Der Abendstern

[273] Eines Morgens, da ein schneidender Ostwind den Himmel rein gefegt hatte, machte Erich sich auf, um einen Gang in den Schnee und die Kälte zu tun. – Der Wind biß in die Haut, und der Schnee knirschte unter den Füßen und flammte auf den sonnenbeschienenen Feldern blutrot vor seinen übermüdeten Augen. Da ließ er Sonne und Wind im Rücken und wandte sich den schwarzblauen Schatten der Kiefern zu. Nun erlosch die Flamme des Schnees zu sanftem Rosenrot, und die Kiefern streiften die Hülle von ihrem blaugrünen Leibgewand ab; auf ihren Kandelabern trugen sie den Schnee in weichen Wattebäuschen, und hoch über ihnen sang der Wind sein stöberndes Lied.

Als eure Bewußtseinsform, als euer euch erklären wollendes Stammeln wandele ich unter euch – o wie ihr mir glaubt, mir zunickt, mir dankt, o wie ihr mich liebt, meine blaugrünen Brüder.[274]

Und das, was sich Mensch nennt, – an die Stirne zeigt's und die Fäuste ballt's, wenn es mich sieht; nennt mich einen Verächter, schimpft mich einen boshaften Narren – und doch war ihre Art auch einstmals unsere Erklärungsweise, unser Stammeln, meine stillberedten Brüder; aber Jahrhunderte flossen darüber, und das, was sich heute Mensch nennt, gehört nicht mehr zu uns: so halte ich mich an euch, laßt uns zusammenstehn, o meine mich liebenden Brüder.

Da begegneten ihm Jungen, die Fichtenstämmchen auf den Schultern trugen, – ihr fröhliches Geplauder verstummte, und ihre eben noch glänzenden Augen blickten scheu und abweisend auf ihn.

Weihnachten ist es, sagte er zu seinem Herzen, ich aber feiere meine Weihnacht unser Kiefern und Schnee, und gedenke sie heute Nacht unter Sternenbrüdern zu halten. –

Er bog um eine Wegecke – da setzte der Wind mit einem Sprung auf ihn und schlug seine brennenden Zähne in seine Haut; die Schatten des Waldes flüchteten zurück, und vor ihm über dem öden Schneeland flogen lange rote Strahlen und begannen purpurne Lichtwogen zu schwimmen – zu kreisen –, auf den Hügeln, die wie[275] riesige weiße Ameisennester ihn umscharten, standen grinsende, flatternde Feuerfratzen – –

Schneevergrabene Baumwipfel und Holzstapel sind es; und ich bin in die abgeholzten Waldparzellen des Lichtenhagen geraten. Muß ich nicht nahe bei der Jägereiche sein? –

Wie eine schrotgeladene Masse fegte der Wind, wie ein Meer rasender Lichtwogen, ein Karneval zähnefletschender Höllenmasken umbrandete der Schnee seine geblendeten Augen – –

Die Eiche möcht ich wiedersehn, die den Enzian beschattete. –

Er stieg in das Schneegewirr, kletterte mühsam über die Stämme und verstieg sich in dem schneevergrabenen Astgewirr, versuchte mit seinem Stock die flimmernden, knisternden und brennenden Massen zur Seite zu fegen –: aber er fand sie nicht, er gab es auf. Nichts, nur toter Schnee, in den der Wind seine Wellen grub. – Und der stieß immer erboster auf ihn und traf ihn immer sicherer mit seinen nadelspitzen Blizzardkristallen – die Augen rollten wie glühende Kugeln in der hämmernden Stirn – Strahlengarben, Lichtkugeln und Globen tanzten in der Funkenluft, berghohe Glutwogen, auf ihnen der Teufel Alleroberster reitend, brachen über ihn ein –.[276]

Ist denn ein tollgewordenes Polarlicht vom Himmel gefallen? Bohrt sein wahnwitziger Dämon in meine Aughöhlen glühende Kreisel? O meine fernen Brüder, weshalb ist der Weg, den wir gemacht, mit Leiden bestreut wie mit Schneekristallen? Weswegen unsere Straße mit bohrenden Qualen gepflastert? Weshalb? O weshalb, meine fernen schattigen Brüder? –

Und als die Lichtfastnacht sich zusammengeballt hatte zu einem tiefpurpurnen unbeweglichen warmen Meer, und der süße Schlaf kommen wollte und hinter ihm der glasäugige Tod, sagte er zu seinen Füßen:

Wie? ihr habt tausend Sprossen viermal des Tages gezwungen, und verzagt vor einer Stunde Wegs? –

Und zu seinen Augen:

Wie? ihr habt das Licht kriechen sehen über die Strudel künftiger Welten wie eine Schnecke, und verzagt vor ihm, wenn es irrsinnt und spukt? –

Dann stülpte er den Hut vor die Augen, hub seine Füße hoch und suchte mit dem Stabe den Weg, und ging nach seinem Heimatsdorfe, das er seit jener Zeit nicht mehr betreten hatte.

