VIII.

[151] Welch ein Tor war er gewesen! Er hatte ja gleich bei dem ersten Gespräch mit Paula erkannt, wie wenig Anklang seine treue Neigung bei ihr gefunden, hatte erkannt, wie wenig sie selbst in ihrem ganzen Wesen der Vorstellung entsprach, die er so lange von ihr gehegt – und dennoch hatte er, die warnenden[151] Stimmen in seiner Brust übertäubend, mit einer Selbstverblendung sondergleichen an dieser sinnlosen Liebe festgehalten, bis er endlich heute entschieden den Laufpaß erhalten! Ein heißer Schauer durchrieselte ihn. Aber was konnte ihm daran liegen? Was machte er sich aus einem Weibe, in dem er sich so sehr getäuscht – in dessen Brust nicht ein Funken edlerer Empfindung glomm! Aus einem Weibe, das nichts anderes war als eine herzlose Kokette – wenn nicht noch Schlimmeres, trotz der sonderbaren ehelichen Treue, die sie ihrem Gatten bewahrte! Sein Stolz, sein Stolzgefühl empörten sich, und unwillkürlich stampfte er im Gehen verächtlich auf das Pflaster.

Dennoch vermochte er nicht des Schmerzes Herr zu werden, der dumpf in seinem Innern fortbrannte, und schon in nächster Zeit mußte er erkennen, wie sehr er dieses Weib liebe. Wo immer er sich auch jetzt befand: in seinem einsamen Zimmer, im belebten Salon, im Theater, in der abendlichen Tischgesellschaft von Künstlern und Schriftstellern bei Gause – überall dachte er an Paula. Auf der Straße fürchtete er eine Begegnung mit ihr – und doch lugte er beständig nach ihr aus, blickte in jeden Wagen, ob er das blasse, dunkeläugige Antlitz darin nicht gewahre. Als er bei einem Konzerte eine seiner Symphonien persönlich dirigierte, forschte er mit scheuen Augen nach ihr im Publikum, obgleich er wußte, daß sie gar nicht daran dachte, hier zu erscheinen. Und er hatte oft die ganze Kraft seiner Seele aufzubieten, um des Morgens nicht an dem bekannten Hause mit dem Vorgärtchen vorüberzugehen ....

Es war ein aufreibender, unwürdiger Zustand, aus dem er sich um jeden Preis befreien mußte. Aber wie? Es gab, das erkannte er, nur ein Mittel: die Reise nach Italien. Aber nicht nach Venedig wollte er gehen, wie es ursprünglich seine Absicht gewesen. Nein, in dieser halbversunkenen Stadt blühte ja die Sumpfblume der Armut, das Laster, und wandelten Frauen, die ihn mit den großen dunklen Augen Paulas anblicken würden. Auch nicht nach Rom, wo alle Leidenschaften der Vergangenheit[152] und Gegenwart wirr ineinander zucken. Nur in dem lichten, sonnigen Florenz, bei den erhabenen Gestalten Michelangelos, vor den unschuldsvollen Bildern Fiesoles würde er vergessen, würde er die Ruhe seiner Seele wiederfinden! Schon bei dem bloßen Gedanken fühlte er seine Brust erleichtert. Also dorthin! Dorthin! Aber er konnte nicht fort. Künstlerische Verpflichtungen, die er eingegangen, hielten ihn hier noch fest.

Inzwischen war auch die Frist abgelaufen, die ihm Paula wegen ihre Bildes gesetzt. Trotz seines Vorsatzes, gar nicht weiter daran zu denken, überlegte jetzt Bruchfeld. Was wollte sie denn eigentlich mit dem Bilde? Doch nichts anderes, als ihn auf wohlfeile Art über die Enttäuschung trösten, die er erlitten. Er sollte sozusagen damit abgespeist werden. Aber verhielt es sich auch wirklich so? Vielleicht tat er ihr unrecht. Es war ihm jetzt, als wäre sie doch einer plötzlichen wärmeren Empfindung gefolgt – als habe ihre Stimme beim Abschied leicht gezittert. Auch hatte sie ja gesagt, daß es sie immer freuen würde, ihn zu sehen. Und er sollte sich jetzt umsonst erwarten lassen? Nein, er mußte das Bild in Empfang nehmen!

