I.

[37] Eines Tages hatte ich ihn wieder in seiner einsamen Behausung aufgesucht. Wir sprachen wie gewöhnlich über das, was uns beiden am nächsten lag: über Literatur. Dabei kamen wir auch auf die schrankenlose Erotik, die sich im modernen Frauenschrifttum kundgibt.

»Ja,« sagte er mit leichtem Lächeln, »die Erscheinung ist verwunderlich. Ich halte sie auch keineswegs für ein wesentliches Substrat der Frauenemanzipation, die ja mit ihren ernsten Zielen gerade in jener Hinsicht Beruhigung und Ablenkung anstrebt. Ich glaube vielmehr, daß derlei ekstatische Ausbrüche, derlei stürmische Angriffe auf eine veraltete Moral, die das Weib am vollen ›Sichausleben‹ hindert, größtenteils von unglücklichen Geschöpfen herrühren, die – wie ja auch so viele Männer – vom anderen Geschlechte nicht begehrt werden. Und zwar aus rein physiologischen und ästhetischen Gründen. Die meisten Vorkämpferinnen der freien Liebe würden, wenn selbst die letzte sittliche Hemmung verschwunden wäre, doch nur die traurige Erfahrung machen, daß sie nach wie vor zur Entbehrung verurteilt seien. Es ist begreiflich, daß sich die persönliche Eitelkeit gegen eine solche Annahme sträubt, und es wäre wirklich zu viel verlangt, daß die Frauen hierüber jemals zu deutlicher Einsicht gelangen sollten, wenn auch zuweilen in dieser oder jener eine Ahnung des wirklichen Sachverhaltes aufdämmern mag. Mir selbst wenigstens ist nur ein Weib begegnet, das sich über Ursache und Wirkung klar geworden.«[37]

»Und wer war dieses Weib?«

»Auch eine Dichterin.«

Er trat an einen kleinen Schrank, in dem er seine Papiere verwahrte, und entnahm ihm ein ziemlich umfangreiches Paket, dessen Aufschrift er mir wies. Sie lautete: Documenta feminina.

»Alte Liebesbriefe?« fragte ich.

»Sind auch dabei – aber nur sehr wenige an mich selbst gerichtet. Im einzelnen wie im ganzen jedoch sind es höchst charakteristische Kundgebungen, die ich im Laufe der Jahre aufgesammelt. Für einen Erforscher der weiblichen Psyche können sie von Wert sein. Auch kulturhistorisch sind sie nicht uninteressant. Denn sie umfassen mehr als ein halbes Jahrhundert und stammen aus allen Schichten der Gesellschaft. So weisen sie auch alle Bildungsgrade auf – von naiven und unorthographischen Ergüssen rückständiger Gretchen bis zu geistvollen Emanationen des auf der Höhe des heutigen Lebens angelangten Weibes.«

Er öffnete das Paket und zog nach kurzem Suchen zwischen mehr und minder vergilbten Schriftstücken einige eng beschriebene Blätter hervor, auf die er eine Zeitlang in schweigenden Gedanken niederblickte. Dann sagte er: »Dieser Brief ist vielleicht der persönlich inhaltsvollste von allen, die Sie hier sehen. Er ist an mich gerichtet. Die Dichterin, von der ich sprach, hat ihn mir geschrieben. Denn ich habe in ihrem Dasein eine kurze, aber bedeutungsvolle Rolle gespielt. Da sie längst nicht mehr atmet und mit dem wenigen, das sie hervorgebracht, verschollen und vergessen ist, so kann ich Ihnen das Erlebnis mitteilen, das jetzt mit allen Einzelheiten in der Erinnerung vor mir auftaucht.«


* * *


»Es war vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Ich hatte schon damals angefangen, aus der Mode zu kommen. In meinem Schaffen war ein Stillstand eingetreten, und die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich neuen, glänzenderen Erscheinungen[38] zu. Dennoch verkehrte ich noch in der großen Welt, da sich einmal angeknüpfte Beziehungen nicht so leicht abbrechen lassen.

