III.

[102] »Die Geschichte ist nicht zu Ende«, sagte ich, da der Doktor eine Pause eintreten ließ.

»Gewiß nicht; es würde ja sonst die Pointe fehlen. Also hören Sie nur weiter.

Ich gestehe, daß mich der Selbstmord des Brauers zwar überrascht, aber nicht besonders befremdet oder erschüttert hatte. Der Mann war jedenfalls psychopathisch veranlagt, wie sich denn bei der Sektion die Gehirnhäute ungemein verdickt und stellenweise mit der Schädeldecke verwachsen zeigten. Welche Martern wären ihm, welche Martern der Frau und nun gar dem Kinde noch bevorgestanden, wenn dieses nicht bald genug deutliche Merkmale seiner rechtmäßigen Abstammung würde zur Schau getragen haben. Ich hielt also das Ereignis weit eher für einen Glücks- als für einen Trauerfall und verwunderte mich gar nicht, daß die Witwe keinen sonderlichen Schmerz an den Tag legte, sondern sich mehr mit der Sorge zu beschäftigen schien, wie sich nunmehr die Verhältnisse für sie gestalten würden. Es zeigte sich, daß der Brauer einiges Vermögen hinterlassen hatte, das natürlich dem Kinde und somit auch fürs erste ihr zufiel. Da sie nun vollständige Freiheit der Bewegung besaß, kündigte sie den Pachtvertrag und siedelte nach Wischau über. Dort lebten nähere Anverwandte von ihr, die sie jedoch niemals hatte besuchen dürfen, wie auch ihr selbst jeder Empfang verwehrt gewesen. Nach beendetem Trauerjahr verheiratete sie sich mit einem dortigen Gastwirt. Von ihren späteren[102] Schicksalen aber hatte ich um so weniger etwas erfahren, als nicht lange darauf meine Berufung als Werksarzt hierher erfolgte.

Da geschah es nach Ablauf von vollen zwanzig Jahren, daß ich mich für kurze Zeit nach Wien begeben mußte. Ich nahm Absteigequartier in der Weintraube, einem kleinen, aber vielbesuchten Hotel auf der Wieden, das meinen Verhältnissen angemessen und überdies für meine Zwecke sehr bequem gelegen war. Tagsüber von Geschäften in Anspruch genommen, besuchte ich abends öffentliche Vergnügungsorte, vor allem die Theater, und nahm dann das Nachtmahl im Hotel ein, in dessen Speiselokalitäten auch zahlreiche auswärtige Gäste erschienen. In einem kleineren Zimmer, wo ich gewöhnlich Platz nahm, befand sich ein sogenannter Stammtisch, an dem eine Gesellschaft älterer Herren zu erblicken war. Dem Aussehen nach Beamte und Geschäftsleute aus der Umgegend. In diesem ziemlich lauten Kreise fiel ein Mann in Uniform besonders auf. Es war ein Finanzwache-Kommissär, der sich sehr selbstgefällig auf den Offizier hinausspielte. Wie eitel er sein mußte, erkannte man sofort an der Geschniegeltheit seines Äußeren und an der Art, wie er mit seiner gepflegten, am kleinen Finger stark beringten Hand den Schnurrbart zwirbelte. Er führte stets das laute Wort und schien überhaupt das unterhaltende Element der Gesellschaft zu sein. Die Tischgespräche drehten sich wohl auch um politische und andere Tagesereignisse, lenkten aber, wie dies im Kreise alternder Männer nicht selten der Fall zu sein pflegt, sehr bald in ein nicht allzu lauteres Fahrwasser ein, auf welchem der Herr Finanzwache-Kommissär besonders gerne segelte. Trotz einer sehr in die Augen fallenden Glatze schien er noch immer auf Abenteuer aus zu sein. Jedenfalls hatte er zahlreiche hinter sich und gab sie auch, mehr oder minder verschleiert, dem aufmerksamen Auditorium mit sichtlicher Vorliebe zum besten.

