Die Stadt und der Wahnsinn

[35] Lebewohl! mein zottiger Weggenosse! Vierzehn Tage hocktest du auf meinem Rücken und sprangst, wenn wir unser beider Last und Langerweile müde waren, fröhlich herunter, um neben mir deine Sprüchlein zu machen wie ein näselnder Phonograph. Durch stille Schluchten und über feuchtes Moos, über Moore entlang an giftigen Teichen, auf weißen Staubstraßenschlangen und unter glühenden Sonnenkohlenbecken, unter klatschenden Regenwolkeneimern und unter schweigsamen Mondspukspiegeln marschiertest du tapfer neben mir – das Manöver ist aus und die Kette der Vergewaltigung tat einen Riß und du wirst wieder,[35] nachdem der Geist dich trug, auf fleischernen Rücken hocken, bleiern und faul und ewig gelangweilt und zu deiner ledernen Realität verdammt. Lebewohl, du zottiger Phonograph, du schwätzendes Nichts und unwirkliche Beziehung zwischen malträtierten Muskeln und einem Rinderlederranzen! Lebewohl – – –

Auf den Schotterflächen, den Kiesen, die die Schmelzwasser der Gletscher liegen ließen, hat sich der steinerne Krake hingelegt und läßt seine Augen hungrig in den Himmel glühen und seinen zornigen Atem brausen, seine rauchenden Nüstern schwärzen die Nacht, seine Arme aber hat er breit über Land gelegt und sie mit blitzenden Lichtern und ewig gefräßigen Mäulern gespickt, seine eisernen Fühlhörner laufen über die Gebirge und kriechen unter die Meere, er frißt das Land und sein Unrat verpestet die Flüsse, aber sein Magen ist nie gefüllt und seine Lungen sind krank und eng und vergilben im frühen Sommer schon, Asphalt und Stein ist sein Fleisch und seine Knochen gehämmertes Eisen, träge und glühend in der Sonne und schwarz und schmutzig und voll grimmiger Melancholie im Regen, ewig fressend, ewig hungrig, er kaut sich ewig wieder, er lebt im ewigen Inzest, er gebärt stündlich und empfängt in jeder Stunde neu und seine Seele ist die des Tiers, eines hungrigen brünstigen Wolfes, eines abertausendköpfigen, eines abertausend verlangenden, sich wütend widerstrebenden, sich brutal zerfleischenden wolfstollen Wolfs, ein brausender brodelnder Kessel voll von brüllenden, sich ruhlos zerreißenden und auseinanderfahrenden, sich ruhlos wieder vereinigenden in ungeheuren Blasen aufplatzenden und überschäumenden Begierden – Wollust und Brot! Er schreit es am Morgen und Abend und Mittags und Mitternachts und schreit es allerorts in jedem Eisennerv und jeder Asphaltzelle, und wenn er sich im Ekel vor ihrer Gier und Allgegenwart am Morgen erbricht und vor ihrem Fluch Betäubung und Rettung sucht in blutigen Wahnbildern und roten Träumen – ach! diese drohenden Wahnbilder und gaukelnden Träume sind keine sorglos fürsorglichen Götter und hehre Unbekümmerte, sie sind von ihm selber aufgebaut, um ihn selber weiter zu hetzen nach Brot und Brunst! – so tut er es nur, um am Mittag wieder von neuem rasend aufzubrüllen, und wenn er sich des Abends schlafen legt, so tut er es nur, um Kraft zu sammeln zu neuen Hunger-und Begattungsschreien – ah! diese zusammengepreßt gierige, sich vor sich selber ekelnde, von sich selber ruhlos besinnungslos durch die Tage gepeitschte Masse! Mit dem[36] Stein, den sie in ihre Adern stampft, mit dem Eisenstück, durch das sie ihre Knochen stützt, dient sie letzten Grundes ihren zwei Teufeln, die ihre Seele umbrausen und ihr langsam den Wahnsinn einblasen, sie zu stillen, sie zu befriedigen und hinzuhalten, sie zu verkleiden und zu verschönern, es ist kein Ding in ihr, kein Stein, kein Ziegel, kein Wagen, kein Pferd, kein Altar und klingendes Instrument, kein Hund, keine Blume und plärrender Papagei, kein Teppich, kein Sessel und Stuhl, kein Wort wird gesprochen, kein Fluch gebrüllt, kein Messer geschwungen und kein Gift gemischt, keine Wahrheit zerstampft und keine Lüge strahlend ausposaunt, keine Litanei wird gelesen und keine Zote gespien, kein Mikroskop präzisiert und keine Säge gefeilt, kein Dom gebaut und kein Museum gegründet, kein Glas geschliffen und kein Skalpell geführt, kein Bild gemalt, kein Hammer geschwungen, keine Nadel geführt, keine Uhr schlägt die Stunde, keine Peitsche knallt, keine Trambahn lärmt, kein Schlagball fliegt, keine Geige klingt, keine Flöte klagt, kein Flugzeug durchbraust die Luft und stürzt zerkracht aufs Land, kein Dampfer durchfurcht den Ozean und fährt brennend in Grund, der nicht letzten Grundes dem Hunger diente, der Liebe frönte, und keine Feder wird geführt und keine Tinte vergossen – trolle dich, purzele dich, stelle dich auf den Kopf, denn die Komödie der Komödien beginnt! Auf den Schotterflächen, den Kiesen, die die Schmelzwasser der Gletscher liegen ließen, hat sich der steinerne Krake hingelegt und läßt seinen zornigen Atem brausen, seine Arme aber hat er breit über Land gelegt und seine Fühlhörner laufen über die Gebirge und kriechen unter die Meere – schlaftrunken kommt der Wind dahergetaumelt, aber entsetzt fährt er hoch und flieht und flüchtet und beginnt selber singend zu brausen, der Himmelshund, und trägt den Schrei des Riesen drohend in das Land.

Seine Arme aber hat er breit über Land gelegt und sie mit blitzenden Lichtern und ewig gefräßigen Mäulern gespickt, fauchend verschluckt er mich, polternd rasselnd dröhnend reißt er mich in sich mit Gestampf und speit mich unter Qualm und Licht und Lärm in seinen Eisenmagen wieder aus – –

und auf dem Bahnhof empfing mich meine Geliebte- wild, fiebernd, ein schönes Tier. Und heute, nach sieben Tagen, da draußen der rote Nebel glüht und brüllt, sitze ich still auf meinem Zimmer, mitten im Herz des Kraken schreibe ich an diesem[37] Buch; groß und steil, neunundfünfzig Bogen schrieb ich voll, ich werde anfangen müssen, kleiner zu schreiben, ganz klein – wie die Schlote und Kirchtürme vom Berge aus gesehen; und der Tabakrauch, den ich in zitternden Ringschleiern über sie blase, sind Wolken, die aus den Schluchten der Berge kommen, und meine Stirne der Berg im Vorland, um den sie sich scharen; so stehe ich auf mir und schaue ins Land, auf den Monolog eines langsam – mente captus!

Mein enges Zimmer ist voll von Rauch und voll brütender Melancholie, auf Schränken und Bänken und wurmstichigen Regalen verschlafen meine Bücher die Zeit, meine klugen Bücher die ewig strömende Zeit –


noch kommt mit der Unsterblichkeit gepaart

die Zukunft ewig strömend zu mir her

und schafft auf ihrem unbewegten Meer

in mir den Wellenschaum der Gegenwart:


sie prallt in unergründlich schneller Fahrt

aufgischtend an an meiner Seele Wehr

und bricht durch mich in einem Sturze, der

schon als Vergangenheit sich offenbart.


Bis eines Tages sich der Schaum zerstreut

und meiner Seele Balkenwerk zerfällt –

und Strom ist nicht mehr Strom, still steht die Zeit:


fort strömt die Zeit und trägt die tote Welt

auf ungeteilter Flut zur Ewigkeit,

wo sie mit ihrer Last als Wort zerschellt.


Das strömende Nichts! Ich könnte ihm und meinen klug verschlafenen Büchern eine Nase drehen und als Don Juan endigen, wie's sich gehört. Es ist nicht weit, sie schläft mit mir Wand an Wand; nachdem sie den Tag über einem abgenutzten Gelehrten Romane hat vorlesen müssen, Pariser, Münchener Kitsch, hat sie ihr Haar geöffnet und reckt und dehnt ihre nackten Glieder und öffnet die Schenkel und schleudert mit einem Male wie besessen die Kissen herab und – wie kühl die Luft ist! Aber sie ist nicht[38] immer so; es ist dunstig heute und still und der Krake hat seinen Tag, an dem es nebelt und der Ekel vom Himmel fällt; dann hat sie ihre Stunde, in der sie die Haare in Zöpfen flicht, im weißen Nachtkleid unter hohen Plumeaus liegt und Thee mit spitzen Lippen trinkt und dazu Niels Lyhne liest. Sie hört, wie durch den dicken Nebel hinten im Wald die Blätter fallen, und wenn sie das denkt, durch den die letzten Blätter taumeln, schmiegt sie sich in die Kissen und sieht aus klugen Augen nach der Tür, die sich doch gleich öffnen muß.