So fand ich mich auch bei einer Soiree ein, die noch nach Schluß der Saison in einem prachtliebenden plutokratischen Hause stattfand. Gleich bei meinem Eintritt kam der Hausherr, der mit seiner Gattin zum Empfang der Gäste nahe der Tür stand, auf mich zu. ›Sie können mir eine große Gefälligkeit erweisen‹, sagte er, mich vertraulich unter dem Arm fassend. ›Es ist heute eine junge Dame hier, die verwaiste Tochter eines höheren Beamten, mit dem einst mein Vater in Verbindung gestanden. Sie versucht sich als Schriftstellerin, und meine Frau, die sich für sie interessiert, bestand darauf, daß sie eingeladen werde. Ich dachte, sie würde sich entschuldigen lassen, denn sie lebt ganz zurückgezogen in bescheidensten Verhältnissen. Nun ist sie aber doch gekommen und dürfte sich unter den vielen ihr unbekannten Menschen ziemlich vereinsamt fühlen. Da wäre es denn sehr edel von Ihnen, wenn Sie sich ihrer ein bißchen annehmen wollten. Möglicherweise ist Ihnen auch ihr Name nicht mehr ganz unbekannt, da sie doch schon einiges veröffentlicht hat.‹

Es zeigte sich nun, daß ich wirklich eine Novelle in Erinnerung hatte, die in einer Tageszeitung erschienen und mir durch sehr lebendige Milieuschilderung angenehm aufgefallen war. Sie spielte irgendwo auf einem adeligen Gute und war offenbar unter dem Einflusse Turgenjews entstanden, der damals viel gelesen wurde. Auch hatte ich in einem poetischen Jahrbuche von derselben Verfasserin zwei Gedichte gefunden, die eine ungewöhnlich tiefe Empfindung bekundeten.

Obgleich ich der persönlichen Bekanntschaft mit Autoren beiderlei Geschlechtes immer gern aus dem Wege ging, so konnte ich jetzt doch nicht umhin, dem Hausherrn meine Bereitwilligkeit auszusprechen.

›Schön. Da werde ich Sie gleich vorstellen‹, sagte er und lenkte mich durch den bereits stark gefüllten Saal in ein Nebengemach,[39] wo sich sitzende und stehende Gruppen von Herren und Damen befanden. In der Ecke eines kleinen Sofas war eine weißgekleidete Frauengestalt zu erblicken, die eine rote Kamelie im schlicht gescheitelten blonden Haar trug. Sie befand sich im Gespräch mit einem noch sehr jungen Manne, einem nahen Anverwandten des Hauses, der neben ihr in einem Fauteuil saß. Es war eine Dichterin und ihr Nachbar erhob sich sofort wie erlöst, als jetzt die Vorstellung erfolgte. Ich nahm seinen Platz ein und sagte der Dame einiges Verbindliche über ihre mir bekannten Leistungen.

Sie errötete bis unter die Stirnhaare. ›Sie kennen also meine Versuche?‹ sagte sie mit vibrierender, etwas klangloser Stimme.

›Gewiß. Und ich kann nur wiederholen, daß sie mir sehr gefallen haben.‹

›Wirklich?‹ erwiderte sie unsicher. ›Ich selbst halte sehr wenig davon.‹

›Das ist ja ein gutes Zeichen.‹

›Meinen Sie? Es beweist doch nur Mangel an Selbstvertrauen. Und das ist immer notwendig, wenn man etwas hervorbringen will.‹

›Nun allerdings. Aber sehr oft haben gerade talentlose Leute das größte Selbstvertrauen.‹

›Das ist wahr. Die meisten Menschen überschätzen – oder belügen sich. Ich habe gelernt, gegen mich aufrichtig zu sein. Und da glaub ich, mir sagen zu müssen, daß meine Begabung nicht ausreicht. Ich kann nichts erfinden. Nur ganz Persönliche Eindrücke regen mich an.‹

›Das wäre ja das Richtiges‹, warf ich ein.

