Hagebutten

[167] Als nach dem Bade Erich im Fenster lag und in den Abendhimmel blickte, reichte ihm der Postbote einen Brief herauf. Er öffnete ihn, las ihn, zog die Stirn in Falten und sprach zu sich: Ahnt sie etwas, oder macht sie sich selber daran?

Er sprang aus dem Fenster und ging ins Bruch, wo die Batrachier kantierten.

Was hältst Du, hatte Loo geschrieben, vom Traumorgan? Weshalb soll ein Einwirken Verstorbener auf Lebende nicht möglich sein? und umgekehrt? Sogar mein Vater gab zu, dies wäre a priori nicht zu leugnen – oder vielmehr, es sei ein Auswuchs der Schopenhauerischen Trennung von Willen und Intellekt; hätte es damit seine Richtigkeit, so wäre die Frage diskutierbar. Denn das stehe auch ihm fest, daß der Mensch mehr sei als nur eine chemische Verbindung in historisch gewordener Form. Und[168] wie sollte Schopenhauer nicht recht haben: ist nicht die Welt so wüst und traurig?

Wende Dich nicht ab von Deinem blaustrümpfigen Mädchen – o wenn Du alles wüßtest!

Stundenlang allein sitze ich an der Efeumauer oder schaukele in der Hängematte und sehe in den Garten und auf die Teiche mit ihrem Schilf; die Astern beginnen zu knospen, und die Tomaten und Hagebutten werden rot und reif.

An einem solchen Tage – ich hatte Shelley gelesen – war ich in einem Tale Kaschmirs zwischen Rhododendren, Kletterrosen und gewaltigen Primeln – und Du warst da, mein Freund – –. Und wenn das mir Lebenden geschieht, was wird erst kommen – –? Oh, die Welt ist viel seltsamer, als wir gedacht haben. Komm nicht zu mir in der nächsten Zeit – –

Da stand eine bläuliche Flamme, wie ein Kind groß, an der Erlenbuschecke, still und unbeweglich, und die melancholischen Unkenstimmchen läuteten noch seiner und trauriger – –

Es ist der Kosakenkolk, – sagte Erich – und die Ufer des Tobol und die tobenden Burane, die einst in dem runden Schädel lebten, spuken jetzt im niederdeutschen Bruch. Auch eine Metempsychose:[169] einmal in einem verfilzten lausigen Menschenkopf, dann in der spitzen Flamme H2S + PH3 – – Sie nähert sich – sie kommt – sie wächst – spricht da etwas? –

Er riß die Augen krampfhaft auf, dann machte er kehrt und ging und raste in wilden Sätzen nach Haus.


O wie schön ist es, an übergroßer Liebe sterben zu müssen – sagte Loo zu ihrer Seele und blickte mit dem Ausdruck tiefen Glücks in die herbststille Welt – mit einem Lächeln süßer Müdigkeit nach hartem Kampf:

Meine Liebe ist nichts – ist nichts anderes als was die Tagelöhner und Hunde treibt. –

Als so ihr alter Bekannter, der magenfarbige Ekel vor der entwerteten Welt, kam und der Wunsch, ihn zu fliehen, und der Tod mit doppeldeutigem Gesicht lockte und greifbarer und näher wurde, stand er bald als unvermeidlich, als nicht mehr ferne Wirklichkeit vor ihr. Und es galt nun, für ihn Ursachen zu suchen, d.h. das Gerne-Wollen, aber Feige-Sein zu verkleiden in ein übermächtiges Müssen, und dem dann das Harte und Unfreie zu nehmen durch eine moralische oder ästhetische Würdigung: wie gut, wie schön[170] ist es, so leiden zu müssen, so zu leiden. Und die windigsten Ursachen genügen, es genügt eine Phrase, ein kitschiges abgedroschenes Bild:

Wird mir die Brust nicht zu eng und droht mir das Herz nicht stille zu stehen, erfüllt es mich nicht mit unaussprechlichem Glück und kalter Todesangst, wenn er mir seine Liebe gesteht? Wenn er mich mit in seinen Taumel reißt, kommt dann nicht diese Liebe über mich wie ein glühender Wirbelwind, mein ganzes schwaches Leben verbrennend und verzehrend? Bin ich nicht, wenn ich ihn in meinen Armen habe, eine lohende Flamme? Kann sie ewig brennen? – Muß ich nicht darum an übergewaltiger Liebester ben?

