[66] In jener Gewitternacht war Erich ein Verlangen gekommen, das Schloß wieder zu sehen; er war seit dem Herbst des vergangenen Jahres nicht mehr dort gewesen, da er gehört hatte, es werde wieder bewohnt, – aber heute an einem heißen Junitage war er hinausgewandert, sei es auch nur, um sich an der Geschmacklosigkeit, verfallene Gebäude wieder wohnlich zu machen, zu weiden. Er war den Weg über die östlichen Höhen und das Dorf gegangen und wollte sich auf dem Heimweg durch das abendliche Bruch für den ausgestandenen Ärger entschädigen.
Aber als er schon von der Heide aus eine Fahne auf dem Turm flattern, und als er näher kam, das Geländer der Brücke angestrichen und mit Maien bekränzt und den Torbogen mit Fichtenkränzen und Papierblumen umwunden sah, machte er grimmig kehrt, ging in eine Wirtschaft und freute sich an seinen Verwünschungen,[67] diesen Überrest aus kraftvollen Tagen in einem Narrenkleid wieder sehen zu müssen.
Dann werden sie dir auch deinen Efeu abreißen, der dich bisher geschützt, und deine entblößten Mauern werden sie mit Cement beklecksen, deinen Alant und Eibisch werden sie dir geraubt, deine Weinrose ausgerodet und dafür Teppichbeete gezirkelt haben, deine hallenden Zimmer haben sie renoviert, deine rauchgeschwärzten Kamine vermauert, deinen Rasen mit unfruchtbarem Kies bestreut – haben dich verhunzt, das Narrenvolk! Zum Brandstifter möchte ich werden: lieber Schutt und Asche, den Pflug darüber und die allmählich verklingende Erinnerung an ein Schloß mit hohen Türmen, das hier einst gestanden, als ein cementbeworfener renovierter Zwitter!
Wie ein Kneifer auf dem Visier einer Ritterrüstung mutet mich dieser Cementbestrich auf den rohen Sandsteinblöcken an – versucht doch nicht zu mischen, was nicht zu mischen ist! Die Zeit ist kein Zusammenhängendes, kein absolut Gegebenes; die da haben in ihren harten Köpfen die ihre geschaffen, ihr schafft euch die eure: wie könnt ihr die Produkte mischen, da eure Köpfe verschieden sind? –[68]
Auf seine Frage erzählte ihm die Wirtin, das Schloß sei zu Ehren der Grafentochter geschmückt worden, die vor acht Tagen – wissen Sie, bei dem großen Gewitter – angekommen.
Weswegen ist denn noch die Fahne auf dem Turm? –
Ja, in der ersten Begeisterung sind die Leute von außen auf den Turm gestiegen und haben sie da aufgesteckt, und jetzt wagt sich keiner mehr hinauf. –
In der ersten Begeisterung? –
Nun ja, sie freuten sich doch. Sie sind ja auch für heute Abend zu einem Fäßchen Bier geladen. –
Freuten und begeisterten sich für eine Puppe, für einen Zieraffen, der von ihrer Hände Arbeit schmarotzt. – Ist denn schon vorher oder erst des gnädigen Fräuleins wegen der Efeu abgerissen und das Schloß mit Cement beworfen worden? –
Das Schloß mit Cement beworfen? Wie kommt Ihr darauf? –
Da zog er die Stirn in Falten, zahlte seine Zeche, grüßte und ging. –
Die wird mich für einen verfluchten Sozialdemokraten halten, – dachte Erich, als er außerhalb[69] des Schloßbezirkes den Bach entlang stapfte – und doch ist mir nichts widerlicher als dies gröhlende Gezänke um Lohn und Brot. Aber ebenso wenig kann ich für den irgend ein Gefühl der Hochachtung oder gar Begeisterung hegen, der durch seine Geburt und nicht durch eigene Kraft die Früchte fremder Arbeit an sich reißt und vergeudet. Nun – das mag mich wenig kümmern – ich muß erst mit mir klar sein, ehe ich mir über das Wohl und Wehe meiner erbärmlichen Landsleute Gedanken mache.
Und wann wird das werden? Kann das werden? – Aber soll sich Natur nicht doch einmal selbst ergründen? – Vielleicht in einer anderen ihrer Erscheinungen und eben nicht in mir – wozu aber bin ich denn da? –
Er blieb stehen und bohrte verbissenen Blicks den Stock in den torfigen Grund –
Ein spöttisches Lachen riß ihn hoch: Es wird Sonnentau sein, Herr Botanikus! –
Es ist böser grundloser Sumpf – was suchen Sie hier? – rief er sich aufrichtend und den Stock, der tief in den schwarzen Moder eingesunken, herausziehend dem noch immer spöttisch ihn anlachenden Mädchen zu, das schlank und schön zwischen den Erlen am anderen Ufer stand.[70]
Einen Weg über den Bach. –
Wohin? –
Zum Schloß – zu Ihnen, wenn Sie wollen.–
Hier ist der Bach breit und seicht – waten Sie doch durch. –
Ich muß zum Tanz! –
Haha! sind Sie das famose Fräulein, das mit Böllerschüssen, Täteretä und wehenden Fahnen kam? –
Dann watete er aber trotzdem hinüber, nahm sie wortlos auf seine Arme und schickte sich an, sie hinüber zu tragen. In der Mitte des Baches blieb er mit seiner Bürde stehen und fragte, ihr nahe in die Augen blickend:
Also Ihretwegen hat man mir das Schloß verhunzt? –
Schätzen Sie mich niedriger als das Schloß? – Tragen Sie mich hinüber, – ich schenke Ihnen morgen eine Rose. –
Ah, so herum willst du –? –
Warum nicht? Ich schenke dir eine Rose! –
Und wenn ich sie nicht mag? –
Ha! ich heiße Loo – und nun Gute Nacht, mein hübscher Herr. –
Als Erich über die Höhe ging und im Mondschein die fernen Türme und die schlaff herabhängende[71] Fahne sah, duftete der Porst so narkotisch und jauchzte und klagte eine Nachtigall so feurig und traurig, daß er den Kopf schütteln und sich zusammenreißen mußte: Ich will es nicht! ich will meine Sehnsucht – hoho! meine Sehnsucht! aber ich will sie nicht verheddern mit der Brunst! –
Aber das Lied, das dort oben in der Nacht schwamm, klebte an ihm und folgte ihm tückisch in Schlaf und Traum; es half ihm nichts: die Welt war eine schluchzende unaussprechliche Melodie, und ihre sich jagenden Erscheinungen ihr immer gleicher immer wechselnder Text.