Dort forderte er in einem Gasthaus einen Wagen und fuhr heim.
[277]

Am 24. Dezember dieses Jahres war Venus Abendstern; sie ging rechtläufig durch den Steinbock und Wassermann und tauchte nach Sonnenuntergang als erster Stern am Südwesthimmel auf. Wie ein Auge blickte sie aus dem grünrosigen Himmel auf die beschneite Erde, über der der Wind eingeschlafen war, und deren Menschen sich anschickten, ihr süßestes Fest zu feiern.

Auf der blinkenden Eisfläche, die zwischen den Schilfen und Wäldern wie ein Spiegel lag, um das freundliche Auge des Himmels wiederzustrahlen, trieb die Jugend ihr Wesen.

Aber sie sind nicht so laut wie in den vorigen Tagen, und das Pärchen, das jeden Tag sich hier findet, läuft weniger bewegt und keck. Und bald werden sie heimgehen, einer nach dem andern, und werden im Flur stehen, der schon erfüllt ist vom Duft des brennenden Baumes, und auf das Glockenzeichen warten, das sie hineinstürmen heißt in die große Freude. Und die Alten selbst sind heute milde und schön und freuen sich auf den duftenden Karpfen, den sie aus meinen Teichen sich gebettelt haben.

Und alles das wegen eines Glaubens, eines dummen, fremden, überjährten Kinderglaubens, dessen einlullenden Gefühlszauber sie sich alle,[278] sie mögen sonst zu ihm stehen wie sie wollen, für diesen Tag gespart haben. – Wie lange mag es noch währen, bis dieser melancholische Hebräer, dieser arme Gottessohn, endlich gestorben ist? –

Da begannen sich die Teiche zu leeren, der Abendstern verschwand, und im Südosten zeigten Mars und Saturn ihr ruhiges Licht; Geläute erhob sich im Dorf, und Lieder ferner Kindheit wurden laut. Und Stern auf Stern erschien; der Orion flammte auf mit seinem flimmernden Jakobsstab, dem rötlichen Beteigeuze und dem prangenden Rigel; aber sie überstrahlend hing tief im Süden der Sirius und über ihm der leuchtende Alphard –, da zogen die Plejaden ihren stillen Kreis mit der flackernden Alkyone und dem feurigen Aldebaran. Doch über Alles hin und Alles in ihre gewaltige Spirale schließend rollte die Milchstraße daher, Stern an Stern, Punkt an Punkt, Nebel an Nebel – Weltenstaub. Und alles Dies, die funkelnde Silberwelt und das weihnachtliche Erdenland und in ihm mit schwarzen Mauern und grotesken Türmen das alte Wasserschloß, traf sich und einte sich zu einem Großen in dem Geiste des einsamen Mannes, der da im hellen Fenster stand.
[279]

Aus dem Osten der Urgewässer

reckt sich des reifkalten Riesen Dorn,

damit der Schlummer die Menschen betastet,

die Müden auf Erden vor Mitternacht.


Die alte Eddastrophe sprach Erich vor sich hin, als er nach kurzem Schlummer wiederum an das Fenster getreten war.

Die Müden auf Erden – müde von Glück, von Alltagsglück – von Alltagsschmutz. – Sieh, der Nord! Sternenleer und dunstig wie immer – was kommst du mir ungerufen mit deinem alten Götterwort?

In meiner süßen Tölpeljugend sah ich hinter deinen Nebelbänken das Rätsel lauern und ahnte seine Lösung in tobenden Asen und rauhreifigen Joten, Kraft gegen Kraft, Wut gegen Wut, Wille gegen Wille – – bin ich im Kreise gerollt, vierzig Jahre lang, und stehe nun wieder dort, von wo ich ausging? Die Welt – ein Gewirr maßlos ringender Kräfte, ihre Gesetzmäßigkeit und ihr Sinn nichts denn ein stetes Obsiegen des Stärkeren? Ein Kampf, der sich seiner bewußt werden will – weswegen? – ein Gedanke, der werden will – weswegen? –

Kann aber etwas werden wollen, das noch nicht ist? Kann nicht nur ein Wachsen, ein Anders-Werden[280] gewollt werden? – Also die Welt ein Gedanke, der sich seiner bewußt werden will – –.