Und so schritt er zuletzt wirklich an einem frostigen Novembermorgen die weitläufige Gasse hinunter. Vor ihm, in einiger Entfernung, ging ein junger, schlanker Offizier, dessen hoher Wuchs durch den langen grauen Mantel, den er trug, noch auffallender wurde. Auf dem Platze mäßigte er den Schritt und blickte mit gespannter Aufmerksamkeit nach rechts in die Höhe. Zu den Fenstern Paulas! durchzuckte es Bruchfeld. Aber schon hatte der Offizier den Kopf abgewendet und bewegte sich wieder mit rascherem Schritte vorwärts, bis er, nach der Stadt hin einbiegend, verschwand.

Bruchfeld beschwichtigte die quälende Vermutung, die in ihm aufgetaucht war, und schickte sich an, auf Paula zu warten. Eine eigentümliche Empfindungslosigkeit überkam ihn jetzt; aber er konnte das Pochen seines Herzens vernehmen.

Es dauerte nicht lange, so erschien sie vor dem Hause und[153] schritt über den Platz der Gasse entgegen, an deren Ecke Bruchfeld Aufstellung genommen hatte. Als sie ihn von weitem wahrnahm, schrak sie merklich zusammen und wollte offenbar eine andere Richtung einschlagen. Aber sie besann sich und ging schnell auf ihn zu. Sie trug einen dunklen, leicht mit Pelz verbrämten Überwurf; ein lichtgraues, fast weißes Hütchen, mit schwarzem Sammet und einer kleinen Feder geputzt, stand ihr reizend zu Gesicht, das überraschend frisch und rosig aussah.

»Sie hier, lieber Freund!« sagte sie hastig und sichtlich befangen. »Ich hatte kaum mehr erwartet, daß Sie – – Aber verzeihen Sie! Ich habe heute keine Zeit, mit Ihnen zu plaudern. Ich muß gleich zu den Eltern. Papas Zustand hat sich sehr verschlimmert. Es soll ein neuer Arzt konsultiert werden – er wird gerade um diese Stunde erwartet. Und ich möchte doch dabei sein –«

»O das ist sehr begreiflich«, erwiderte er. »Auch bin ich ja nur gekommen, weil Sie – die Güte hatten, mir Ihr Bild ....«

»Ach ja, das Bild! Das hab' ich noch nicht. Das heißt – ich habe es nicht bei mir. Eigentlich hat mich der Photograph im Stiche gelassen. Wenn Sie sich aber am nächsten Samstag – also in einer Woche – wieder einfinden wollen, so werden Sie es bekommen. Erwarten Sie mich aber nicht hier, wo man Sie bemerken könnte. Vielleicht dort oben in der Nähe der ersten Cottage-Häuser. Ich werde ganz gewiß kommen. Adieu!« Und damit bog sie in die Gasse ein und eilte fort.

Da stand er nun. Er hatte es ja gewollt und durfte sich nicht wundern, daß es so gekommen war. Endlich wandte auch er sich zum Gehen. Wohin sollte er nun? Er hatte zwar mit Bekannten einen Besuch der eben eröffneten Ausstellung im Künstlerhause verabredet. Aber man wollte erst um zwölf dort zusammentreffen, und jetzt war es kaum halb zehn. Er überließ sich also einem ziellosen Schlendergange, wobei er seinen Gedanken und Empfindungen nachhängen konnte. Er bog gleich bei der alten Linienkapelle links ab und nahm den Weg[154] durch die stille, zum Franz-Joseph-Bahnhof führende Straße. Endlich gelangte er an die Brigitta-Brücke. Diese würde ihn zu weit ab geführt haben, und er lenkte in das Gebiet der »Rossau« und des »Althans« ein. Wie lange schon hatte er dieses Gewirr von Gassen und Gäßchen nicht mehr betreten, davon sich einige noch ganz so ausnahmen, wie einst in seiner Jugend! Niedere, jetzt freilich schon dem Verfall nahe Häuser, unscheinbare Läden und Gewölbe, vernachlässigte Gastwirtschaften. Und hart daran, aus jüngster Zeit, unabsehbare Reihen hoher, schimmernder Bauten, die ganz neue Verkehrsadern bildeten und ungeahnte Durchblicke eröffneten. Dennoch wandelte man hier, wo kaum ein Wagen rasselte, und nur wenige Menschen zum Vorschein kamen, wie in fremder, vergessener und verschollener Ferne ....

