1.

I.

[69] Zu Anfang der siebziger Jahre war es, daß ich, von einem Spaziergang nach Hause zurückgekehrt, eine Visitenkarte vorfand. Der Offizier, hieß es, der sie abgegeben, würde in einer Stunde wieder nachsehen. Ich war darüber nicht sonderlich erfreut,[69] obgleich mir der Hauptmann Sandek – so stand auf der Karte – einst als Leutnant befreundet gewesen. Er war auch damals eine sympathische Persönlichkeit. Achtzehn Jahre alt, war er aus einer Militärbildungsanstalt ins Regiment gekommen, wo er durch die harmonische Frische und Unbefangenheit seines Wesens gleich alles für sich einnahm. Auch geistige Fähigkeiten schien er zu besitzen; wenigstens legte er eine große Lern- und Wißbegierde an den Tag. Ich konnte ihm, als wir einander näher traten, nicht genug Bücher zum Lesen geben oder anempfehlen. Aber es zeigte sich bald, daß er sie nicht verstand, und die unausgesetzten, oft recht abgeschmackten Fragen, die er über Inhalt und Tendenz an mich richtete, wurden mir um so ärgerlicher, als er dabei doch immer seine eigene verschrobene Meinung aufrecht halten wollte. Dennoch blieben unsere Beziehungen gute, da er ja sonst ein vortrefflicher Mensch und liebenswürdiger Kamerad war.

Da fügte es sich, daß er auserkoren wurde, dem Sohne eines hohen Generals Unterricht in einigen militärischen Gegenständen zu erteilen. Der junge Herr war im Lernen stark zurückgeblieben, so daß er auf das akademische Studium, zu dem man ihn anfänglich bestimmt hatte, verzichten mußte. Es galt also jetzt, ihm die nötigen Vorkenntnisse zum Eintritt in die Armee beizubringen. Sein Vater, der General, besah eine Frau, die immer als große Schönheit gegolten hatte und es gewissermaßen auch jetzt noch war. Wie allgemein bekannt, hatte sie es mit der ehelichen Treue niemals sehr ernst genommen, und es hieß, daß der jeweilige Adjutant ihres Gemahls auch immer ihr jeweiliger Liebhaber gewesen sei. Das mochte auf Übertreibung beruhen, gewiß aber war, daß sich Zwischen ihr und dem blutjungen Offizier ein Verhältnis entspann, das für diesen verderbliche Folgen hatte. Denn durch die falsche und verlogene Stellung, die er dem Gatten sowohl wie dem heranwachsenden Sohne gegenüber einnahm, wurde sein lauterer, bis dahin jünglinghaft unschuldiger Charakter im tiefsten geschädigt.[70] Dazu kam noch, daß er sich durch dieses Verhältnis in eine vornehmere gesellschaftliche Sphäre erhoben fühlte, wobei die Eitelkeit, die vielleicht seit jeher in ihm latent gewesen, mehr und mehr entbunden wurde. Er nahm gezierte Allüren an und bildete sich im Laufe einiger Jahre bei verschiedenen Garnisonswechseln zu einem schmachtenden, aber auch gewissenlosen Lovelace aus, der mit dem Ehebruch einen ganz offenkundigen Kultus trieb. Er sagte jedem, der es hören wollte, daß man nur in Beziehungen zu einer verheirateten Frau die Liebe wirklich kennen lerne; wie denn auch erst die reife und erfahrene Frau das eigentliche Weib sei. Mit Mädchen, die er insgesamt Backfische oder noch schlimmer Gänse nannte, wollte er nichts zu tun haben. Da er jetzt immer nur in höheren Kreisen zu verkehren trachtete, entfremdete er sich auch allmählich seinen Kameraden, so daß der Abschied, den wir bei meinem Scheiden aus dem Regiment voneinander nahmen, ein ziemlich kühler war ....

Und nun trat er nach mehr als einem Jahrzehnt bei mir ein. Fast unverändert. Derselbe schlanke und geschmeidige Wuchs, der ihn immer ausgezeichnet. Das blonde, leicht gelockte Haar noch immer dicht; nur die sein geschnittenen Züge des hell schimmernden Gesichtes erschienen schlaffer, und um die Augen, die in ihrem etwas starren Glanze an dunkle Amethyste erinnerten, zeigten sich feine Fältchen. Er verbeugte sich nachlässig graziös und streckte mir dann die Hand entgegen.

»Verzeih, wenn ich dich etwa störe«, sagte er. »Aber da mich der Zufall heute in deine Nähe gebracht hat, so konnte ich dem Antrieb nicht widerstehen, dich aufzusuchen.«

»Freut mich sehr«, erwiderte ich, »Aber wie wußtest du –«

»Daß du hier wohnst? Nun, derlei erfährt man eben. Ich bin ja schon ein halbes Jahr in Wien – als Frequentant des Stabsoffizierskurses.«

»Du bist also schon so weit! Ich gratuliere.«

»Danke«, erwiderte er etwas zerstreut, indem er mit der[71] Hand über die Stirn fuhr. »Die Sache ist nicht leicht durchzuführen. Man stellt jetzt ganz unerhörte Anforderungen, und in gewissen Jahren nimmt die Lernfähigkeit ab. Aber wie geht es dir?« fuhr er ablenkend fort, indem er den Blick musternd über die ziemlich kahlen Wände meines Zimmers schweifen ließ.

»So, so – den Umständen angemessen.«

»Nun ja, es ist nicht leicht, sich in einem neuen Berufe – – Aber eine sehr schöne Aussicht scheinst du hier zu haben«, unterbrach er sich, stand auf und trat an ein Fenster.

Die Fernsicht, die ich damals in meiner hochgelegenen Wohnung hatte, war wirklich sehr schön. Ich konnte über eine weite Flucht von Gärten hinweg auf die ragenden Türme und Kuppeln der Stadt blicken. Es war eben Frühlingsanfang, und ein weißes, hier und dort von zartem Rot durchschimmertes Blütenmeer lag vor uns.

»Herrlich!« rief er aus. »Ich beneide dich. Ich selbst habe in meiner Stadtwohnung nichts anderes vor mir, als eine trostlose Reihe von Fenstern und Dächern.«

Wir setzten uns wieder und begannen von vergangenen Zeiten zu sprechen. Er zeigte sich dabei unruhig und zerstreut. Nach einer Weile trat er wieder ans Fenster und blickte gespannt hinaus. Zurückgekehrt nahm er den Faden des Gespräches wieder auf, spielte aber in nervöser Hast mit der Quaste seines Säbels, den er nicht abgelegt hatte. Sehr bald stand er wieder aus und schien nun etwas Erwartetes zu erblicken, denn ein Zug von Befriedigung trat in sein Antlitz.

»Jetzt muß ich dich verlassen, lieber Freund«, sagte er. »Ich bin nämlich nicht allein in diese Gegend gekommen, sondern mit Bekannten, die hier für den Sommer eine Villa gemietet haben. Ich werde dort ein häufiger Gast sein und mir also erlauben, dich manchmal zu besuchen.« Er langte nach seiner Mütze.

»Wird mir ein Vergnügen sein. Nur bitte ich: nicht vor fünf Uhr nachmittags. Denn bis dahin bin ich immer beschäftigt.«[72]

»Ganz mein Fall«, erwiderte er. »Du glaubst gar nicht, wie sehr ich angestrengt bin. Heute habe ich mir eine Ausnahme gestattet und kann das Versäumte nur hereinbringen, indem ich die Nacht hindurch büffle. Also leb' wohl, auf Wiedersehen!« Er ging, von mir hinausbegleitet.

Einigermaßen getröstet, kehrte ich in mein Zimmer zurück. Er hatte also Bekannte, die im Sommer hier wohnen werden. Wahrscheinlich in meiner Nähe. Darum hatte er auch mit so gespannter Aufmerksamkeit durchs Fenster geblickt. Jedenfalls eine Verabredung. Wohl mit einer Dame. Denn er hatte sich in dieser Hinsicht gewiß ebensowenig verändert wie in seinem Äußeren. Immerhin. Was kümmerte es mich? Wenn er mich nur nicht allzu oft aufsuchte. Aber er hatte selbst gesagt, daß er sehr angestrengt sei – und hin und wieder mochte er ja kommen ...