Am Abend vor meiner Abreise war ich sehr spät erschienen. Alle Gäste hatten sich schon entfernt, nur die Tischgesellschaft fand ich noch fröhlich beisammen. Ich saß nun ganz allein in[103] einer Ecke und konnte, da man sich drüben nicht den geringsten Zwang auferlegte, jedes Wort der Unterhaltung vernehmen, bei welcher sich die hohe Stimmlage des Herrn Kommissärs wieder so recht geltend machte.

›Glauben Sie mir, meine Herren‹, hörte ich ihn sagen, ›wir haben eine viel zu ideale Vorstellung von dem Wesen der Frauen, vor allem aber von der sogenannten weiblichen Tugend. Ich kann Sie nur versichern, daß es mit dieser nicht viel besser bestellt ist als mit der männlichen – ja in vielen Fällen noch weit schlimmer, so daß man gar keine Ahnung davon hat, was in dieser Hinsicht einer Frau alles zuzutrauen ist. Ich könnte Ihnen da ein Erlebnis aus meinen jungen Jahren erzählen, das Ihnen ganz unglaublich erscheinen wird – und doch beruht es buchstäblich auf Wahrheit.‹

Da er nun selbstverständlich dringend aufgefordert wurde, fuhr er fort:

›Es war zu Anfang der Sechzigerjahre. Ich hatte mich schon längere Zeit hindurch in einer sehr fatalen Lage befunden. Ich war nämlich, wie ich heute mit einiger Beschämung gestehen muß, kein sehr fleißiger Student gewesen, war bei der Matura durchgefallen, und nachdem ich mich in verschiedenen Berufszweigen ohne besondere Vorliebe versucht hatte, trat ich endlich zu Brünn, das, wie Sie wissen, meine Vaterstadt ist, in die Finanzwache, wo sich mir, da ich doch immerhin Kenntnisse genug besaß, Aussichten zu eröffnen schienen. Gleich bei meiner Aufnahme wurde ich zu einer Abteilung versetzt, die auf dem platten Lande detachiert war. Mein erster Dienst bestand darin, einen alten, griesgrämigen Aufseher nach einem kleinen Dorfe zu begleiten, wo sich ein Bräuhaus befand. Eine miserable, baufällige Kaluppe, deren ganzer Betrieb sich auf ein paar lumpige Pfannen belief. Es war gar nicht der Mühe wert, hinzugehen; man hätte dem Brauer ruhig freie Hand lassen können. Den aber hätten Sie sehen sollen, meine Herren! Ein wahres Monstrum, sage ich Ihnen, das man in einer Jahrmarktsbude[104] hätte ausstellen können; sein Wanst mochte allein einen halben Zentner gewogen haben. Und dieser unförmliche Talgriese, schon in den Vierzigern, hatte ein junges, schlankes Weib, das an Schönheit seinesgleichen suchte. Eine Blondine mit großen blauen Augen, die unter langen Wimpern hervorschmachteten. Ich hatte schon damals einen scharfen Blick für alles Weibliche und was damit zusammenhängt, erkannte daher sofort, daß sie in wenig glücklicher Ehe lebe. Da kann geholfen werden, dachte ich und suchte gleich meine Netze für diese holde Turteltaube aufzurichten. Aber ich hatte die Rechnung ohne das Mastodon gemacht, an das sie gekettet war. Der Brauer war nämlich eifersüchtig wie ein Türke und hielt seine Frau hinter Schloß und Riegel. Man konnte sie nur jeweilig am Fenster wahrnehmen. Obgleich ich nun merkte, daß sie sich gerne sehen ließ, so zog sie sich doch, wenn ich mit Blicken oder Zeichen nach einer Anknüpfung suchte, gleich wieder zurück, sie wußte sich offenbar beobachtet. Denn da war auch ein Küfer, der aussah wie ein alter Ziegenbock und, wahrscheinlich im Auftrage, stets um das Wohnhaus herumschlich, wenn sich der Brauer nicht drinnen befand. So war denn der Liebe Müh' umsonst. Aber gerade dadurch wurde meine Sehnsucht nach dem reizenden Weibe jeden Tag stärker. Ich fühlte mich schon ganz elend, Essen und Trinken mundete mir nicht, und nachts wälzte ich mich schlaflos hin und her, während mein Kollege, der auf das schlechte Bier, das er sich weidlich schmecken ließ, immer noch einige Schnäpse aufsetzte, wie eine Sägemühle schnarchte.