›Aber auch da gestaltet sich mir alles nur sehr langsam. Ich ringe mit dem Ausdruck – das Schreiben macht mir viel Mühe –‹

›Trösten Sie sich. Es ist manchem großen Schriftsteller so ergangen.‹[40]

›Ich weiß. Und doch, wenn ich sehe, wie leicht und sicher andere Frauen Buch um Buch fertig bringen, da verzweifle ich. Es fehlt mir zwar nicht an Plänen und Entwürfen, aber ausführen kann ich sie nicht. Ich finde nicht die nötige Ruhe und Sammlung. Mein ganzes Leben –‹ Sie brach ab und blickte vor sich hin.

Wie sie so dasaß, etwa dreißigjährig, schmächtig und schmalschultrig, mit dem länglichen Gesicht und der stark entwickelten Nase, war sie keineswegs eine reizende Erscheinung. Aber sie hatte schöne, grünlich schimmernde Augen, und die Nase wies im Profil eine edle Linie. Zudem lag etwas Rührendes in der ganzen unscheinbaren Gestalt, und mit einer Art von Wehmut betrachtete ich ihr unmodisches Kleid, die sichtlich nur gemachte Blume in ihrem Haar und den alten, gebrechlichen Elfenbeinfächer, den sie in der Hand hielt.

Ein Diener trat heran und servierte Tee. Sie nahm eine Tasse und ein paar kleine Süßigkeiten.

Während sie den Tee schlürfte, erklangen im Saale die Töne eines Pianos.

›Mein Gott! Musik!‹ rief sie erschrocken aus und setzte die Tasse weg. ›Wenn nur nichts von Wagner gespielt wird!‹

›Warum?‹ fragte ich. ›Lieben Sie Wagner nicht?‹

›O ja. Seine Musik hat große Gewalt über mich. Aber sie regt auch meine Nerven fürchterlich auf!‹ Sie bewegte sich unruhig auf dem Sofa.

Inzwischen nahm drinnen das Tonstück seinen Fortgang.

›Es ist nicht von Wagner‹, sagte ich. ›Ich glaube, eine Sonate von Brahms –‹

›Nein, Wagner ist es nicht‹, erwiderte sie aufatmend. ›Ob Brahms, kann ich nicht sagen. Ich habe so wenig von ihm gehört. Überhaupt bin ich eigentlich ganz unmusikalisch.‹

Der Sonate folgten einige Lieder, von weiblicher Stimme gesungen.

Wir hörten schweigend zu. Mittlerweile aber waren viele[41] Personen, die mit uns im Zimmer gewesen, nach und nach in den Saal getreten, so daß wir uns jetzt fast allein befanden.

›Wollen wir uns nicht auch ein wenig die Gesellschaft ansehen?‹ fragte ich.

›O ja‹, sagte sie und erhob sich. ›Ich habe Sie ohnehin schon zu lange aufgehalten.‹

›Keineswegs. Es war mir ein Vergnügen, an Ihrer Seite verweilen zu können. Da wir aber schon einmal hier sind, so dürfen wir uns nicht allzu sehr auf die Sonderlinge hinausspielen.‹

Wir gingen also in den Saal, wo es jetzt, da die Musik beendet war, bunt und glänzend durcheinander wogte. Zwischen den prachtvollen Roben und funkelnden Geschmeiden der Damen nahm sich die Dichterin in ihrem ärmlichen Putz seltsam genug aus. Sie wurde auch von allen Seiten ziemlich befremdet angesehen; man wußte offenbar nicht recht, was man aus ihr machen sollte. Endlich trat die Hausfrau an sie heran, die nun angelegentlich mit ihr sprach und sie dann einer kleinen Gruppe älterer Damen vorstellte. Auch ich fand nähere Bekannte, die mich in Anspruch nahmen, und so verlor ich sie aus den Augen. Nach einer Weile erblickte ich sie wieder. Sie schien mich gesucht zu haben und kam jetzt auf mich zu.