Wie derart ein zur Kunst und Liebeskunst destillierter Massentrieb ein Leben, das sich sonst längst fortgeworfen hätte, schwebend tragen kann! Und nun muß er ganz ausbrennen in ihr und sich nicht um den Leib kümmern, auch wenn er schon morsch und häßlich geworden ist: sie zwingt ihn durch und will ihn lieben und geliebt. Und erlischt ihre Liebe endlich, so bricht ihr Leib und Leben wie ein des Gerüstes beraubter Bau kopfüber zusammen. Was liebt sie nur? Sie las ein Buch von mir, das fraß sich in sie und wie ein roter Strom überschwemmte und zerbrach ihre Liebe zu sich und ihr Mut zu sich die zeternde Moral und so kam sie zu mir geflogen und liebt den mürrischen Skribifax einer Erkenntnis- und Liebesgeschichte, einen Dichter, wie der Pöbel sagt, in Wahrheit einen, der sich gegen den Dichter und metaphysischen Sonder-Größenwahn mit allen Sophismen und hohnvollen Enthüllungen sträubt und mit allem Ekel, dessen der Einsame gegenüber dem Geruch der affeneitlen und lohnarbeitenden Masse fähig ist, und der nun bald – mente captus!

Aber die Tür öffnet sich nicht mehr und mit dem Don Juan soll es nun aus sein; denn ich habe in mir seine Vorstufe und seine Bedingung, den Faust mit seiner Dann mußt du dich berauschen! Tendenz totschlagen müssen – es schickt sich nicht mehr, es gehört sich nicht mehr, nach den imaginären Brüsten der Natur und, da man sie nicht zu finden weiß, nach den derberen der Wirklichkeit zu angeln; wir wollen doch keinen Abschluß sehen und eine Lösung, eine Lösung ist uns viel zu dumm und mit ihr müßte der Faust zum Pfaffen werden. Oh da liegt sie draußen, die Welt und bunte Schale, wie wir sie nennen und lügen, um einmal vor ewiger Langerweile zu hujahnen, und zum andern vor Hunger und brünstiger Not zu brüllen, aber Tag um Tag, einmal an jedem Tage zündet sie ihre verfluchte Schönheit an und wird dünn und durchsichtig und unwirklich wie Glas, daß[39] man ihre Abgründe und die Quellen ihrer Abgründe rauschen zu hören glaubt – ich will nicht mehr in sie hinaus, sie macht mich taumeln und ganz verrückt!

Aber wenn du auch über den Dächern flatterst und aus grasgrünen Augen auf die goldne Stunde lauerst, in der du dich mit dem Furchtbaren vereinigst, das in mir wie ein Kolben bis an die Hirnschale hochstoßen und sie durchbrechen und aus mir als ein Riesenschirm wachsen möchte, unter dessen Schatten die Welt mit einem Ruck ihr Inneres nach Außen stülpt und kreischend die Logik und Vernunft der Oberflächen mit Schellenstöcken aus dem Lande jagt, um an ihre Stelle die Willkür und das Grauen zu setzen, ich presse dich immer wieder zurück und blase deine feuchten Flügel ewig wieder fort!

Das einzige Symptom ist aber meine Gedächtnisschwäche, zumal die Dinge von gestern haben sich nicht eingraben mögen und wollen sich nicht wieder einfangen lassen – ich bin wohl überanstrengt und durch zuviele Gefühle getaumelt und beobachte mein Taumeln zuviel; es wird eine fixe Idee sein, ein Leserückbleibsel, eine zu kraß geratene Vorstellung, die sich mit ihren Widerhaken an meiner Gedächtnisschwäche verfangen hat, wer weiß? nur eine abstruse Eitelkeit – ich werde sie mir vom Leibe schreiben und im Frühjahr will ich ins Gebirge fahren.

Und sollte das Schauerliche doch kommen, so will ich es als eine Laune des Glücks bezeichnen, die Welt auch von der Seite hemmungsloser, alltagsvernunftbefreiter Willkür erleben zu dürfen – oh! ich habe Mut und mag auf dieses Meer endloser Haschisch- und Opiumräusche schon meine weißen Segel hissen, auch wenn es endlos ist, auch wenn seine Winde und Ströme einem ungeheuren Strudel angehören, dessen brüllender Trichter mich schließlich verschluckt. Klingende Morgenröten, brennende Sonnenuntergänge, stahlblaue Mittagshimmelsglocken mit allem blutroten Spuk müssen über diesem Meere wandeln – ich habe von der strahlenden Euphorie, dem jubelnden Optimismus der Paralytiker gehört.

Aber die endliche Gewißheit muß mich doch durchschlagen, daß ich in einem Blick alle Wollüste und Schrecken des Wahnsinns durchjagen und mich gegen ihn bäumen werde, daß ich über ihn springe, hussa! über ihn setze und mit einem Satz wieder Mensch unter Menschen bin.

Wohl weiß ich, daß der Leib des Paralytikers verfällt und verfault,[40] wohl kenne ich das »langsame aber stetige Schwinden des Intellekts«, aber ich lasse nicht von meinem Geist, ich halte ihn fest, ich reite auf ihm und zwinge ihn und seinen Knecht durch!

Trotzdem, trotzalledem, ich will mich auf die Stunde rüsten und mich wohl wappnen; ich will hart an mich halten und meine blauen Flügel schon stutzen; ich will nur von Tatsachen schreiben und solchen Tatsachen, wie ihr sie seht, klein, wahr, eng, ohne Mund und ohne Augen und ohne winkende Finger in die Unendlichkeit und in das Nichts, ich will ihr süßes Klettentum und ihre tapfere Unwahrheit und ihr spöttisches: Ja, was willst du nur? nicht sehen, ach! ich möchte schreiben können wie ihr, trocken und ewig ledern und ohne Klang und ohne Jagd und ohne Zittern und ohne Sprung! aber in dem bedachtsamen Zeitmaße eures Schneckenganges und in der klanglosen Langenweile eurer engbrüstigen Perioden. Und wenn ich mich selbst betrachte und von dem schreibe, was ich in mir vorgehen sehe, oder zu sehen glaube, so soll es sein, als ob einer eurer medizinischen Automaten schriebe; ich lebe von Früchten, ich trinke Wasser und verschmähe Wein und Weib, ich hoffe nichts, um nicht die zerrüttenden Stürze der Enttäuschung zu tun, ich halte in Allem an mich kühl und kalt, wir wollen schon durchlaufen durch diesen Nebel und im Frühjahr, im Frühling auf unser Haupt Schnee und Sonne streuen. –

Ich wohne in Schwabing an einer asphaltierten Straße im vierten Stock, ich habe den Blick über die Stadt und sehe alleinsamabendlich, wie sich aus braunem Dunst die Doppelturmbrüste der Frauenkirche in den grünen Himmel blähen, und ahne hinter ihm das Brennen und Gleißen des Gebirgs, und der Mann, dessen Frau mir dieses Zimmer vermietet hat, nennt sich Journalist. Und ein Journalist – – –. Und daß es ihnen insgesamt nur darauf ankommt, zu schreiben und Worte zu vomieren nach einem allgemeinen Wir halten fest und feig zusammen! Innungsrülpskomment, ersehen wir daraus, daß sie sich wie die Gassenköter gegen einen raren Windhund unisono gegen den verschwören, der schreibt, weil er etwas hat, über das er in eigener Sprache schreiben kann. Zumeist sind sie verfluchte Juden, aufgeblähte Nullitäten allzusamt und nennen sich gerne das geistige Deutschland und die Vertreter der führenden Presse; ein rechter Mann muß sie verachten und darf nur über sie reden, als wenn sie Buben wären und er den Bakel führte.[41]

Nachzutragen habe ich, daß sie eine kleine Blender-Glanzzeit haben, aber schnell ist ihr einer Gedanke, vielmehr die eigenartige Färbung und einseitige Betonung, die der gestohlene und kastrierte in ihnen annahm, zu Tode gehetzt und –

und ein solcher Kläffer, der sich selbst zu Tode kläffte, war der Mann, der faul und mürrischen Gesichts seinen Spitzbauch durch die Zimmer trug. Schon verbohrt genug in den blanken Blödsinn des Wahren, Guten und reinen Schönen war er in den Schoß einer alma mater, als in die eigentliche Brutstätte solchen Dunstes, gekrochen, hatte sich da und dort strebend bemüht umgetrieben und auch sein kurzes Senkblei in die bekannten Abgründe rollen lassen und wirklich schmerzlich staunend gefühlt, daß hier Abgründe vorhanden waren. Aber über dem Staunen am Rand dieser heulenden Grundlosigkeiten hatte er die Zeit versäumt, in der ein Kopf seines Gelichters entschlossen die Augen zumachen und die Ohren mit hartem Werg verstopfen muß; so konnte er sich nicht mehr sammeln und er war zu ehrlich und auch zu indifferent, sich zu einem äußerlichen Oberlehrerabschluß aufzureißen. Dann las er Nietzsche und der verdarb ihn ganz. Denn er hatte nicht so viel Einsicht, um seine nach dieser Lektüre heftig aufschießende Schreibeseligkeit als ein Schaffen nur aus Oppositionsdrang eines, wenn auch nicht ganz unselbständigen, so doch ganz inferioren Geistes zu erkennen. Er sah nicht ein, daß sein Schreiben nur ein Akt der Selbstverteidigung gegenüber einer erdrückend blendenden Gewalt war, sondern hielt es für ein Zeugnis eigener eigenartiger und ausreichender Begabung, die – wie man so schwätzt – in sich neue Werte fühlt und aus sich neue Werte schafft. Ihn reizte, wie die meisten und allermeisten, die Form und bunte Geistreichigkeit, während er taub und blind blieb gegenüber der Leidenschaft und dem erlösenden Ziel, während er ohne Bedürfnis war nach einem erlösenden Ziel; er blieb Litterat und gehört somit zu dem Gesindel, das ich nach dem Malergesindel am radikalsten verachte. So schrieb er einige Essays über allerhand, gute Freunde – sintemalen er ein angenehmer Freund am Biertisch war – lanzierten sie und so erwarb er sich als geist- und hoffnungsreicher Schriftsteller die Liebe einer klugen Frau, die reich war.

