III.

[87] Der Sommer hatte seine Höhe erreicht. Die Rosen in den Gärten waren verblüht; duftlose, aber farbenprächtige Feuerlilien und Gladiolen standen in den Beeten, während das Grün[87] der Wipfel allmählich seinen Schimmer verlor. Von Sandek hatte ich kein Lebenszeichen mehr erhalten. Auch drüben hatte ich ihn nicht mehr wahrgenommen. Dort war es jetzt überhaupt leer und still geworden; man schien sich bereits in einer Sommerfrische zu befinden. Was aber war mit Sandek geschehen? Die theoretischen Prüfungen mußten doch schon vorüber sein; vielleicht hatte er sich zu den praktischen in irgendein Übungslager begeben. Oder er war schon zu seinem Regiment eingerückt. Daß er sich von mir nicht verabschiedet hatte, befremdete mich nicht. Denn es war bei seinem Wesen nur natürlich, daß er mich nach unserer letzten Unterredung vermied. Und doch war ich über sein Schicksal beunruhigt und mußte öfter an ihn denken. Endlich entschloß ich mich, dort nachzusehen, wo er gewohnt hatte; irgend jemand würde mir wohl Auskunft geben können. Beim Hausbesorger, wo ich nachfragen wollte, fand ich, wie das in Wien nicht selten der Fall ist, die Tür verschlossen; ich stieg also die drei Treppen empor und drückte an der betreffen den Klingel. Nachdem ich es wiederholt getan, wurde die gegenüber befindliche Tür zur Hälfte geöffnet, und ein alter Herr mit weißem Schnurrbart und freundlichen blauen Augen blickte heraus.

»Wen suchen Sie?« fragte er.

»Den Hauptmann Sandek.«

»Sie sind wohl ein Bekannter von ihm – und haben ihn längere Zeit nicht gesehen?«

»So ist es.«

Der stattliche Alte trat heraus. »Mein Name ist Wernhart, Oberst in Pension.«

Ich verbeugte mich und stellte mich gleichfalls vor.

»Nun dann–« er unterbrach sich. »Wollen Sie sich vielleicht einen Augenblick zu mir herein bemühen.« Er führte mich durch ein schmales Vorzimmer in ein behaglich eingerichtetes Gemach, dessen Fenster durch herabgelassene Jalousien gegen das Eindringen der Sonnenstrahlen geschützt waren. Er bat mich Platz zu nehmen und setzte sich mir vertraulich nahe.[88]

»Ich bin Witwer«, begann er, »und habe meine beiden Töchter – einen Sohn besitze ich leider nicht – ausgeheiratet. Da ich aber doch die mir lieb gewordene Wohnung nicht aufgeben mochte, vermiete ich seit Jahren die Hälfte an Offiziere der Kriegsschule. So hat auch der Hauptmann Sandek diesen Winter bei mir gewohnt, jetzt aber« – er dämpfte die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern – »befindet er sich im Lainzer Irrenhause.«

»Im Irrenhause –?«

»Leider. Das ist die Folge, wenn sich die Herren im Studieren allzuviel zumuten. Es hat nicht jeder die notwendige geistige Spannkraft. Und wenn man sie erzwingen will, so reibt man sich dabei auf. Ich hatte an dem Hauptmann schon zu Beginn des Frühlings bedenkliche Anzeichen wahrgenommen und ihm den freundschaftlichen Rat erteilt, sich nicht so sehr anzustrengen. Schließlich hängt ja nicht das Leben an dem goldenen Kragen. Aber der Ehrgeiz! Der Ehrgeiz! Man will doch den Anforderungen entsprechen, die heutzutage gestellt werden – und nicht etwa als Hauptmann in Pension gehen. Da war es zu meiner Zeit ganz anders. Man avancierte in der Tour, wenn auch natürlich die entsprechende Befähigung vorhanden sein mußte.«

»Ja – und seit wann –?«

»Ungefähr fünf Wochen ist es her, daß er plötzlich einen Anfall von Tobsucht bekam. Es war eine schreckliche Geschichte. Ich und sein Diener – sowie die Leute im Hause, wir wußten uns gar nicht zu helfen, bis man ihn endlich nach Lainz gebracht hatte. Bemühen Sie sich nicht etwa hinaus. Sie können ihn nicht sehen. Sein Zustand ist ein ganz hoffnungsloser. Die Ärzte sprechen von einer rasch fortschreitenden Paralyse.«

»Das ist höchst traurig –«

»Gewiß. Er war ein so prächtiger Mensch! Wenn ich nicht ganz irre,« fuhr der alte Herr flüsternd fort, indem er sich[89] die Hand vor den Mund hielt, »wenn ich nicht ganz irre, war auch eine Liebesgeschichte mit im Spiele.«

»So«, sagte ich, und erhob mich. »Ich danke Ihnen sehr, Herr Oberst, für Ihre gütigen Mitteilungen. Vielleicht darf ich Sie bitten, mir über den weiteren Verlauf ein paar Zeilen zukommen zu lassen.«

»O sehr gern«, erwiderte er, meine Karte in Empfang nehmend.

Wie unerbittlich sich menschliche Schicksale vollziehen! So sprach es in mir, während ich mich auf den Heimweg machte ...

Nach einiger Zeit – von dem Oberst hatte ich noch keine Nachricht erhalten – trat ich eine schon früher beabsichtigte kleine Rundreise durch Italien an. Als ich zurückkehrte, war es schon tief im Herbst. Unter den Briefen und Drucksachen, die ich auf meinem Schreibtische gehäuft vorfand, fiel mir auch ein schwarz gerändertes Parte ins Auge. Es zeigte an, daß der Hauptmann Robert Sandek nach schwerem Leiden an einer Gehirnlähmung verstorben war.

Das Ende ...

Ich trat ans Fenster. Öde, kahl und fahl lagen die Gärten vor mir. Ein rauher Nord, der düstere Wolken am Himmel trieb, fegte die letzten Blätter von den Bäumen.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 87-90.
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