Mit einem leichten Blut, aber einem Verstand, der in den Stunden, in denen er dieses nicht zu zähmen hatte, nicht von Langerweile geplagt war, sondern vorsichtig und neugierig in die Welt lugte und sich auf seine Weise bestrebte, in der Bilder Flucht das Beharrende zu finden, und deswegen mit ein wenig Melancholie und guten blauen Augen: so war ihr Vater auf dieser Welt angetreten. Zu einem Gelehrten zu ungeduldig, zu einem Landedelmann zu regsam und zu einem Beamten mit zu guten blauen Augen beschenkt, war er Soldat geworden und[72] hatte in den drei Kriegen mitgekämpft. Und nun, zu Geduld und Gelassenheit gealtert, hatte er den Rest seines Lebens seinem still neugierigen Verstand zur Verfügung gestellt. Und da er eben geartet war, in den Dingen nur nach einem Dauernden zu suchen und nicht zu fragen nach ihrem wie? und woher? und weshalb so?, ging er gemächlich und mit fröhlicher Traurigkeit an der großen Grenze entlang, und der einzige Blick, den er hinüber tat, war die Ahnung und die zögernde Bewunderung eines Unerklärlichen.
Und hatte ihm bisher das Schloß mit seinen reichen Erträgen aus ausgedehnten Ländereien und Waldungen ein sorgenfreies Leben gewährt, so sollte es ihm jetzt in seiner Stille und Abgeschiedenheit erst das rechte geben. So lebte er seit einiger Zeit zwischen seinen Volieren und Aquarien, seinen kleinen Gewächshäusern und Algen- und Pilzkulturen und war nebenbei bedacht, seine reichen Sammlungen zu vertiefen und zu erweitern. Manchen klugen Blick tat er so in das Leben, seine weitverzweigten Beziehungen, seine Wiederkehr und ewige Änderung – Einblicke und sich klärende Gedanken, die ihm bei einem eigentlichen und polemisierenden oder[73] gar lehrenden fachwissenschaftlichen Studium ewig fern geblieben wären.
Er hatte zwei Söhne und eine Tochter erzogen, so gut wie er wußte, und die waren ihm verdorben: so mochte sein jüngstes Kind seine eigenen Wege gehen; es geht ja doch alles auf das hinaus, wo es hinausgehen muß. – Nun war sie auf ihren eigenen Wunsch hierher gekommen und durfte teilnehmen an seinen kleinen Forschungsreisen und geduldigem Ausharren über Drahtglocke und Mikroskop. Und sollte sie wieder hinaus wollen in die Puppenwelt, so mochte sie es tun; vielleicht würde sie eine kleine Sehnsucht mitnehmen nach dem ruhigen Land, in das er sie einen Blick hatte tun lassen.
Als Sechzehnjährige, blauäugig, schön und unbändig lüstern, bei der ersten Gelegenheit das Leben, wie sie es auffaßte, an sich zu reißen, fing sie ihr Leben an. Aber da ihre Ritter dumm oder roh waren, blieb es bei einem unruhvollen, naschenden, stets um das Ende bangenden Genießen. Und je älter sie wurde, desto weniger war sie befriedigt, desto heftiger, seltsamer und tiefer schien ihre Glut – desto näher rückte der Überdruß, desto greifbarer, drohender stieg in der Ferne magenfarben der Ekel hoch.[74]
Da war sie zu ihrem Vater geflüchtet, um mit Absicht sich in seine stille Beschaulichkeit hineinzuleben, das mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Gedanken wieder zu denken, was sie wahllos über die Natur und ihre bizarren Erscheinungen zusammengelesen hatte. –
Sie stand am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. In dem Efeu zirpten die Sperlinge im Traum, ein Igel schmatzte und prustete unten an den alten Turmmauern, die Wasserhühner im Schilf lockten und riefen sich, drüben zwischen den Weiden quäkte eine Gesellschaft Frösche ihren Hochzeitsgesang ruhelos, eintönig wie eine tollgewordene ins Wasser gefallene Spieluhr – und tief und schauerlich dumpf rülpste von den Teichufern her eine Rohrdommel ihr Ü rump – ü plump pump in die Nacht –; Stimmen gröhlten im Dorf, von dem Bier und Tanz waren die Burschen fortgegangen und machten nun ihren Wünschen Luft in derben Liebesliedern – einige Hunde bellten heulend und klagend zum steigenden Mond – der Nachtwächter ging mit seiner Flöte umher und blies die Stunden ab – ein – zwei – dreimal: Mitternacht.
Ausgewählte Ausgaben von
Ein verbummelter Student
|
Buchempfehlung
Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.
62 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro