IV.

[90] Jahre waren verflossen. Ich befand mich in Steiermark und hatte mich bestimmen lassen, dort eine Kuranstalt aufzusuchen, die auf halber Alpenhöhe lag und sich eines weitverbreiteten Rufes erfreute. Ein berühmter Arzt, einer der ersten, die das Naturheilverfahren in Schwung, gebracht, leitete sie. Als ich eintraf, neigte die Saison bereits dem Ende zu. Es hatte den Tag über in Strömen geregnet; tiefhängende graue Nebelschleier verhüllten die ganze Gegend. Ich war im Kurhause abgestiegen, und die ungewohnten, mit Petroleumlampen[90] – elektrisches Licht gab es damals noch nicht – düster beleuchteten Räumlichkeiten hatten für mich etwas Unheimliches, Niederdrückendes. Auch die nicht sehr zahlreichen Kurgäste, die eben an der aus Milch und Schrotbrot bestehenden Abendtafel saßen, waren nicht sonderlich anziehend. Einen wahren Schrecken aber empfand ich, als ich unter ihnen einen Mann gewahr wurde, den ich lieber zu allen Teufeln gewünscht hätte. Es war dies ein wohlhabender Müßiggänger, der sich auf den Dichter hinausspielte und an jeden Schriftsteller herandrängte, wobei er allerdings die Maske großer Bescheidenheit vornahm. In Wahrheit aber strotzte er von Eigendünkel und glaubte mit seinen Novelletten und Gedichten, die er ab und zu in prächtiger Ausstattung erscheinen ließ, die Literatur zu bereichern. Im übrigen beschäftigte er sich mit gesellschaftlichem Tratsch, und da er in allen Kreisen verkehrte, so zeigte er sich auch mit der Wiener Skandalchronik aufs innigste vertraut. Hin und wieder konnte er ganz unterhaltend sein; aber den geschwätzigen und aufdringlichen Menschen einige Wochen hindurch beständig an der Seite zu haben, war eine trostlose Aussicht.

Er erhob sich auch sofort und eilte mir entgegen. »Sie hier, Hochverehrter!« – das Wort »Meister« war damals noch nicht gebräuchlich. »Welch freudige Überraschung! Allerdings muß ich gleichzeitig mein Bedauern aussprechen, da Sie doch nur ein körperliches Leiden hieherführen kann. Aber Ihr Aussehen ist vortrefflich – und so wird es nicht so arg sein. Im übrigen werden hier wahre Wunderkuren vollführt. Auch leben läßt es sich ganz angenehm, wenn man auch gewissermaßen auf Wasser und Brot gesetzt ist. Erlauben Sie, daß ich Sie gleich der Gesellschaft vorstelle!«

Er tat es mit großer Emphase, wobei ich wieder einmal die Genugtuung erlebte, daß die Leute von meinem Dasein keine Ahnung gehabt hatten und mich mit offenem Munde anglotzten. Ich verbiß meinen Ärger in ein paar Schinkenschnitte, die mir, da ich ja noch die Kur nicht angetreten hatte, ausnahmsweise[91] vorgesetzt wurden. Um das Maß voll zu machen, Zeigte sich, daß mein Kollege im Kurhause auch mein Ziemlich naher Zimmernachbar war. »Also auf Wiedersehen morgen früh in der Wandelhalle«, sagte er, als wir uns zurückzogen. »Das schlechte Wetter scheint anhalten zu wollen, und da ist all einen Gang ins Freie kaum zu denken. Sobald es wieder schön ist, werde ich Sie die herrlichsten Waldwege führen.«

In drei Tagen war es wirtlich schön geworden, und ich konnte seiner Begleitung nicht entgehen. Ich ließ sie mir auch insofern gefallen, als ich der Gegend unkundig war. Wir schritten anfänglich einen wohlerhaltenen Parkweg hinan, der die Anstalt mit den umliegenden, gleichfalls von Kurgästen bewohnten kleinen Villen vollständig überblicken ließ und eine immer weitere Rundsicht eröffnete, bis er endlich in ein felsiges Waldgebiet hineinführte. Wir hatten dieses kaum betreten, als uns zwei Gestalten entgegenkamen, die einen höchst malerischen Anblick darboten. Eine Frau und ein etwa sechsjähriges Mädchen. Beide trugen, wie dies hier nach der Morgenkur üblich war, die Haare aufgelöst. Die der Frau fielen in langen Strähnen hinab und umflossen sie wie ein dunkler Mantel; die des Kindes, von hellem Blond, umwallten das zarte, lichte Gesichtchen wie ein goldenes Vlies und waren kranzartig mit einem blühenden Genzianenzweig geschmückt, so daß die Kleine wie ein Elfchen aus dem Sommernachtstraum aussah, während die Mutter mit herben, finsteren Zügen an Lady Macbeth erinnerte.

