Vorwort des Herausgebers.

[67] Auch mit dieser Novelle scheint sich Saar lange getragen zu haben. In seinem Nachlaß findet sich ein älteres Blättchen, das von einem Hauptmann Karl von B ... erzählt, der sich infolge einer Verwundung im Jahre 1859 in den Bureaudienst zurückziehen mußte und seit seinen jungen Jahren mit der ebenso schönen als verführerischen Frau eines angesehenen Mannes in einem leidenschaftlichen Verhältnis steht, während sie nebenbei noch andere Beziehungen unterhält und für die Mätresse eines Fürsten gilt ....

Die Handschrift ist datiert: »Blansko, im März 1905.« Sie stimmt in ihren älteren, später durchstrichenen Lesarten mit dem ersten Druck in der Osterbeilage der »Neuen Freien Presse« 1905 (Sonntag, 23. April, Nr. 14608) ziemlich genau überein; die wenigen Abweichungen und der Untertitel: »Eine Geschichte in Arabesken« (der in der Handschrift fehlt) gehen entweder auf eine Abschrift oder auf die Druckkorrektur zurück. Dieselbe Handschrift hat der Dichter, neuerdings durchkorrigiert, als Vorlage für den zweiten Druck in der »Tragik des Lebens« (Wien 1906, Seite 83–131) benützt, der daher mit ihren späteren Lesarten fast genau übereinstimmt. Im ganzen hat die Novelle nur wenig bedeutende Änderungen er fahren. Von Interesse ist, daß der Dichter in der zweiten Hälfte der Handschrift den Helden zweimal »Samek« (anstatt »Sandek«) nennt; an einer der beiden Stellen ist die falsche Namensform sogar noch im ersten Druck stehen geblieben.[67]


Die schlanke blonde Frau saß mir bei dem Diner gegenüber, fast verdeckt durch einen hohen Tafelaufsatz, hinter den ihr lichtes Antlitz mit den dunklen Amethystaugen nur selten zum Vorschein kam. Aber gleich im Empfangszimmer war mir dieses Antlitz ganz besonders aufgefallen. Bei der großen Anzahl der Geladenen fanden keine unmittelbaren Vorstellungen statt, und so wandte ich mich an einen Bekannten um Auskunft über die Dame, die eben mit einem jungen Modegelehrten in eifrigem Gespräche begriffen war. Was ich erfuhr, genügte mir, um zu wissen, an wen mich ihr Gesicht erinnert hatte – und daß ich sie selbst schon einmal als Kind gesehen. Während nun die zahlreichen Gänge gereicht wurden, hatte ich Zeit, um über allerlei Vergangenes nachzudenken. Meine beiden Tischnachbarinnen fanden mich daher sehr zerstreut und einsilbig, worüber sich auch die ältere von ihnen, die gern über Kunst sprach, ganz offen beschwerte. Mir aber gestaltete sich schon an jenem Abend die kleine Geschichte, die ich jetzt niederzuschreiben beginne.


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Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 67-69.
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