Aber diese Essays über allerhand blieben eben einige, denn bald hatte er seinen einen Gedanken, den des übertriebenen und hemmenden Historizismus, der der Grund und der fortschrittlich[42] affektvolle Ausklang seiner blendenden Kritiken war, zu Tode geschrieben. Es war sein Pech, daß er klug genug war, dieses armselige zu Tode Treiben als solches zu erkennen, und so warf er nach einem Jahr seine kritische Feuilletonfeder in die Ecke und lebte von dem Gelde seiner Frau.

Und als das Geld auf Reisen und so weiter ausgehen wollte, kaufte seine Frau ein Haus, in dem sie möblierte Zimmer vermietete, an Studenten und Litteratenvolk vermietete sie und erzog ihre Kinder. Und er sah zu; und kam sich so überflüssig vor bei dem Vermieten, der Erziehung, den Haushaltungssorgen und dem täglichen Rechnen – und die Zeitung, das Essen, das Leben, der Tag, das hängt einem ja zum Halse heraus! Und ein Dienstmädchen, das er aus Verzweiflung attackierte und in Faulheit beschlief, kam glücklich in Wochen. Da begann er seine Frau zu hassen und stöhnte: wie glücklich wär ich, wenn ich allein lebte und könnte die Straßen fegen! – Geh! – Aber da zerdrückte er eine Träne und sprach von seiner Vaterliebe. Aber am ersten Juli werde ich gehen. – Und am ersten Juli verschwand er für einen Tag und kam am nächsten wieder. Hier, kauf dir eine neue Krawatte; wie siehst du aus! So ließ sie ihn stehen und weiter muffen und betrog ihn gesund und mit gutem Gewissen und erzog ihre Kinder. Und dann kam eines Tages jenes Mädchen zu ihr geflogen, meine Geliebte, die am Tage einem abgenutzten Gelehrten Romane vorliest, Pariser, Berliner Kitsch, und des Nachts ihre nackten Glieder dehnt und reckt und mit einem Male wie besessen die Kissen von sich wirft –. Aber sie ist nicht immer so; wenn der Nebel draußen liegt und es still ist – es ist furchtbar still, so still wie nur einer stille sein kann, der vor dem Fenster steht und lauert! In dieser Stille aber hängt der Nebel wie eine glühende Kugel und brüllt – aus vollem Halse, tausendstimmig: mente captus! mente captus! hei is verrückt! –

Nachdem ich für eine Weile hinunter in die Stille flatternd mit Arm und Bein gestürzt war, habe ich über den Tod gedacht und überlegt, ob ich mich nicht bald töten müßte. Denn in drei Tagen hebt mein neunundzwanzigstes Jahr an – dreißig Jahre! – – darum muß man an den Selbstmord denken, ob es nicht bald Zeit wird. Denn ich will ganz Herr über mich sein und meinen Faden abschneiden wann ich will und nicht, wann es jenem Lehmkloß beliebt, der mich aufwarf wie das Wasser aus seiner morastigen Tiefe Blasen wirft. Aber ich war mehr bei meinen Freunden, bei[43] den Menschen, die mich kennen, – wie sie sich wohl geben und was sie wohl sagen würden, wenn ich nicht mehr da wäre. Die Eitelkeit fliegt über den Tod, sie ist unsterblich und sieht aus wie ich, denn ich bin der eitelste Mensch, einer der am bewußtesten schreibt und am affektiertesten seine Sätze baut, einer der immer sich selber zuhört und nicht müde werden mag, nach dem Klang seiner Worte die Ohren zu spitzen, einer der mit jeder Silbe kokettiert, weil er nichts anderes hat, mit dem er liebäugeln könnte, und der furchtsamste, denn die Stille, die Stille – wie ein Tiger, der gleich aufspringen will, schaut sie der heulenden Nebelkugel zu – wenn er doch zuspringen wollte, wenn er doch mitheulen wollte, wenn er doch sich um sich selber kugelnd sich in den Schwanz bisse: hei is verrückt! – –

Eins, zwei, drei – – nun schlägt es zwölf! Und mein Zimmer sinkt, sinkt durch die Stockwerke, die Schottermassen – auf den Schotterflächen, den Kiesen, die die Schmelzwasser der Gletscher liegen ließen, hat sich der steinerne Krake hingelegt und läßt seinen zornigen Atem brausen – und sinkt durch die Schottermassen und fällt wuchtend hinab in das Gestein der Erde. Durch einen Schacht, durch den zehn Stürme auf und nieder brausen, wuchtet es hinab, bis es den Mittelpunkt erreicht hat und still steht; und um mich, hoch über mir tief unter mir, dreht sich die Welt – ruhelos. Ich sehe sie nie wieder, ich muß auf ewig hier begraben bleiben, denn wie käme der Mittelpunkt zur Peripherie? Es müßte denn die Kugel zerbrechen und das Gold des Chaos niederfluten.

Geradewegs aus dem Herz des Kraken fiel ich ja herab in diese Tiefe. Woher kam ich noch? Von den Moosen und Bachtälern und den weißen Staubstraßenschlangen, von den Sonnenkohlenbecken an blauen Seilen über mir fiel ich mitten durch das Herz des Kraken hinab in diese Tiefe. Wahrlich, ein ungeheurer Schacht, durch den ich fiel! Aber ich kann noch das schlagende Herz sehn, um das sich der Nebel legt wie eine dünne glühende Haut – die brüllende Stadt! Aber ich schiebe einen Deckel davor, wie man in ein Ofenrohr einen Deckel schiebt, und so bin ich allein.

Der Stein liegt tief im Schlaf, oben, unten, und auch die Stille schreit nicht mehr. Der Tabakrauch aber spielt zaghaft kapriziös über den feuchten schwarzen Strichen, die irgend ein Etwas mich malen heißt, bedachtsam und steif; es ist gewiß der Stein, der[44] seine Träume endlos spinnt und mich sie ewig krummen Rückens malen heißt; von allen Seiten, oben, unten, durch alle Poren, Augen, Ohren dringen sie in mich und führen meine müde willenlose Hand – ich bin überhaupt Stein, ich bin das Gehirn des Steins, und was die Leute oben Welt und Leben nennen, das sind nur meine Träume, meine Träume, deren Leib der Stein der Erde ist – ich bin gewiß der Sinn und sicherlich das Herz der Welt. Wie simpel doch die Lösung ist, die einst unmöglich schien –: der Traum des Steins, und der Stein des Traums; das Signum der Welt ist die umgefallene 8 und die Unendlichkeit. Nun muß ich wach bleiben, damit der Stein schlafen und träumen kann, denn das Gehirn schläft nie, es malt ewig die 8 und schläft nicht. Bleibe wach, mein Herz, bis der Stein erwacht und sich zu regen beginnt und seine Träume zu Wirklichkeiten werden und er nicht mehr nur die 8 träumt. Lange schlief er schon und es ist ein heiliges Jahr – wer weiß, er erwacht! Dann wird er seine Glieder recken und die Welt wird sich öffnen, wie man eine Feige öffnet – oh bleibe wach, mein Herz!

Wie sie morgen dein Zimmer suchen werden, deine Wirtin und ihr Journalist! Aber ein heller Raum wird sein und ein lustiges Nichts, wo dein zärtlich Klausnerstüblein war und du am Schreibtische deine langen Tage hocktest, Tabakwolken über Schlot und Kirchturm blasend, müde, kapriziöse Wolken – wie liebe ich euch! Ach, vom Flur aus werden sie gleich mitten ins Leere treten und schwindelnd auf die Straße schauen, wo die Jungen Kreisel schlagen und wo die Alten mit Fingern nach oben zeigen. Wie sollten sie auch denken können, daß ich hier mitten in der Erde säße und meinen Beruf hier hätte!

Der Druck – er dröhnt mir im Ohr! Aber wie könnte er dazu kommen, mich eines Tages zu zerdrücken, wie man eine Mücke zerquetscht oder ein Rosenblatt zerreibt, wie sollte er wohl! Wo er nur Traum ist und auch die tausendtausend Tonnen Steins nur Traum sind und wo der Tag kommen wird, an dem die Welt sich auftut wie man eine Feige öffnet!

Darf ich denn daran denken, daß ich eingekerkert und hier mitten in der Erde gefangen bin und daß so viele Erden wie Menschen sind und in jeder dieser Steinzellen sitzt ein einzel-einsamer Mensch und spinnt am wurmstichigen Rocken seine flächsernen Tage. Aber brüllte ich auch auf wie ein Stier, es hörte mich keiner, es hört uns keiner.[45]

Glaubt nur nicht, daß ich toll bin, wähnt ja nicht, daß ich lebendig begraben bin, oh! Traumaufzeichner ist mein Titel und die Träume des Steins hören zu können, ist mein Beruf; ich träume sie und ich träume mich selber zunichte. Ich habe nichts anderes, womit ich mich zunichte richten könnte, wo ich mich doch einmal zunichte richten muß! –

Nun ist es oben Herbst geworden und über die weißen Staubstraßenschlangen bläst ein harter Wind; über das Haar eines Eichenbusches kommt er klirrend gesprungen und fällt klagend und blätterraschelnd über den Hügel hinab, auf dessen Stoppeln und frostgebrochenem Gras ich stehe. Die Sonne aber ist hinter graue Teppichwolken gegangen und zwei Herbstzeitlosen lassen in einer kleinen Senke die Köpfe hangen, während die dritte lang am Boden liegt eine arme Leiche. Wie ist die Welt wüst, sie rauft sich klagend ihr Haar, aber es wird nimmer anders; an den Drähten pfeift der Sturm und in öden Wald taumelt die Nacht und hängt sich schlotternd um die schwarzen Zweige. Wie oft ging ich schwer und bang durch diesen Wald, aber es gibt keine andere Welt, oh! es gibt keine andere Welt und diese wird wohl kaum sich auftun wie man eine goldene Feige öffnet. Sieh, auf dem anderen Hügel liegt der Wald, wenn ich von diesem in das Tal steige und dann gen Westen wieder hügelan gehe. Dieser arme Wald, wie er friert und zitternd seine kalten Zweige aneinander reibt! Nun steigt der Nebel hoch, nun schleicht er tückisch heimlich durch ihn eine tödliche Patrouillenschar und frißt sein letztes Laub. Daran denkt sie, an den Nebel, durch den die letzten Blätter taumeln, und schmiegt sich in die Kissen und macht kluge Augen – aber er kommt nie wieder, mitten in der Erde sitzt er und spinnt seine farblosen Tage. – –