Mein Begleiter lüftete den Hut zu ehrerbietig lächelndem Gruß, der von der Frau mit kurzem Kopfnicken erwidert wurde. Nachdem die beiden weit genug hinter uns waren, fragte er mit bedeutungsvollem Augenzwinkern: »Wissen Sie, wer die Dame ist?«

Ich verneinte, obgleich ich sie sofort erkannt hatte und mir die große Ähnlichkeit des Kindergesichtes mit dem Sandeks überraschend in die Augen gesprungen war. Er aber fuhr in seiner Weise frivol geheimnisvoll fort: »Die Hofrätin –« er[92] nannte den Namen. »Eine sehr bedeutende, geistvolle Frau, die ihrem Mann in jeder Hinsicht überlegen ist. Sie hat jahrelang mit« – er nannte wieder den Namen – »ein sehr intimes Verhältnis gehabt, das sich erst löste, als der schwarzgallige Lessing die blauäugige Undine vom Theater wegheiraten wollte. Diese aber hat sich ihm, das wissen Sie ja, wie schon vorher manchem anderen, mit ihrem glatten Fischleib im letzten Augenblick entwunden. Und da hat auch der Herr wieder das Sprichwort bewahrheitet: on revient toujours ... Allerdings schon in etwas schadhaftem Zustande. Er hat ja immer an der Leber gelitten und scheint jetzt ganz und gar einzutrocknen. Erst kürzlich hat er die Dame, die schon sehr bald die Anstalt verläßt, hier besucht. Was aber die Kleine betrifft, die Sie jetzt gesehen haben, so kommt mir ihre Existenz etwas fragwürdig vor. Während des Interregnums soll ihrer Mama ein Offizier näher getreten sein. Ich will nichts behaupten – aber das Töchterchen sieht weder dem Hofrat noch seiner Gemahlin ähnlich« ...


* * *


Und nun saß dieses Töchterchen mit voll entwickeltem Frauenreiz mir gegenüber – an der Seite des jungen Modegelehrten aus der Schule Brandes' und Nietzsches. Es war ein gefährlicher Tischnachbar, der ihr da den feingeschnittenen orientalischen Kopf und die geistsprühenden Augen beständig zuwandte und sie mit dem Zauber seines Wortes zu umstricken schien. Schon manche der jungen und jüngsten Damen, die sich zu seinen Vorlesungen drängten, war, wie es hieß, diesem Zauber erlegen. Er aber wußte bis jetzt nur Hoffnungen zu erwecken – keine zu erfüllen.

Am anderen Ende der Tafel saß auch der Gemahl der blonden Frau, ein etwas aufgeschwemmt aussehender Baron mit eingeklemmtem Monokel. Er war zwischen zwei steife Standesdamen hineingeraten, mit denen er sich furchtbar zu langweilen schien. Er hielt sich jedoch am Menü schadlos und[93] trank sehr viel Champagner, der gleich von der Suppe an gereicht wurde.

Endlich tauchte man die Finger in die flachen Wasserschalen und begab sich in das anstoßende sehr geräumige Rauchzimmer, um den Kaffee zu nehmen. Auch dort wich der Beredte nicht von der Seite der jungen Frau, so daß ich mein Vorhaben, mich ihr zu nähern, aufgab. Ich zog mich in eine Ecke zurück und dachte wieder über die Verkettungen des Lebens nach. Was wohl mit der Mutter geschehen sein mochte? Und ob nicht vielleicht der Tochter ein ähnliches Los bevorstand? Die Männer, denen beiden sie gewissermaßen ihr Dasein verdankte, waren gestorben. Und die schöne, geistvolle Schauspielerin, die unbewußt mit in diese Wirrnisse verflochten gewesen, hatte bald darauf dennoch geheiratet. Einen damals sehr berühmten Bühnendichter. Aber die Ehe war keine glückliche und wurde bald getrennt. Ich warf den Rest der Havanna in den Aschenbecher und entfernte mich unbemerkt, während sich der Baron eben ein Gläschen Mandarin eingoß.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 90-94.
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