Aber war das nicht Paula, die dort oben am oberen Ende der alten, langgestreckten Gasse, die er eben betreten hatte, am Arm eines Offiziers herangeschritten kam? Desselben jugendlich schlanken Offiziers, den er heute schon einmal wahrgenommen? O ja, sie war es; ihr weißes Hütchen schimmerte von weitem. Und das Paar, das sich offenbar hier sehr sicher fühlte, hielt sich – sie mit beredtem Augenaufschlag, er das Gesicht zu ihr hinabgeneigt – dicht und zärtlich aneinander geschmiegt.

Bruchfeld wußte nicht gleich, was er beginnen sollte. Die Gasse war sehr schmal; ein förmlicher Zusammenstoß schien unvermeidlich, wenn er nicht sofort umkehrte oder unter ein Haustor trat. Aber eh' er noch zu einem Entschlusse gekommen war, hatte ihn Paula schon erblickt. Sie erschrak derart, daß sie sich, totenblaß wie sie geworden war, an den Arm ihres Begleiters festklammern mußte. Dieser blickte sie betroffen an und ließ dann die Augen forschend vor sich hinschweifen; aber er gewahrte Bruchfeld nicht mehr. Der war bereits in einem kleinen, dürftigen Gasthause verschwunden, das er in nächster Nähe entdeckt hatte.

Drinnen zeigte sich außer einem Manne, der im »Schank«[155] hinter einem leeren Glase saß, nur der Wirt, ein Sammetmützcher auf dem Kopfe. Seine schläfrige Miene drückte Erstaunen über den Gast aus.

Bruchfeld begab sich in das anstoßende »Extrazimmer« und bestellte Wein. Dann setzte er sich mit dem Rücken gegen das Fenster. Er wollte die beiden, wofern sie ihren Weg fortsetzten, nicht vorüberkommen sehen.

So verweilte er eine halbe Stunde mit völlig erstarrten Lebensgeistern. Er fühlte und dachte nichts. Endlich bezahlte er den ungenossenen Wein, erhob sich und ging.

Er hatte noch nicht viele Schritte getan, als er auf einen Trödlerladen stieß, vor welchem neben anderen Gegenständen ein Spiegel ausgehängt war. Unwillkürlich blickte er hinein – und erschrak vor dem Bilde, das ihm entgegensah. Wie festgebannt blieb er stehen. Ja, dieses fleischige, verquollene Gesicht mit dem ergrauten Barte war das seine! Und die ganze Gestalt, wie gedrungen, wie hochschulterig nahm sie sich aus! In so voller, überzeugender Deutlichkeit hatte er noch nie sich selbst wahrgenommen. Und wie eine plötzliche Erleuchtung kam ihm der Ausspruch Schopenhauers in den Sinn:

»Jedes Gut will auf seinem eigenen Gebiet errungen sein. Liebe, Schönheit und Jugend werden nur wieder durch Liebe, Schönheit und Jugend gewonnen.«

Das sah er nun. Freilich traf dieser Satz nicht vollständig zu. Paula war den Jahren nach nicht mehr jung; älter, viel älter als der Offizier. Aber sie besaß den geheimnißvollen, unvergänglichen Reiz gewisser Frauen, deren Schönheit im Verfall sich fast noch verlockender erweist, als in der Blüte. Selbst als Matronen üben sie gefährlichen Zauber, den kein Mund zu verspötteln vermag. Er dachte an Ninon de l'Enclos. Wie viele Leidenschaften wird Paula noch erwecken! Und er – er war ein alter Mann, der eitel genug gewesen, zu glauben, daß man ihn noch lieben könne! –