Vor drei, vier Jahren fing es an, mit Gold und purpurnen Schönheiten und ihrem immanenten Zynismus, durch den sie nur noch trauriger und schöner werden, mit Gold und Schönheit und traurigem Zynismus, mit denen alles Verfluchte sich einschmeichelt, fing es an:

Lange Wochen hatte oben an der Küste die Hitze gelegen, die Luft war rein gewesen und das Barometer stand hoch und die Winde, die auf der See hinein in die Luftaufwirbelung wehten, kamen vorwiegend aus Osten und waren frisch und bewegt; Tag für Tag war die Sonne als rote Feuerkugel in das Meer gesunken und von keiner glummenden Nebelbank hinabgetragen und keiner[46] kitschigen Waberlohe zu Grabe gebracht, rein und einsam fiel sie zu Tode und machte die Menschen seltsam sehnsüchtig und fiebernd erregt.

Aber wenn sie sich schon anschickte, senkrecht durch den ehern hellen Himmel zu fallen, tauchte unter dem Horizont ein glatter Streifen auf, glänzend silbergrau; manche Tage war er erschienen, dieser glatte Silberstreifen, auf den man immer wieder mit Fingern zeigte und von dem die Fischer erzählen mußten, er sei zu sehen, wenn nach langen Ostwinden die Hitze auf dem Meere liege. Der Horizont selber aber oberhalb dieses Streifens war durch ihn hinausgetragen und aufgehöht und war wie eine dünne dunkle Wellenlinie.

Auf diesem Streifen waren allabendlich die vorüberfahrenden Schiffe mit ihren Spiegelbildern zu sehen, mit ihren Spiegelbildern, die dunkelgrau wie gesättigte Lichtbilder kopfüber über ihnen schwebten; sie hingen aber nicht hoch in der Luft wie sonst die Spiegelbilder am Meer und in der Wüste und die Bildungen der Fata Morgana, sondern waren unterhalb der dünnen dunklen und leise wogenden Horizontlinie. Dann verschmolzen und kreuzten und verhaspelten sich zuweilen die Masten und Raen der Schiffe mit denen ihres Gegenbildes, oder die Rauchsäulen der Dampfer vereinigten sich zu einem wunderlichen Gebilde, ja es erschienen in dem glatten Streifen überraschend und aufregend wie aus dem Nichts zuerst nur derart rätselhafte Rauchfiguren, graue Wimpel und melancholische Kinderfähnchen, und erst später tauchten erlösend die zugehörigen Schiffe auf. Und nochmals, alle diese Fahrzeuge schienen auf dem unteren Rande des glatten Silberstreifens hinzugleiten, während ihre Spiegelbilder von der dünnen dunklen Horizontlinie über ihnen herabbaumelten und kopfüber weiter schwammen. Und solche Spiegelungen sind, wie der dicke Bademeister immer wieder sagen mußte, häufig, wenn nach anhaltenden Ostwinden die Hitze auf dem Meere liegt.

An dem Tage aber, der mit weit durch die Jahre reichenden Beilen mich hierhin mitten in die Erde geschlagen hat, war der Himmel wieder unbewölkt, fünf weiße Wolkenfäden und eine dumme Gänsefeder taumeln verloren über ihn, sonst ist er unbewölkt und so strahlend einsam, daß man weinen möchte, und wird nun, so rein ist seine Atmosphäre, über dem blauen Meer rosenrot. Und die Sonne in ihm ist feurig ernst und drohend[47] groß, und je tiefer sie fällt und je ovaler sie wird, desto eindringlicher wird die dunkle Wellenlinie des Horizonts, und wie sie die leise wogende endlich berührt hat, ist sie eine saffrangelbe Ellipse geworden. Nun sinkt sie schnell, jetzt nur noch ein schmales langgestrecktes Segment, dann verschwindet auch dieses und hinterläßt nichts denn eine lange leuchtend goldne Linie – das sind die noch erleuchteten Wogen des fernen Meeres.

Noch ist der Silberstreifen glatt und vornehm silbergrau, wie er war, da die vorüberfahrenden Schiffe mit ihren luftigen Konterfeien Raen und Rauchwolken verhedderten, oder da die Sonne noch wie ein zusammengepreßter Ball leuchtend süßer Saffranfransen über ihm hing; auch das Meer vor ihm wogt unbekümmert fort, tiefblau und traurig.

Da steigt an seinem unteren Rande eine zweite Sonne hoch, es ist, als ginge die müde wieder auf: ein rötlich gelbes ängstliches Segment, ein strahlender Halbkreis, eine goldene – aufbrechende Scheibe, aus der mit einem Male züngelnde Flammen gegen die leuchtend goldne Linie des Horizontes schlagen. In immer strahlenderem Glanze greifen und lecken sie hoch, ein melancholischer Teufel heizt wütend ihren Kessel, daß sie sich schnell mit der goldnen Linie zu einem feuerroten – Pilz vereinigen, einem Steinpilz mit zusehends sich verdickendem Stiel. In den pustet der abstruse Sonnenpilzheizer bitter schmerzlichen Gesichts, bis es eine Terrine wird, eine feurigrote Punschterrine, eine saffrangelbe Teebüchse mit goldenem Deckel, an den er – plötzlich mißbilligend schief gezogenen Munds zwei Lotschnüre hängt. Nun preßt er seine saffrangelbe Büchse mit beiden Händen, bis sie ein wundergoldnes Viereck wird, eine rechteckige Sonne aus purem Golde in einem silbergrauen Streifen zwischen matt rötlich gelbem Himmel und tiefblauem Meer.

Nachdem der Sonnenmodler dieses Viereck sechzig schwere Sekunden hat leuchten lassen, knüpft er seine Schnüre zusammen und windet sie geschäftig um seinen Riesengoldwürfel; ächzend zieht er sie zusammen, schweigend buchten die Schmalseiten sich ein und formen zitternd und dann in gelassener Herrlichkeit aus dem Würfel einen Becher, einen Sonnenbecher, dessen gold dunkler Haute Sauterner in der Horizontlinie wallend überschäumt – – –

Aber der Becher zerbricht und zerfließt wie ein schöner Rausch; der Stiel zwischen Fuß und Schale wird dünn und[48] schmal, ein dünner Stiel, der rasch zerreißt, so daß nun bald nur ein Riesengoldtropfen von der wallend glänzenden Linie des Horizontes gegen ein immer schmaler werdendes Segment aus purem Golde hängt, das sich von dem unteren Rande des silbergrauen Streifens ihm entgegen hebt.

Immer vollkommener wird der Strom des Silberstreifens, Segment und Tropfen spült er fort, auch die wogend goldne Linie des Horizonts ist mit einem Male verschwunden – lachend springt der Teufel ins Meer.

Im Osten ist eine rosige Gegendämmerung verbrannt, der Silberstreifen zerfließt und das Meer wird schiefergrau und wüst. –

Gott, kommen Sie! Die Sonne kann auch mal ausschaun wie eine Suppenterrine oder eine Berliner Weiße mit Schuß. Darüber exaltieren Sie sich! Nicht wahr, es ist ein optisches Phänomen, Strahlenbrechung, verschiedene Erwärmung und verschiedener Wassergehalt der Luft, etcetera – soll ich Ihnen sagen, was es ist? Kitsch ist es, Kitsch, Kitsch, Kitsch! Aber nachher, wenn es dunkel wird und schiefergrau und wüst, wüst, oh! wie wüst – ach! kommen Sie, Sie fade Punschterrine.

An diesem Abend gefiel sie mir und am nächsten infizierte sie mich mit Syphilis.

Das war am 23. Juli gewesen; am 24., in der Nacht, in der sie mich zwischen ihre sehnigen Schenkel nahm, gewitterte es und dann fiel über Strand und See ein ungewöhnlich dicker Nebel; in diesem Nebel rannte am 26. Juli mittags zwischen zwölf und eins, drei Meilen vom Strand die »Stettin« und die »Reval« zusammen, dort wo die Tage vorher auf jenem spiegelnden Silberstreifen die melancholischen Kinderfähnchen geflattert hatten. Unter den Ertrunkenen der Stettin war Marion, von der ich, gleichzeitig mit der Nachricht ihres Todes, diesen Brief erhielt:


Mein Freund,

ich nannte Sie eine fade Punschterrine und nenne Sie heute mein brennendes Herz. Sie kennen die Gartenblume, der man diesen Namen gibt; ein abscheuliches Karmoisinrot, dazu läßt sie diese ihre karmoisinroten Blütenköpfe melancholisch hängen und riecht ein wenig nach toten Fröschen oder Ähnlichem – denken Sie nicht an sie. Doch bitte, denken Sie an sie. Denn diese melancholischen Blumenköpfe, oh liebster Freund, diese melancholischen Köpfe – ich habe Ihnen die Syphilis gegeben. Kennst du[49] sie, Geliebter? Ich hab mir sagen lassen, es ist so ein kleines Viech, so ein kleines Korkenzieherviech. Sei nicht böse, Liebster, – so ein kleines Viech! Sehen Sie, die Sonne ist auch zuweilen nur eine Punschterrine.

Wissen Sie noch – ach Liebster! Liebster! Aber mein Freund, nun schenken Sie mir – nicht wahr, so sagen sie? – eine arme Stunde lang Gehör, eine Viertelstunde für diesen süßlichsten aller Briefe.

Ich hatte die schönsten Ponnys und die gewitzigsten Bonnen und als man mich von Genf nach Hause brachte, war ich die entzückendste Puppe geworden und wußte Alles, und begann dann bald mit meinem eigenen Leib auf diesem Gebiete zu experimentieren. Es hatte mit Liebe nichts gemein, es war mir nur um das süße Prickeln zu tun, wenn ich die ergötzlich echauffierten Gesichter meiner Kavaliere sah, die sie in dem fraglichen Augenblick schnitten. Was für Gesichter! Was für viehische schwitzende stöhnende viehisch dumme Gesichter! Was für Kartoffeln! Was für groteske Tomaten! Und nun so über diese Lust der Lüste, über diesen Abgrund aller Abgründe Herr zu sein und immer mehr zu wissen und immer wieder das schon Gewußte bestätigt zu sehen: es ist eine schmutzige Geschichte; der Instinkt hat sie überwältigt und die Sinnlichkeit wirft die heißen Tölpel über mich – was für eine Kolportagengeschichte! Nicht wahr, die Kolportagengeschichte, richtig gelesen, ist doch der Clou und die Quintessenz aller Litteratur? Es ist so wunderbar traurig, mein Freund, eine Messalina zu sein nur um des Lachens willen und des unglaublich süßen »Triumphes auf Trümmern.« Du wirst verstehen, Geliebter, es war eine entzückend süße Geschichte. Denn nichts kitzelt so sehr unsere Eitelkeit, als welche die Wurzel aller Wurzeln unserer weiblichen Wohlgefühle ist, als eine zerbrochene Illusion und das süße Gefühl, Illusionen zerbrechen zu können; während der plumpe blinde Genuß – der blinde Genuß ist uns viel zu plump und riecht uns zuviel nach Bauernmädchen und Volk.

Darum durfte ich meine Liebhaber nicht »lieben«, ich hütete mich wohl und wechelte die Narren Tag um Tag, denn hätte ich sie geliebt, blauäugig gänseweiß und mit einem kleinen Geruch nach Butterbrot, so wäre ich von meiner süßen Höhe hinab in die blinde Brunst, oh Gott! in den Schrei nach dem Kinde getaumelt; ich liebe eben nur mich und meine helläugige Verachtung. Und[50] gerade, sieh Liebster, wie gut mein süßer Heiliger es mit mir meint, als diese Lust ihre zarte Hand verlieren und alt und schwerblütig werden wollte, wurde ich in einer roten Nacht – du weißt. Und nun träufelte die Grausamkeit ihren jungen Saft in meine alternde Lust. Mit unergründlich süßen Augen gab ich ewig lächelnd Lust und Tod, ich war wie das Leben selbst, das in alle Lust den Keim des Todes legt, der uns immer wie eine Strafe anmutet, wie die Bedingung, auf die hin wir das Glück genießen – oh! Liebster! hätte dieser unheilige Heilige ein halbes Jahrhundert später gelebt, von mir hätte er sein Gift bekommen, auf mich hätte er sein entzückendes »Über die Weiber« schreiben müssen! Wie ich ihn unter mir gehabt hätte, wie er meinen Leib hätte küssen müssen, da und dort und überall – dieser grimmige Flucher und schwerblütige, dickblütige Askesenadorant!

Da verschwand das süße Prickeln gemach, zu dem mich die armen Echauffierten reizten, und an seine Stelle trat der nervenpeitschende Genuß einer wilden Verachtung und eines zehrenden Mitleids, eine berauschende Rache am Leben selbst – ein unerhörter, immer durstiger machender, zuckersüßer Trank. – Mein Freund, ich war das Leben selbst, ich glaubte, das Leben selbst zu sein, vielleicht das, das erst das Leben schafft, das hinter ihm steckt und mitleidig verächtlich mit seinem schlechtgeratenen Spielzeug spielt. Und dann kamst du – –

Wirst du mich verstehen? Du hattest viel geliebt und wir waren beide sehr erfahren. Aber während du dein hohnvolles Wissen über das Leben von außen her – wie man so sagt – oh Liebster, von oben her sammeltest, steckte ich mitten in ihm und sog erst mit seinen Lüsten und Giften die Erkenntnis seines grandiosen Nichts. Und so kam es, du Einziger, daß du dich noch über die bunten Bilder der Welt wie über ein gutgeratenes Kunstwerk freuen, ja vielleicht, daß du diese ganze Welt als ein angenehm zu knackendes Rätsel für deinen – o wei! o wei! – starkkiefrigen Intellekt ansehen und dich an der Kraft deiner Kinnbakken ergötzen konntest und an den siebenhundert Schalen, die den süßen Kern beschützen und von denen die eine immer anders und überraschender duftet und raschelt und knistert und gestickt und gefärbt ist als die vorige, während ich nicht mehr aus mir und aus dem Leben herauskonnte; ich vermochte nicht mehr – objektiv zu werden, wie Sie, mein weiser Freund und teurer Weiser. So war das erste, was ich Ihnen gegenüber empfand, Neid und Haß,[51] ich war ein Ressentimenttierchen par excellence gegenüber Ihrer aristokratischen Ironie und ironischen Objektivität und, wie es so geht, verliebte ich mich in Ihre Vollkommenheit, während ich sie Ihnen gleichzeitig neidete und Sie haßte, weil ich Sie beneidete, und Sie tausendmal haßte, weil ich Sie liebte. Darum mußte ich dich herab in meine Leiden und Gifte ziehen, du Weisheitsbold und fade Punschterrine.

Und nun – sieh, Liebster! ich saß einmal in einer kleinen Weinbudike, spät zwischen zwölf und eins, mit irgend einem milchbärtigen Kavalier. Es war um die Adventszeit und draußen lag der Mond auf dem Schnee, in einer Ecke aber klimperten zwei Jünglinge auf einer Guitarre alle ihre Weihnachtslieder – mein Liebster! wenn man mitten im Leben sitzt wie ich und nicht mit ihm, wenn auch traurig genug, spielt wie du, muß man blind sein und darf nicht sehen, daß seine Gifte Gifte sind; so habe ich das Süßeste verpaßt und schließe mit der Banalität: zu spät.

Marion


Nun ertrank sie, jämmerlich in einem ungewöhnlich dicken Nebel, aber ihr Gift blieb in mir leben, ich kurierte jahrelang an mir, ihr Gift blieb in mir leben – es wird mich fressen und dann den angenagten, angefaulten Klumpen Fleisches durchtränken mit dem entsetzlichsten Wahn.

Aber das ist nicht wahr, daß der Erdball aus einer unelastischen Stein- und Eisenkruste und einer kompakten Kugel Magmas besteht, es ist nicht wahr, daß sich im Erdball alle nur denkbaren – alle nur denkbaren? – Aggregatzustände der Materie vorfinden, es ist nicht wahr, daß eine Zentralsphäre einatomiger Gase, daß ein massiver Stahlkern – warum nicht Goldkern? – existiert; er ist ein massenmächtiger Stein, in dessen innerster winzigster Zelle ich sitze und Träume spinne. Granit! Über mir, unter mir, allerorts Granit! Der schwitzt an den Fenstern, der Decke, den Wänden, dem Fußboden das Steinwasser in dicken Tropfen aus und macht die Luft schwül, schwüle Luft, schwül, drückend schwül – der Schacht ist zu! Wie eine Faust sich schließt, schloß sich der Stein und fauchend entflog die Luft – – – langsam tückisch kriechend von den Bergen schwillt sie zu trockenem klingendem Sturm und bricht wie ein Räuber pfeilgerade als Mistral in das Meer.

Nun wird sich der Stein weiter ineinander schließen, wie eine[52] Faust grimmig sich schließt, er wird mich zerdrücken wie man ein Rosenblatt zerreibt; und meine arme Seele – gleich dem Duft, der jenem roten Saft entsteigt, wird sie hoch und schwerelos durch die Poren des Steines dringen und ein Ich weiß nicht, was? flattern in ein Ich weiß nicht, wohin?, eine Magelhansche Wolke, ein schimmernder Sternennebel en miniature – ein flimmernder Quark, ein okkulter Mist.

Aber ist ein unabhängiger Körper im Mittelpunkte hohl und hängen die Randteile seiner Höhlung gleich weit von seinem unrealen Mittelpunkt – ein Ring und eine Hohlkugel darf aus sich nicht ineinander stürzen. Darum keine Angst, du Narr, dein Zimmer wird schon bleiben, Tisch und Tintenfaß und graue Wand, und sein pfeiferauchender Klausner wird weiter seine Wolken blasen, klausnerisch kapriziös, seine feinen Wolken, von denen die Leute oben sagen, die Polnadeln zuckten geheimnisvoll nervös, wenn die Nordlichter ihre orientbunten Teppiche flattern lassen, die Wolken, von denen die Leute sagen, die Chamsine brausten heiß und staubgefüllt über den Nil und der Mistral fiele wie ein Räuber singend über das träge Meer. Aber auch als Oleanderblüten und steile Mädchenbrüste werden sie ihnen vorkommen, auch abgründige Weisheiten, brunnentiefe Verse und steinschalige Rätselnüsse werden sie ihnen scheinen – den glücklichen Toren und ewig Blinden!