Doch es schlägt Mitternacht, und Jupiter ist heute rechtläufig in der Jungfrau und tritt um Mitternacht über den Horizont. –


Vor drei Stunden trat der Erste Mond vor seinen Planeten, so werde ich nun seinen Schattenklecks von Osten heranschwimmen sehen. – Ein rotjunges Judenkind auf Heu und auf Stroh, Fischerknechte und verstaubte Bücher sagen, sein Vater sei ein Gott – aber eine Sonnenfinsternis des Jupiter, in silberner Winternacht vom Raesfelder Schloßturm aus gesehn, von einem andern rollenden Stern zu vorbestimmter Stunde beobachtet – was wird es mir sagen? –

Und als gegen fünf Uhr des Morgens die kleine Schattenscheibe den Planeten verlassen hatte, und alsobald ein zweiter Mond als Lichtpunkt im Osten aufgetaucht war, vollendete Erich die Zeichnung der gelbroten Kugel, ihrer Wolkengeschiebe und ihrer sie umkreisenden Monde und schrieb unter das schwarzumrandete Bild:

Allerdings ist der Gedanke, die Kraft: die denkende Kraft das Absolute. Es besteht[281] nichts außer ihr, und ein absoluter Stoff existiert nicht.

Wie ich soeben den Planeten von seinen Monden umkreist sah, so muß ich mir das Atom ebenfalls denken als einen Mittelpunkt, um den andere Mittelpunkte kreisen. Aber diese Mittelpunkte sind nicht »stofflich«: wie die Hohlkugel lückenlos ihren immateriellen Mittelpunkt umgibt, so umgibt die denkende Kraft – um ihr einen Namen zu geben, das Ich – den Gedanken des Stoffs; konzentriert sich vollkommen auf diesen einen Gedankenpunkt, und der »Stoff« ist da.

Und dieser Gedanke des Stoffs ist vielgeteilt, und die Stufen seines Bewußtseins in der Erscheinungs-, Denk- und Bewegungsart der Materie sind mancherlei. – Und sind alle die Erscheinungsarten zu der absoluten Bewußtseinshöhe gelangt, so ist der Stoff, in welche Form der Gedanke verfallen und mit ihm nun ringen und in ihm sich wieder bewußt werden mußte, bezwungen –: die Erlösung ist eingetreten; und er, der der Träger alles Ringens und alles Leidens war, verschwindet spurlos, er wird vergessen, und es ist, als wäre er nicht gewesen.

Und da der Gedanke dann im eigenen Anschaun[282] versinkt, so löst er sich zu einem seligen Nichts, einem anderen Nirvana auf.

Und den Vorgeschmack, die selige Ahnung dieses Glückes genieße ich jetzt, indem ich mich, soweit es meine Bewußtseinshöhe zuläßt, in dem stoffvergessenden Anschaun meines vielgeteilten Ichs verliere – –


So tiefe Ruh in mir,

unendlich tiefe Ruh –

und alle Welt in mir

und woget ab und zu

sich einend all in mir.


Und ich bin ein Gebet –

und bet' mich selber an – –

o still! da ist's verweht. –


Geläute klang in sein Zimmer, volltönig brachte es die schweigende Nacht; Lichter flammten auf, und Schritte und Gemurmel wurden auf den Straßen laut.

Die heilige Messe beginnt, schrieb er weiter, und die Freude erhält ihre Weihe. Aber ich halte die meine hintan, denn ich will zuvor den letzten Grund meiner Ehrfurcht finden. –

Wieder ließ er die Blicke durch die Winternacht schweifen, und nach einer langen Pause setzte er sich nieder und schrieb:

Aber weswegen muß der Gedanke den langen[283] Kampf- und Leidensweg der Materie und ihrer Entwicklung zu klarerem Bewußtsein durchmachen? Weswegen kann er nicht sogleich im absoluten Sichbewußtsein dastehen, also nicht sein? Wozu ist der Leidensweg da? Weswegen fiel der reine Gedanke in den des Stoffs? – –

Lag in dem Denken des Stoffs – vielleicht – eine Sünde? – eine Schuld?

Und muß er die jetzt – sühnen?

So liegt vielleicht in dem bangen Ahnen dieser vielleicht doch ehernen Kausalität von Schuld und Sühne der Grund zu meiner Ehrfurcht? – Und die Schuld bestände dann, da nichts Anderes existiert als er, in der einfachen Tatsache seines Daseins, das ja schon den Gedanken des Stoffs, bevor er gedacht war, in potentia in sich schloß – –.

Halt! Halt! Alter Narr, wo fährst du hin! –

Der Jupiter versank mit seinen Monden, Nebel steigt auf, und der Bär hat seinen Kreislauf vollendet – ich bin wieder angelangt, wo ich in meiner Kindheit stand. –

Er löschte das Licht, warf sich angekleidet auf den Diwan und rief eiligst den Schlaf.

Quelle:
Gustav Sack: Ein verbummelter Student. Berlin 21-221929, S. 273-284.
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