Diese Erkenntnis, so beschämend sie auch war, hatte für ihn[156] doch etwas Erlösendes. Er fühlte, daß er an allem selbst schuld gewesen, und während er jetzt langsam der Stadt zuschritt, wurde ihm immer leichter, immer freier zumute. So traf er mit fast heiterer Seele im Künstlerhause ein, gab sich mit Aufmerksamkeit der Betrachtung der Gemälde hin, speiste dann mit den Freunden in einem bekannten Restaurant – und abends folgte er einer Einladung in die Oper, wo ein neues Ballett zur Aufführung gelangte. Aber der Anblick der vielen weiblichen Gestalten auf der Bühne bedrückte ihn. Er mußte wieder an Paula denken, und plötzlich fand er, daß ihr eine der jungen Ballerinen oberflächlich ähnlich sah. Der Schmerz erwachte wieder in ihm und trieb ihn fort, ehe noch der zweite Akt zu Ende gespielt war.

Als er nach Hause kam, händigte ihm der Portier ein Briefchen ein. Eine Dame habe es in der Dunkelheit überbracht und die Bestellung dringend ans Herz gelegt.

Bruchfeld ahnte, von wem es war. Mit klopfendem Herzen steckte er es zu sich, und als in seinem Zimmer die Lichter brannten, erbrach er es. Seine Hand zitterte dabei heftig – wie schwach war er noch! In seltsam geschlungenen und gezwungenen Schriftzügen las er jetzt folgendes:


»Mein einzig geliebter Freund! Verurteilen Sie mich nicht, bevor Sie mich gehört. Der Schein ist gegen mich – aber ich bin schuldlos. Es wird Ihnen alles klar werden, wenn Sie sich, wie schon verabredet, nächsten Dienstag oder Mittwoch an dem bezeichneten Orte einfinden. Ich beschwöre Sie, zu kommen. Ohne Ihre Achtung könnte ich nicht leben – mit Ihrer Verachtung noch weniger. Es hat nie jemand anderen geliebt als Sie

Ihre unglückselige

alte Freundin.«


Er warf das Blättchen auf den Tisch. Lüge! Lächerliche, abgeschmackte Lüge! Und doch, wenn es wahr wäre! Wenn sie ..... Ein plötzliches Wonnegefühl tauchte bei diesem Gedanken[157] in seiner Brust empor. Unsinn! Lüge! Abscheuliche, plumpe Lüge, um ihn nunmehr an sich zu locken, seinen Verstand zu umnebeln, ihm den Mund, der ein Geheimnis verraten konnte, mit ihren Lippen zu versiegeln! O sie wußte, daß es ihr gelingen würde, wenn er sich beikommen ließ, ihrem Rufe zu folgen! Er wäre dann für immer der Narr, der Sklave dieses Weibes! Unwillkürlich dachte er an ihren Mann. Welch eine Ehe war das!

Aber wird sie ihn nicht unter allen Umständen zu finden wissen? Sie empfand, das erkannte er, bei aller Verderbtheit Scham und Angst vor ihm; ihrer Ruhe, ihrer Sicherheit willen mußte sie ihn jetzt um jeden Preis wieder zu gewinnen trachten. Daher durfte er auch nicht länger hier verweilen: er mußte fort – sogleich fort.

Schon am nächsten Tage traf er alle Anstalten. Seine Hausgenossen waren sehr verwundert über diese plötzliche Eile und suchten ihn noch hinzuhalten. Er aber erklärte, er dürfe nicht länger zögern, da er ja nicht gerade bei strengstem Winter in Florenz eintreffen wolle. So ließ man ihn denn gewähren. Es war ihm gelungen, die bindendste seiner Verpflichtungen in guter Art zu lösen; alles andere ließ er auf sich beruhen, denn Gefahr war im Verzuge.

Als er nach dem Bahnhofe fuhr, fiel der erste Schnee vom abendlichen Himmel nieder.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 10, Leipzig [1908], S. 151-158.
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