Hart, so wollte ich, sollte der Stein sein und souverän? Einsam und rein? Es ist eine kleine warme Traurigkeit in ihm, eine mikrokosmische feuchte Wehmut und ein weicher Traum, seine Seele ist ein nicht ganz reiner Sehnsuchtstropfen. Eine warme Traurigkeit? Ein glummendes Feuer, ein schlafender Funke, der auf die Stunde hofft, da er Fackel wird und Flamme – ich bin ein schwälender Funke im Stein und werde einmal Flamme, Flamme sein!

Doch noch glummt er klein und schwälend bang und versteckt sich in melancholische Ringe und graue Wolken, in meilendicken steinigen Schalen wälzt er sich durch die Welt, in Planetenhüllen rollt er um die Sonne Jahr um Jahr und er weint seiner eingekerkerten Verborgenheit und der langen Zeit bis dahin, wann er Flamme wird und heller Wahn: ich bin gewiß krank und warte nur darauf, ganz krank zu sein.

Glaubt nicht, daß ich ängstlich bin, wähnt ja nicht, daß ich ein Zittern mit harten Zähnen zerbeiße, ich halte meinen Geist schon[53] fest, ich zwinge ihn schon durch, auch wenn ich im Nebel versunken bin, auch wenn ich im Stein vergraben bin, auch wenn ich aus dem Herz des Kraken herabfiel in diese Tiefe, denn – im Frühjahr, im Frühling werde ich auf mein Haupt Schnee und Sonne streuen. –

Es ist der siebente Tag nach dem heiligen des vorigen Monds, an dem die Erde sich auftat und mich verschluckte. Nun werden sie sich oben, die Tiere und glückhaften Narren, an das gähnende Nichts, in das sie vom Flur aus treten und durch das sie leise schwindelnd auf die Straße hinabsehen, haben gewöhnen müssen, wer weiß! sie haben einen Verschlag gebaut und haben für den größten Teil des Tages alles vergessen. Nur die armen Male, wenn die Sorge müde wird und eine kleine Weile schlafen will, werden sie bang und betroffen vor den Brettern stehen bleiben, meine Wirtin und mein Mädchen, das zu ihr geflogen – nun schläft sie Wand an Wand mit dem Nichts; ob sie wohl ihre nackten Glieder noch dehnt und reckt und mit einem wilden Male wie besessen die Kissen von sich wirft? Mir ist, als träten zuweilen ihre Schatten in mein Zimmer und sähen mich scheu und traurig an – geht! geht! Ich schreibe an diesem Buch und muß weiterschreiben, hohe Berge weißer Bogen voll, ich werde anfangen müssen, kleiner zu schreiben, ganz klein – – – Der Journalist! Da! Da! mufft immer fort, murrt ewig hin – horch! horch! durch den Stein, dicht nebenan durch den feuchten harten Stein, trippelt, trappelt, stapft er auf und ab, der an seiner unzulänglichen Unfähigkeit, an seinem armen Halb und Halb Gescheiterte.

Was stapft er hier und wandelt im Kreise um? Taktmäßig, Ticketack Ticketack wie der Pendelschlag der Uhr? Jetzt unter mir, jetzt über mir – der Hund! Ob er ein Astloch sucht? Er will kolportieren, der Reporterhund! Aber ich werde ihm eine Falle legen, ich werde ihm eine Alltäglichkeit schreiben, eine Banalität, die er kapiert – die du bei deiner Kurzdarmigkeit eilends reportieren wirst!

Es ist der siebente Tag und ich habe folgendes an mir konstatiert. Oh! springe auf dich und reite auf dir! Oh Liebster, halte an dich! Es ist, als seien an meiner Schädeldecke elf Bindfäden befestigt – halte sie fest, lüfte nicht für eine Sekunde die Hand! Denn wenn du losläßt – –! Noch nicht, es ist noch nicht an der Zeit, der Funke ist noch nicht zur Flamme geworden, der Stein[54] der Erde ward noch nicht brüchig genug und morsch, ich halte die zuckenden zitternden lüstern zerrenden Fäden noch fest – noch nicht!

Ich habe folgendes an mir konstatiert. Die Zeit, in der mein Geist, verbohrt genug, noch Sturm lief gegen das Seiende und sich im heroischen Pathos an ihm töricht zerschmetternd gefiel, die Zeit, in der noch Schwung in mir war und ich mir noch nicht allstündlich die Sporen in die Flanken treiben mußte, jene Zeit, da ich in den Schatten Gottes tobte und in das Ding der Dinge dringen wollte mit Stanzen und zürnenden Apollos, jene Zeit, da ich mit harten Flügelschlägen eben diese Schatten vertrieb und mit grimmigem Hohn dann eben diese Flügel zerhieb, kehrte nach jener Infektion noch einmal wieder und raste sich in einem lodernden Liebesparoxysmus aus, dann fiel sie ab von mir und ließ mich zurück für immer nackt und bloß. Aber in meiner Blöße bewahrte ich das Bewußtsein und den Stolz, einmal fliegend Sturm geritten zu haben, und hütete klar meine wuchtig mir eingetriebene Weisheit von der grandiosen Lächerlichkeit aller unserer Wahrheiten, es war hart in meine Mneme gemeißelt:


Des Daseins Proteusmaske scheint und klingt

und mag dem Kind als Wirklichkeit genügen,

es wird zu Lust und Tränen, blind sich fügen

je wie der Popanz ihm entgegen springt.


Du möchtest ihn enthüllen – ach! es dringt

kein Blick durch diese schillernd bunten Lügen

zu dem, der mit geheimnisvollen Pflügen

das Chaos in die Kosmosmaske zwingt.


Nenn ihn das Furchtbare und deine Welt

sein Maskenkleid und bleibe dir bewußt,

daß jede Maske käuflich ist für Geld –


und diesen Glauben, hörst du Glauben, mußt

als Sprungbrett du betrachten, das dich schnellt

zu aller Deutung grenzenloser Lust.
[55]

Aber das Sprungbrett schnellte nicht mehr und über diese »Weisheit« und ihren kleinen Stolz kam ich nicht hinaus und – wurde müd und taub und blind. Wohl kannte ich meinen in eine neue Zeit sehnsüchtig winkenden Raritätenwert und betonte ihn um so mehr, je mehr ich fühlte, daß er mein Einziges und Letztes war, aber mein impetus verfaulte und ich wurde traurig steril. Da begann ich zu trinken und abermalen die Weiber zu lieben um ihrer Brüste und nackten Bäuche willen und modelte mir eine feine Rauschtheorie: das Ungeheure ist nur zu ertragen im Rausch und alle unsere Handlungen sind narcotica. Aber als diese narcotica auch anfingen, mir zuwider zu werden und ich erkannte, daß die Flucht zu ihnen auch nur eben eine Flucht und Feigheit war, blieb mir nichts als der resignierende Satz: einsam und rein! und das traurige Symbolum des Steins, hart und taub und kalt wie er und ganz steril. Auf meinem Schreibtisch, plump und stumm und wund von Gletscherschliffen, aus der Heide brachte ich ihn heim, ein alter Heidenstein und dummer Reim:


So bist du mir das Symbolum der Welt

in deiner eisigen Unnahbarkeit

und deiner schweigenden Gleichgültigkeit;

gefährlich nahe schon dem Nichts gesellt


hast du dich auf den höchsten Stolz gestellt

und hebst dich herrisch aus dem Strom der Zeit

und über des Geschehns Formlosigkeit

bleibst du der einzige, der Form behält.


Oh kalten Gleichmuts lautberedter Hohn,

des Unbegreifbarn greifbare Erscheinung

hast du gepreßt in einen Klumpen Ton


und nur ein Ding, ein Nichts in unserer Meinung

verharrst du stumm auf deinem kühlen Thron

als dieser Welt sarkastischste Verneinung.


Und meine Sprache ward glatt und kokett und anstatt Handwerkszeug und Meißel zu sein, ward sie autokratisch und tat nichts als nur mit Worten spielen, mit Worten spielen nur des[56] Spielens und müden Spielens und des koketten Klingens wegen. Ich bin gewiß so weit, wie ich wollte, hart und taub und kalt und ganz steril, schimmernd in toten Farben, klingend in toten Klängen. Und ich pflege eine müde böse Lust der Selbstbeobachtung, eine Lust, die mich immer schneller meiner Auflösung zutreibt und die doch keine neue Welt aus sich springen läßt. Denn das agens ist nur die Eitelkeit, grausam gegen mich sein und die letzten Funken meines nun bald völlig erlöschenden Intellekts melancholisch spielend genießen zu können – ein ganz normaler Verlauf: voilà »das langsame aber unaufhaltsame Schwinden des Intellekts.« Sehen Sie, ich bin gewiß ein Mensch, an dem die Natur das Experiment einer langsamen Zerstörung der Psyche durch Reduktion der Nervengewebe anstellt; ein faulender Leichnam, eine stinkende Leiche – aber ich reiße sie durch, du Hund!

Horch! horch! er trappelt unruhiger und schneller, wie einer, der zu Stuhle muß! Husch! husch! Der Darm ist kurz und die Reue ist lang – Lampenputzer ist mein Vater – husch! husch! – am Berliner Stadttheater – tapp! tapp! – Ein kurzdarmiger Reporter – nun ist er oben, es ist mäuschenstill – klack klack klack! – er exkrementiert.