›Ah, da sind Sie!‹ sagte sie. ›Ich will mich nur von Ihnen verabschieden.‹

›Sie wollen fort?‹

›Es ist schon spät, und ich habe einen weiten Weg nach Hause.‹

›Sie werden doch nicht allein gehen?‹

›Gewiß. Das bin ich gewohnt. Aber so nach Mitternacht wäre es mir doch nicht angenehm.‹

›Mit Ihrer Erlaubnis würde ich mich Ihnen sehr gern anschließen.‹

›Das kann ich nicht zugeben. Sie hatten wahrscheinlich vor, bis zu Ende zu bleiben.‹[42]

›Keineswegs. Ich hatte die Absicht, mich noch vor dem Souper zu entfernen, das sich hier immer sehr in die Länge zieht. Wissen Sie was? Nehmen wir ein paar Bissen beim Büffet und dann gehen wir.‹

Sie war es zufrieden, und wir suchten das Büffetzimmer auf, das ganz leer war, da die Stunde des Soupers doch schon heranrückte. An einem kleinen Tische nahmen wir Platz, und ich ließ durch einen noch anwesenden Diener Sandwiches und kalten Aufschnitt herbeibringen. Auch zwei Gläser Médoc, davon eine Flasche entkorkt bereit stand.

Unser Mahl war rasch beendet. In der Garderobe, die sich unten im Vestibül befand, nahm meine Begleiterin ein leichtes dunkelblaues Mäntelchen um und hüllte den blonden Scheitel in ein weißes Schleiertuch.

›Wo wohnen Sie?‹ fragte ich vor dem Tore des Palais, wo immer Mietwagen zur Verfügung waren.

›Auf der Wieden – weit draußen in der Nähe des Belvederes.‹

›Gestatten Sie, daß ich einen Wagen nehme?‹

›Ach nein. Wenn es Ihnen nicht zu entlegen ist, so gehen wir lieber. Die Nacht ist so schön.‹

Sie war es wirklich: eine echte mondbeglänzte Mainacht. Im Helldunkel der Anlagen längs der Ringstraße stand alles in Blüte: Kastanien, Flieder, Goldregen. Schimmernde Farben, wehende Düfte.

Ich hatte ihr den Arm geboten, und wir schritten nebeneinander hin.

›Nun, wie haben Sie es heute abend gefunden?‹ fragte ich.

›Gefunden? Mein Gott, ich hatte ja nichts erwartet. Vielmehr bin ich wieder so recht zur Überzeugung gelangt, daß ich in solch eine Gesellschaft nicht passe. Ich wollte eigentlich auch gar nicht hingehen und entschloß mich nur dazu, um die Hausfrau, die sich meiner freundlich annimmt, nicht zu[43] verletzen. Trotzdem würde ich es jetzt sehr bereuen, wenn ich nicht so unverhofft Ihnen begegnet wäre.‹

›Auch ich hatte diese Begegnung nicht vermutet und freue mich darüber. Hoffentlich setzt sich unsere Bekanntschaft fort.‹

›Sollten Sie das wirklich wünschen?‹ fragte sie, indem sie die Augen forschend zu mir aufschlug.

›Gewiß. Ich glaube, wir sind beide einsame Menschen, die vielleicht bestimmt wären, sich aneinander zu schließen.‹

Ihr Arm zitterte leicht unter dem meinen.

›Sie sind also einsam?‹ sagte sie nach einer Pause. ›Ich hätte eher das Gegenteil vermutet.‹

›Man macht sich von anderen oft ganz unrichtige Vorstellungen. Vielleicht irr' ich mich auch in Ihnen.‹

›In jener Hinsicht gewiß nicht.‹

Es trat wieder ein Schweigen ein. Die weitgedehnte Straße lag in nächtlicher Ruhe da. Die Trambahn klingelte nicht mehr; nur wenige Wagen, nur wenige Menschen kamen an uns vorüber.

Plötzlich war in einiger Entfernung vor uns ein junges Paar zu bemerken, das aus einer Seitengasse eingebogen sein mußte. Zwei hohe, schlanke Gestalten, die sich im Gehen zärtlich aneinander schmiegten und jetzt einen Augenblick stillhielten, um sich flüchtig zu küssen.