Er kam auch nicht so bald. Ich aber mußte ihm artigkeitshalber doch einen Gegenbesuch machen. Als ich wieder einmal in der Stadt zu tun hatte, wollte ich mich dieser Pflicht entledigen. Auf seiner Karte stand die Adresse. Er wohnte in Mariahilf, in der Nähe der Stiftskaserne. Nun denn: so gegen Mittag stieg ich dort drei Treppen empor, in der Hoffnung, ihn nicht anzutreffen und mit einem Kartenabwurf davonzukommen. Aber er war zu Hause. Sein Bursche sagte, der Herr sei eben im Umkleiden begriffen; aber ich möchte nur eintreten und ein wenig warten. Ich betrat also das geräumige Zimmer, in das mich der Diener geführt. Es war ein ganz hübsches Garçoninterieur. Nicht viele Möbel, aber eine bequeme Ottomane. Spiegel und ein paar gute Kupferstiche an den Wänden. Neben einem Bücherregal ein zierlicher Schreibtisch. Und aus diesem, neben allerlei Nippes, die Kabinettphotographie einer Dame. Diese Dame mußte ich kennen. Ich entsann mich auch bald, daß ich sie vor Jahren oft gesehen hatte, ohne zu wissen, wer sie war. Auch heute wußte ich es nicht. Aber sie war mir im Laufe einiger Wintermonate fast[73] täglich auf einem Morgengange begegnet, den ich über den damals noch bestehenden Teil des alten Glacis unternahm. Sie machte den Eindruck einer verheirateten Frau, befand dich jedoch immer in Begleitung eines Herrn, der zu den bedeutendsten Schriftstellern jener Tage zählte. Seine geistvollen Essays, seine scharfen Theaterkritiken wurden immer mit Spannung erwartet und mit andächtigem Eifer gelesen. Aber er schrieb im ganzen wenig, und die Zeitungen hatten oft Mühe, etwas von ihm herauszubekommen. Denn er wollte sich nicht binden und war, da er einiges Vermögen besaß, nicht eigentlich auf literarischen Erwerb angewiesen. Im übrigen galt er als weltmännischer Sonderling, der ab und zu in den Wiener Salons auftauchte und wieder verschwand. In letzterer Zeit hieß es, daß er in näheren Beziehungen zu einer jungen, ebenso schönen wie geistvollen Schauspielerin stehe; man sprach sogar von einer Verlobung. Eine stadtbekannte Persönlichkeit, fiel er schon durch seine äußere Erscheinung eigentümlich auf Schlank und hager, hielt er sich im Gehen stark vornüber geneigt, so daß er etwas gebrechlich aussah. Sein Antlitz mahnte an das des Sokrates und erschien beim ersten Anblick häßlich. Sah man aber näher zu, so traten sehr feine und charakteristische Züge hervor, besonders die außerordentliche Klarheit und Leuchtkraft seiner tiefliegenden grauen Augen. Auch seine Begleiterin war nicht schön. Eher klein als groß, hatte ihre Gestalt etwas Gedrungenes, Gestauchtes. Aber ihre Gliederbewegungen waren von anmutiger Energie, wie sich auch in ihrem blassen Antlitz, aus dem große dunkle Augen blitzten, ungemeine Willenskraft ausdrückte. Da die beiden, die sich hier offenbar zu einem gemeinsamen Spaziergang zusammenfanden, immer in sehr lebhaftem Gespräch begriffen waren, so konnte ich auch wahrnehmen, daß die Dame prachtvolle Zähne besaß.

Und nun hatte ich ihr Porträt vor mir. Sie zeigte sich darauf einigermaßen gealtert, und der Ausdruck von Willenskraft trat schärfer hervor. Daß das Bild auf dem Schreibtische[74] Sandeks stand, gab mir zu denken. Jedenfalls wies es auf nähere Bekanntschaft hin.

Aber da trat er schon selbst aus der geschlossen gewesenen Seitentür. Sehr sorgfältig gekleidet, von einem leichten Hauch seinen Parfüms umweht.

»Verzeih',« sagte er, mir die weibisch gepflegte weiße Hand entgegenstreckend, »verzeih', daß ich dich habe warten lassen. Ich mußte mich ankleiden. Leider werde ich mich auch nicht lange deiner angenehmen Gegenwart erfreuen können, denn ich habe etwas sehr Wichtiges vor.«

»Laß dich nicht stören«, warf ich ein. »Ich bin ja fürs erste nur gekommen, deinen Besuch zu erwidern. Wir werden uns wohl noch öfter sehen.«

»Gewiß, gewiß. Aber nimm doch Platz und rauchen wir wenigstens eine Zigarette.« Er langte nach einer Schachtel, die auf dem Rauchtischchen stand.

»Ich danke. Du hast Eile – und ich selbst habe noch einiges zu tun –«

»Nun denn, aufs nächstemal. Wir können gleich zusammen fortgehen.«

Er rief seinen Diener, der ihm Säbel und Mütze reichte. Dann schritten wir die Treppe hinunter. »Gehst du nach der Stadt?« fragte er unten.

»Ja.«

»Mein Weg führt mich nach einer anderen Richtung. Also auf baldiges Wiedersehen.«

Wir drückten einander die Hand und trennten uns.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 69-75.
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