Da geschah es gerade in der Zeit, da das Gebräu schon eingelagert war und wir am nächsten Tage bei unserer Abteilung einrücken sollten, daß der Brauer irgendeine Berufung erhielt, die ihn zwang, eine Nacht fernzubleiben. Als ich das vernahm, war auch sofort mein Plan gefaßt. Das Wohnhaus grenzte dicht an einen ausgedehnten Garten. Vor einem Seitenfenster der ehelichen Schlafstube, die ich schon ausgekundschaftet hatte, ragte ein ziemlich hoher Birnbaum auf.[105] Diesen Baum wollte ich bei einbrechender Nacht besteigen. Denn ich war überzeugt, daß sich, sobald ich mich irgendwie würde bemerkbar gemacht haben, das Fenster öffnen werde – und dann konnte ich, gewandt, wie ich damals war, mit einem kühnen Schwunge oder Sprunge in das Zimmer gelangen.

Es war eine rauhe Spätherbstnacht und insofern dem Unternehmen günstig, als vollständige Dunkelheit herrschte. Aber gerade diese Dunkelheit erschwerte es mir auch, mich in der Krone des Baumes erkennbar zu machen; zudem sauste ein scharfer Nordwind und drohte jedes leisere Geräusch, mit dem ich mich allenfalls ankündigen konnte, zu verschlingen. Dennoch erkletterte ich, als mir die richtige Zeit gekommen schien und ich das Fenster erleuchtet sah, den Baum. Hinter den Scheiben befand sich ein Vorhang, der aber nicht vollständig schloß; die Stelle, die er frei ließ, war groß genug, um mir Einblick zu gewähren. Was ich nun vor Augen hatte, entzieht sich der näheren Schilderung, meine Herren. Das schöne Weib, dessen blondes Haar, vom gewohnten Kopftuch befreit, in losen Flechten herabfiel, war eben daran, sich langsam zu entkleiden. In regungsloser Spannung stand ich zwischen den Ästen, mein Herz jedoch pochte wie ein Hammerwerk. Nun galt es aber, mich bemerklich machen, doch wie? Alles Lärmende, das möglicherweise erschrecken konnte, mußte vermieden werden. Ich brach also einen längeren dürren Zweig, um damit sacht, aber vernehmlich in kleinen Zwischenpausen an die Scheiben zu tippen. In diesem Augenblicke öffnete sich im Zimmer die Tür – und der Alte mit dem Bocksgesicht kam hereingehüpft. Und, ohne die Mütze abzunehmen, gerade auf die Frau los, die halb entblößt dastand, um sie – es war wie ein Blendwerk der Hölle – zu umarmen und zu küssen. Sie machte zwar eine Armbewegung, um ihn abzuwehren, aber sie ließ sich doch von ihm weiter seitwärts ins Zimmer hineindrängen, so daß ich jetzt nichts mehr sah als undeutliche Schatten an der Wand ....

Meine Situation können Sie sich vorstellen, meine Herren![106] Ich war außer mir vor Wut und wollte schon das Fenster einschlagen, um mit Gewalt ins Zimmer zu dringen; aber ich hielt an mich, denn ich fühlte mich auch vor mir selbst beschämt, und glitt lautlos auf den Boden hinab. Dort raffte ich eine Handvoll Sand zu einem kräftigen Wurf nach den Scheiben auf; denn ihren Schrecken sollten die Sünder doch haben.