›Sehen Sie dort?‹ sagte ich. ›Zwei Glückliche!‹

›Ja‹, erwiderte sie. ›Aber wer weiß, auf wie lange.‹

›Nun, jedem Glück ist schließlich eine Zeitgrenze gesetzt. Wenn man es nur einmal wirklich genossen hat!‹

›Ich habe es nie genossen.‹

›Nie?‹

›Nein. Denn ich bin niemals geliebt worden. Das heißt –‹ Sie unterbrach sich.

Ich erwiderte nichts. Aber eine eigentümliche Empfindung überkam mich. Auch ich war ja eigentlich niemals geliebt worden. Alle meine bisherigen Beziehungen zu den Frauen waren halbe geblieben, hatten mir mehr Qual als Glück gebracht. Wenn[44] ich nun hier das weibliche Herz, die weibliche Seele gefunden hätte, nach der ich mich immer gesehnt ...

Ich blickte auf ihr Antlitz nieder, das vom hellen Mondlicht verklärt wurde. ›Und wenn ich Sie lieben würde?‹ sagte ich, ihren Arm sanft an mich drückend.

Ich fühlte jetzt, wie sie im Innersten erbebte. ›Sie würden mich nicht lieben‹, erwiderte sie und wandte das Haupt ab.

Wir waren inzwischen auf dem Schwarzenbergplatz angekommen und lenkten der Heugasse zu, an deren oberem Ende sie wohnte.

›Also, wann seh' ich Sie wieder?‹ fragte ich, als wir uns dem Hause näherten.

Sie kämpfte offenbar mit sich selbst; es schien, als wolle sie sagen: niemals! Dann aber plötzlich mit vor Erregung zitternder Stimme: ›Wann Sie wollen! Bei mir kann ich Sie nicht empfangen, denn ich wohne sehr eingeschränkt bei Bekannten zur Miete. Aber drüben im Belvedere können wir zusammentreffen. In dem kleinen Nebengarten, wo der Pavillon steht. Sie wissen doch? Dort ist es in den Mittagsstunden ganz einsam.‹

›Also morgen – oder eigentlich heute, bald nach Zwölf.‹

›Ja‹, sagte sie und zog die Klingel. Dann reichte sie mir die Hand, die ich festhielt.

Wir hörten kommen. ›Gute Nacht!‹ sagte ich.

›Gute Nacht!‹ erwiderte sie mit gedämpfter Stimme und einem: letzten Drucke der Hand. Das Tor wurde geöffnet und hinter ihr geschlossen.

Als ich jetzt allein war und dem Stadtteil zuschritt, in dem ich damals wohnte, überkamen mich allmählich drückende Gedanken. Etwas wie Reue beschlich mich. Hatte ich mich da nicht zu einer vorschnellen Erklärung hinreißen lassen? Zu einer Erklärung, die ich kaum vor mir selber, noch weniger aber dem Weibe gegenüber verantworten konnte, dem ich sie getan? Würd' ich es wirklich lieben können? Bis jetzt hatte mich bei den Frauen[45] immer nur Schönheit angezogen und gefesselt. Und die Dichterin war nicht schön. Aber in ihrem ganzen Wesen lag etwas, das mich rührte, das mich ergriff. Und sie hatte ja schöne Augen und, wie ich im Büffetzimmer, wo sie die Handschuhe abgestreift hatte, bemerken konnte, auch schöne Hände. Und noch edlere, höhere Reize waren ihr zu eigen! Sie besaß Geist, Tiefe der Empfindung – und war, das fühlte ich, inniger Hingebung fähig. Dieses Bewußtsein hob wieder meine gesunkene Zuversicht. Als ich zu Bett gegangen war, kamen mir vor dem Einschlafen zwei Verse in den Sinn, die ich einmal irgendwo, ich glaube in einem Album, gelesen hatte:


Größer als die Sehnsucht, selbst zu lieben,

Ist die Sehnsucht, sich geliebt zu sehn!


Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 37-46.
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