Es ist totenstill und abertausend kleine Korkenzieher, immerfort, sie bohren in mir immerfort, in meinem Blut, in meinem Saft, in meinem Hirn, ah! dieser rotgescheckte Blumenkohl! Wie schwer er ist, wie Stein; meine Glieder – schwer wie Stein, mir schwindelt. Meine Füße schmerzen und die schweigsamen Bohrer, immerfort, sie bohren in mir immerfort, sie schicken ihr Gift stoßweis in mein Blut, sie machen meine Knorpel brüchig und meine Knochen morsch. Sie fressen an meinem Mark. Und mein Hirn, mein einst so wackeres Boot und zähes Wüstenreittier, schrumpft zusammen und wiegt leicht wie ein dummes Daunenkissen, ein kleines wulstiges Tändeldiwanschlummerkissen, das hat eine hortensienrot gefleckte Decke, deren Zeichnung sieht aus wie die eines feinen Achats. Und meine Wirbelsäule wird weich und wuchert wie krankes Kirschenholz, das Gummi schwitzt. Mein Blut fließt träg, meine Adern verdicken sich, verschließen sich und in meinem hortensienroten Hirnblumenkohl wachsen tückische Granulationsgeschwüre, die degenerieren fettig und verkäsen und werden schwielig fibrös und erlangen eine harte Konsistenz: verkalkte Gummiknoten wie Taubeneier groß liegen in meinem armen Hirn, gallertige Flächenmassen, grau, graurot,[57] von schleimiger Weichheit, gleich Bleikugeln und fließendem Hydrargium drücken sie sich in den einst so köstlichen Teig und lassen meinen Kopf in einem dumpfen Schmerz schwimmen; sie machen meine Augen starr und mein Gesicht gedunsen und bleich und lassen ruhelos über seine verwaschenen Züge ein Wetterleuchten huschen, das sieht aus wie bei einem, der römische Elegien liest. Ich taumle, meine Hände zittern und stoßen sinnlos auffahrend in die Luft, meine Stimme bebt, meine Zunge lallt und der Schlaf kam schon lange nicht mehr zu mir. Ich rieche Petroleum und tote Vögel, es saust mir im Ohr und mein Zimmer dreht sich wie eine magische Laterne um mich, immer um mich – mein Zimmer? ich liege in einem Stall unter brünstigen Kühen – fi! wie das auf mich grün und gelb aus ihnen strullt in einem zwirnsfadendünnen Katarakt! Man hat mir meine linke Seite gestohlen und meine rechte ward Stein, meine Gedärme fraß man auf, ich bin innen hohl wie eine Trommel und meine Lunge ist in den Abort gefallen, man hat mich mit einer Packnadel gestochen, da entwich die Luft mit Gestank und ich bin zu einer grünen Tomate geworden, einer grünen Haselnuß, in der sitzt ein Wurm – oh! alle Himmel! ich bin eine faulende Leiche in einer Gruft von Stein, eine Steinnuß, innen faul und stinkend, die man nach der Sonne wirft – – –

Es ist totenstill – springe auf dich, wir reißen dich durch! Es ist ja nur dein Zimmer, das in die Erde fiel, kein Spuk dringt durch den unendlichen Stein und es ist auch keine Gruft, die Fäulnis birgt, es ist – – die Wände weiten sich, die Decke steigt, der Boden fällt, sie flüchten allzusamt wie ein Blitz zurück, bis sie mit einem Krach gegen die Oberfläche der Erde schlagen. Und das – Zimmer fliegt und kreist um die Sonne und fährt in weiten Spiralen brausend durch die Welt –. Ich fühle es nicht, ich empfinde nur gedanklich die Wucht des Flugs, sonst hänge ich mitten inne in dem ungeheuren Steinhöhlenwürfel, zappelnd wie eine Fliege in den Spinnefäden der Gravitation – der Gravitation? Es braucht nur einen Ruck, um solch Gedankendings zu zerreißen!

Die Welt – ein Produkt von Stoff und Raum und Zeit; du kannst auch für das eine das andere setzen oder für alle das Wörtchen Energie: denn die Stoffe sind in diesen Tagen zur Energie geworden; einstmals nannten wir sie die Ursachen unserer Empfindungen, und die letzte Ursache ihrer Änderungen untereinander[58] und ihrer veränderten Beziehungen zu unseren Sinnesorganen, aus welchen Beziehungen die Empfindungen wachsen, nannten wir die Kraft. Und da wir es nicht zu Ende sophisten können, wie die Kraft – was ist die Kraft? wirklich die Funktion bewegter energetischer Raumzentren? – am Stoffe angreift, – vielmehr: wie die Kraft die Funktion des Stoffes ist, denn die Ursächlichkeit haben wir eskamotiert – so ziehen wir das, was wir intensiver in unseren Muskeln fühlen, die Kraft, der schon objektiveren Tastempfindung vor und setzen das angenommene Objekt dieser Empfindung, eben den Stoff, jenem subjektiv sehr »bekannten« und eindringlichen Gefühl gleich und konstatieren statuierend: Materie und Kraft sind nicht zwei Dinge, sondern die Materie – die wir bereits glücklich als Empfindungskomplex definiert hatten – besteht selbst aus Kraftzentren, deren konstante Widerstände sich uns als Stoff darstellen – es ist alles Energie. Und ähnlich ist es um Zeit und Raum bestellt: die Zeit ist die Bedingung, bzw. die Folgeerscheinung der Energie – geschieht nichts, so steht die Zeit still, und steht die Zeit still, so kann nichts geschehn – und da letzten Grundes nur Gleiches Gleiches bedingen und Gleiches nur aus Gleichem fließen kann, – – – und andererseits ist die Zeit die vierte Determinante des Raumes und da die drei anderen Determinanten des Raumes nur vollziehbar sind mit Hilfe der Zeit, d.h. da ein Neben-, ein Hinter- und ein Übereinander nur vorstellbar ist mittels der Zeit, ich muß die Länge, Breite und Höhe erst abschreiten, wenn ich einen Maßstab für sie, einen Begriff, eine Vorstellung von ihnen haben will, – – – es ist alles Energie. Und die Energie ist die Fähigkeit, Arbeit zu leisten, und »Arbeit« ist und bleibt die auf einen Zweck gerichtete Tätigkeit; es ist also das einzig Wirkliche der Welt eine Fähigkeit? Eine Möglichkeit? Ein etwas von unserem Willen, von unserer Notdurft Abhängiges? Die Welt ein um Lohn arbeitender Proletarier? Nur ein Substantiv auf -keit, ein Wort.

Wir haben uns wieder selbst in die Dinge introjiziert; und die Dinge sind hinwiederum eine Introjektion unseres Ichs – eines Allgemeingefühls – in die Inhalte unserer Wahrnehmungen. Und das Ich –? Ein Gefühl? Im »Gefühl« steckt bereits Subjekt und Prädikat: Ich fühle Mich. Und dieses Ich? Nun, vorläufig ein Wort, ein Substantiv; und wenn ein Substantiv die Subjektsfunktion übernimmt, so ist es damit ein Kraftzentrum geworden, und[59] zwar ein objektiv vorhandenes, als dessen Wirkungen die wahrgenommenen Vorgänge aufgefaßt werden.

Und die Korrelate der Kraft, die Kapazitäten für Energie, d.i. die Masse, diese Massen der Körper ziehen einander an; und da die Körper Molekularbewegungen von Energiezentren sind und die Energie letzten Endes eine zweckzielende Tätigkeit, ein Substantiv auf -keit ist – – –

Mit Worten läßt sich trefflich streiten!

Doch die Körper sind auch Komplexe von Empfindungen, von Licht- und Tastempfindungen, sie sind Kettenringe von Adjektiven und zwar bilden diese das einzig Positive der Welt! Wir haben sie aber zu einer Nebensache gemacht und ihre angenommenen Ursachen in und außer uns zur einzigen Wirklichkeit, zum Ding, zum Substantiv, und von dem weißt du eben nichts weiter, als daß es ein Dingwort ist und letzten Grundes du selber dieses Dingwort bist. Und du –?

Doch seien wir naiv und unschuldig wie die Straßenkehrer und regierenden Fürsten und lassen die Körper stofflich raumerfüllend sein, undurchdringlich, kraftbegabt und ponderabel: dann ziehen ihre Massen einander an. Und da wir an eine unmittelbare Fernwirkung nicht mehr glauben mochten, an keine Distanzenergie und an keine appetentia, an keine propessio der Dinge zu ihrem proprium bonum, so legten wir den Äther zwischen sie. Er war zwar nur der Sohn der Finsternis und der Nacht und blieb auch als die obere strahlende Schicht der Luft immer noch etwas Göttliches, aber mit der Weile füllten wir mit ihm geheimnisvoll stofflich-unstofflich, ätherisch das Universum aus: es muß etwas da sein, folglich ist etwas da und also existiert der Äther. Warum auch nicht? – Aber er hat sein Dasein nur seinem schönen Namen und unserer Not zu danken. Und mit diesem Imponderablen, Körperlosen und doch Körperlichen – denn so muß er sein, folglich ist er so – pflasterten wir den Raum und schlugen eine Brücke von Stern zu Stern und legten ihn als Kitt und Mörtel zwischen die Atome. Und zwar so wirksam haben wir die Brücke geschlagen und so dick den Mörtel gelegt, daß heute nicht mehr die »Atome« warm und hell und elastisch sind, sondern dieses übernimmt alles der geduldsame Äther; in den letzten Tagen ist es gar die einzig dauernde Substanz geworden, die zwar Masse hat, ob auch Schwere, das ist unbestimmt. Und diesen Äther – d.i. den Sohn der Finsternis und der Nacht oder die Allem zugrunde[60] liegende Substanz – zerlegen wir in Atome, wie wir es schon mit den ponderablen Körpern getan und, bei dieser Zerfällung des mit Qualitäten erfüllten Raumes in kleinste Teile, eine Verwechselung begangen hatten zwischen den gedachten kleinsten Teilen des Raumes und den letzten undenkbaren Teilen des Stoffes; – diese Ätheratome rasen regellos und mit derselben unnennbar hohen Geschwindigkeit durcheinander und treiben die Körper, die gegenseitig eine Art Schirmwirkung ausüben – die Körper, deren letzte Bestandteile notabene von Ätheratomen umkreiste Atome sind, die hinwiederum dichtere Ätheratome darstellen – aufeinander und schaffen derart die Gravitation –: die Ätherstoßtheorie.