Schlafen konnte ich begreiflicherweise nicht und wälzte noch allerlei unsinnige Entschlüsse im Kopf herum, die ich am Morgen wieder fallenließ. Als uns aber beim Abzuge der Küfer mit sichtlich verstörter Fratze gerade noch in den Wurf kam, versetzte ich ihm einen Rippenstoß, daß er an die Wand taumelte, und raunte ihm zu: »Ich weiß alles, du alter Schurke!«

Nun wird das Pärchen doch in beständiger Angst leben, dachte ich, und später wandelte mich auch noch die Lust an, dem Brauer irgendeine anonyme Mitteilung zukommen zu lassen. Aber ich tat es nicht und fand schließlich eine gewisse Befriedigung bei dem Gedanken, daß der ausbündige Großtürke von seinem Eunuchen – obwohl diese Bezeichnung im eigentlichen Sinne hier nicht zutraf – gehörnt werde.‹«


* * *


»Also der Brauer hatte doch recht mit dem Kinde«, sagte ich, als der Doktor schwieg.

»Nein, er hatte nicht recht. Und das ist ja das punctum saliens der Geschichte. Das Kind war wirklich das seine. Darüber habe ich im vorigen Jahre vollständige Gewißheit erlangt.«

Ich blickte ihn verwundert an.

»Sehen Sie, ich bin ein großer Obstfreund. In unserer Gegend gedeiht nicht viel Gutes, und so pflege ich meine Einkäufe gelegentlich auf dem Brünner Markte zu machen. Das geschah auch einmal im verflossenen Sommer, gerade zur Zeit der Melonen, von denen ich ein besonderer Liebhaber bin. Wie ich mich nun auf dem weiten, herrlich von Blumen und Früchten durchdufteten Platz umsehe, gewahre ich eine Händlerin,[107] deren Äußeres eine solche Ähnlichkeit mit dem des Brauers hat, daß ich glaube, er sitze, beiläufig um ein Drittel verkleinert, in Weiberkleidern da. Ich gehe auf die Händlerin zu, die sich in der Nähe weit jünger ausnimmt als vom weiten, und frage: ›Na, Frauchen, haben Sie schöne Melonen?‹

›Freilich‹, erwiderte sie mit gequetschter, gleichsam in Fett erstickender Stimme. ›Sie sehen sie ja. Sind aus Wischau.‹

›Aus Wischau? Sie beziehen sie also von dort?‹

›Wir ziehen sie selbst. Mein Mann ist Handelsgärtner, und um die Zwischenhändler zu ersparen, hab' ich mir die Erlaubnis verschafft, viermal die Woche hier meinen Stand aufzuschlagen.‹

Sie war offenbar eine gute Seele, die sich mit den Käufern gern in ein Gespräch einließ. ›Haben Sie Kinder?‹ fuhr ich fort.

›Natürlich. Drei Stück.‹

›Und was machen denn die, wenn Sie so oft vom Hause weg sind?‹

›Auf die Kinder gibt die Mutter acht. Sie hat ein Wirtsgeschäft.‹

›Und führt sie das allein?‹

›Mit ihrem zweiten Mann. Von dem hat sie aber keine Kinder.‹

›Sie sind also aus erster Ehe?‹

Das fortgesetzte Verhör schien sie nun doch schon zu befremden. ›Freilich‹ versetzte sie etwas barsch. ›Warum fragen Sie denn?‹

›Weil ich glaube, daß ich Ihren Vater gekannt habe. War der nicht ein Brauer?‹

›Ja, in Habrovan. Und dort bin ich auch geboren. Aber kaufen Sie Melonen?‹«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 11, Leipzig [1908], S. 102-108.
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