der andere besser als sie.

Aber ihre Sache ist es, das Wort zu machen, das diese Menschen treibt und selig auf der Erdkugel macht,

Das Wort, nach dem die Generation handelt,

Das Wort, das sie, Literaten, besser wissen als ihre Leser.

Ihre Aufgabe: Nicht Erklärer, sondern Führer zu sein.

Wer das nicht ist – Abtreten!

Klägliche Mittelwesen, Dazwischenkünftler, Kammerdiener mit alten Geheimnissen – Abtreten!

Wimmernde Malcontenten, Verräter, Spitzel am Wort, an der Hingabe, Verdächtiger der Führung – Abtreten![38]

Nieder die Schwindler!

Es lebe die Stimme! Die Stimme für die anderen!

Es lebe das Wort, hell wie Cornetsignal!

Es lebe der runde geöffnete Mund, der laut gellt:

Es lebe der Führer!

Es lebe der Literat!

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 37-39.
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