Der Äther ist aber auch ein Kontinuum, in dem die ponderablen Körper schwimmen und Pulsationen aus führen, deren Wirkungen sich als longitudinale Ätherwellen fortpflanzen und dadurch die Gravitation erzeugen –: Pulsationstheorie.

Oder – Druckdifferenzen im Äther veranlassen Strömungen und durch diese die Gravitation; und wenn die Druckdifferenzen sich ausgeglichen haben, die Blähungen verflogen sind und die Ätherwinde nicht mehr wehen, stehen dann die Sterne still?

Dann gibt es noch eine Handvoll elektromagnetischer – Wortzusammenkuppelungen und physikalisch-mythologischer Weisheiten. Elektromagnetische! Das Sinnenfremdeste ist in diesen Tagen körperlich geworden, ein Ionenphlogiston! Die Elektronen sind nichts als die Knoten und Wirbel des Äthers, die Atome sind nichts als die Komplexe der einander anziehenden Elektronen, und die Körper sind nichts als die Komplexe der Atome – – eine süße Kette, eine feine Schachtelwelt – oh heiliger Sohn des Erebos und der Nyx!

Aber warum soll die Welt nicht ein allumfassendes Bewußtsein, ein Gedanke sein, der sich denkt und dessen Logik die Naturgesetze sind. Denkt? Ich denke, d.h. ich spreche innerlich, heißt nichts, als ich habe in dem Teil der Hirnrinde, der die Sprechwerkzeuge innerviert, eine Erinnerung an die Bewegung dieser Sprechwerkzeuge, oder an die Laute, mit denen ich unwillkürlich eine Empfindung begleitete und sie als inneres oder äußeres Klangbild zum zweiten Male in mir schuf; kurz, Ich – das ist ein Etwas, das Erinnerungen hat –, habe Erinnerungen. Cogito – das sagt nur: etwas hat das Bewußtsein seiner Dauer. Seiner Dauer? Seines Seins?[61]

Auf das »Sein« kommt es hinaus? Auf das Sein, als das einzig Wirkliche? Aber um dieses einzig Wirkliche zu finden, muß ich von allem Wirklichen abstrahieren; denn das Sein bleibt übrig, wenn ich von der Wirklichkeitswelt, nämlich von dem sich gegenseitig bedingenden und tragenden Netz der Eigenschaften, Stück für Stück alles nehme, was begriffen werden kann.

Begriffen werden kann? Begreifen? Das heißt nicht einmal: ich erkenne die Identität zweier oder mehrerer Vorstellungen, sondern nur: ich führe eine neue Empfindung, eine neue Vorstellung auf alte, gewohnte, nicht mehr mir fremde, nicht mehr mich schreckende zurück. Und alles in Allem: Worte, welche die Empfindungen noch einmal setzen wollen, flimmernde Worte. – Die Welt, das ist einmal deine Sprache, und einandermal dein Sinnenkreis; aber in der Sprache setzest du die eine Seite der Welt dreimal, einmal grundlegend indem du sie mit deinen Sinnen empfindest, dann Ja zu deinen Empfindungen nickst und sie in Worten nachzubilden suchst und schließlich in deine Nachbildung dich selber hineinprojizierst, mit deinem Ichgefühl, dem Subjekt, und deinem Muskelgefühl, dem Prädikat; und die Welt, deren andere Seite du mit deinen Sinnen erleben und genießen kannst, die erlebst du erst rein, wenn du wie die Kuh oder der weltentrückte Buddha wortlos sprachlos gedankenlos, reaktionslos, – mystisch schaust; als welches mystische Schauen dann nicht viel von einem erhabenen Dösen zu unterscheiden ist. Aber die Reaktion und die Sprache ist deine Welt! Und die Sprache – – –

Das Netz zerreißt, die Fäden der Gravitation schnellen zurück und rollen in bangen Spiralen sich blitzschnell auf und ich hänge im Freien, ich breite meine Flügel, ich schöpfe Luft und atme tief, ich steige brausend hoch und kreise wie ein Geyer in meiner Höhle.

Und es ist, als wäre in ihr die Sonne untergegangen, wie sie droben jenseits der dünnen Schale untergeht und kurz nach ihrem Untergange ein kaltes Meergrün über den Himmel breitet. So meergrün und so sehnsüchtig zart wie die Sprache kleiner Märchen füllt die Farbe meine Höhle, wie die Sprache kleiner Märchen meine Riesenhöhle. Auf leichten weichen Flügelschlägen schwimme ich, ein einsamer Punkt, durch das ungeheure Märchen, durch die endlose sehnsüchtige Süßigkeit. Jetzt bin ich nur noch ein Wort, ein kleines zartes Wort, das mit einer verzuckerten[62] Traurigkeit unsterblich durch die Jahrtausende fliegt, durch die Sprache der Menschen, durch ihre märchenschöne Welt, durch alle ihre Geheimnisse und Rätsel, die doch gar keine Rätsel und Geheimnisse, die feine süße Klänge und spielende, ein ganz klein wenig verlogene Kaprizzios sind, singe und fliege ich; und ich bin nur einer dieser Klänge, nur ihr lautester, nur der, zu dem sie alle immer auf und nieder klettern – – Ich! so heißt dieser Klang, Ich! das in sich das Du? schließt, und welches Du! zu sich selber sagt und in dem Du immer sich selber sieht – du märchengrüne Welt! Du meine goldene Verachtung und über alle Himmel fliegender Stolz!

Ein Tropfen Blut fiel in meine Welt – der zerfließt und zerstiebt und wirft die Ahnung von einem noch ungeborenen Pfirsichrot in meine grüne Höhle, in meine ungeheure Weite. Woher kam der Tropfen? Fiel er leise langsam aus meinem Herzen, dessen Riß noch nicht ganz vernarbt ist, jener kleine wehe Riß, der sich auftat, da ich erkannte, daß alles nur ein grünes Höhlensprachenmärchen ist? Aus meinem Herzen, das immer noch eine zarte dünne Sehnsucht weiter tragen möchte nach dem harten Stein, dem kalten Schnee und wer weiß? nach der weißen Haut einer runden Brust, einen törichten Kinderwunsch nach der wirklichen Wirklichkeit?

Ein Tropfen Blut fiel in meine Welt! Rot, rot – der wogt und wächst und schwillt, dick, rot, feuerrot, meine Höhle ist ein ungeheurer Wirbel von Purpur und Rot, der reißt mich fort in seiner Strudelflucht von Feuer und Blut. Wie ein Kork auf einem Strudel schneller und schneller kreist – ich fliege nicht, ich rudere nicht in dem brausenden Blut, ich breite meine Geyerflügel und lasse mich wütend treiben. Aber jetzt rege ich meine Flügel, jetzt peitsche ich das brennende Blut, jetzt – muß ich schneller sein als der wütende Strudel, ein Strudel im Strudel, eine Flucht in der Flucht, denn – hinter mir hat der Strudel einen Schaum geworfen, der hat sich zu tausend gierigen Teufeln geballt – flieg! flieg!


Wir sind die Welt: Not, Brot und Brunst!

In deiner Hüllen Zauberkunst:

in deiner Sinne Farbenglut,

in deiner Sprachen Märchengut

herrscht herrisch der Instinkte Wut![63]

Versteck dich nicht – wir kennen dich:

aus jedem Finger spricht Verrat,

aus deiner erdenfernsten Tat

schreit laut dein notgepeitschtes Ich!

Heb dich nicht hoch – wir fliegen mit:

aus deines Fluges höchstem Glück

fällst du uns rettungslos zurück:

in Kot nach deinem Himmelsritt!


– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – aber der Regen spülte seine silberglänzende Aschenkruste fort und ließ ihn dastehen in einem stumpfen Glanz, den Wald, durch den das Feuer fuhr; in heulenden Flammen fuhr es durch ihn und nun fällt der Regen sickernd über ihn und es ist wie ein Grab, ist, wie wenn eine Sintflut von Pech über ihn gefallen wäre und hätte nur seine höchsten Wipfel grünen lassen, aber auch deren Blätter sind welk und werden über Nacht zu Boden fallen. Ich bin ein ausgebrannter Wald, eine Sintflut brach über meinen Geist, eine Sintflut radikalster Öde und tiefsten Vergessens, und ließ nur noch die höchsten Gipfel stehen, aber auch über die wird über Nacht die Woge schlagen – – –. Kein Laut, nichts Weißes, nichts Buntes, kein Vogel singt und kein Wind weht, nur in dünnen Bächen sucht sich der Regen in den schwarzen Rindenrillen einen Weg; denn es regnet nicht eigentlich, es liegt nur ein großes nasses Tuch über dem Wald und aus dem sickert die Feuchtigkeit an den Stämmen herab – – ich will ihnen die Zunge ausstecken! – – –

Es ist totenstill; zwischen den schwarzen Stämmen her sind meine Wände gekommen und haben mich schweigend eingeschlossen, stumm sitze ich wieder mitten im Grund der Erde.[64]

Es ist totenstill – – es knistert! Es knackt – es bricht irgendwo und leuchtet – es wird Nacht und die Lampe erlischt – es poltert donnernd und irgendwo stürzen Bergemassen ein – es schlägt eine Flamme lohend hoch und verbrennt die Welt – – – – – – welch weißer Glanz?[65]

Quelle:
Gustav Sack: Paralyse. München 1971, S. 35-66.
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