Und dann werden diese »Ursachen« vergessen – man traut ihnen nicht recht – und man ergötzt sich an der Schönheit und Erhabenheit ihres Wertes: O wie schön ist es, an übergroßer Liebe zu sterben! –

Dann greift man zu Dichtern, diese Hausapotheke weiß immer Bescheid. Und der Zufall wollte, daß ihr Shelley in die Hände fiel:


»Welch Wunder ist der Tod,

Tod und sein Bruder Schlaf –«


Eine Seele, die auf Wunsch der Feenkönigin[171] den schlafenden Körper verläßt, frei im Raume schwebt und Vergangenheit und Zukunft schaut –!

Sie träumte in die Weite, wohlig, unbewußt –

Ein Traumorgan – die Fähigkeit, sich entlegener Vorgänge bewußt zu werden ohne Vermittlung der Sinne, ungebunden durch die beengenden Denkformen – befreit von der Zeit! Das hatte der Philosoph gelehrt. Und hier löst sich die Seele vom Körper und blickt in die gewesenen und werdenden Zeiten – ein körperloser Geist empfindet! –

Da entfiel das Buch ihrer Hand, und die schon eine Weile starr vor sich hin gesehn hatte, fuhr erschrocken zusammen und blickte hoch. –

Dann streifte sie mit der Hand über die Augen und sagte laut: Ich habe wohl geträumt. – Und dann ging sie auf ihr Zimmer und schloß sich ein, denn das Schwätzen der Leute und der Wind, der in der Esche spielte, taten ihren Ohren weh.

Eine sonderbare Welt! Ich saß an der Efeuwand und war zur gleichen Zeit in den Bergen Kaschmirs und schlug einem Dichter die Harfe – tat ich das? Ich hatte sie in der Hand und stand vor einem Mann, der im Grase schlief. Wer war es? Er war's! Dann spielte ich auf der Harfe –[172] habe ich wirklich auf der Harfe gespielt? Aber dann wachte er auf und hat mich an sich gerissen. – –

Dann war meine Seele hierher zurückgeflogen, wo ich an der Efeumauer saß; und das Bild des Gartens und der Teiche, das während der ganzen Zeit in meinen Augen blieb, kam mir erst zum Bewußtsein, als meine Seele zurück war. Und da erschien mir das alles fremd – die Astern, das Schilf und die Tomaten; und als ich es erkannte, mußte ich lächeln, ich glaube, ich habe gelacht.

Und wenn ich dann tot bin – und mein Geist beginnt zu wandern – –

Wenn den »Gründen« und »Ursachen« das Unangenehme genommen ist, und man sich ergetzt hat an dem Guten und Schönen der noch immer mit Schmerz verbundenen Handlung, wird ihr auch der Schmerz genommen: nicht um ihrer selbst willen, auch nicht des Guten und Schönen, das sie begleitet, wird sie begangen, sondern sie ist zum Mittel geworden: Der Tod nicht Flucht, sondern Übergang zu einem körperlosen und als solchem freieren und reineren Leben.

Und jetzt dürfen sich die ersten »Gründe« und der letzte »Zweck« die Hand reichen und ins[173] Bewußtsein treten: Sterben, um dem unfreien und gemeinen Triebe zu entfliehen in ein ewiges, körperloses Land, in ein Land der Seelen, wo nur die Seele liebt. –

Aber sie wußte nichts von der Komödie, die sie sich selbst gespielt hatte, sondern ging still in den Zimmern, dem Hof und dem Garten umher – mit ernsten Augen und mit lächelnden Lippen.

Damals schickte sie Erich den Brief, er möge jetzt nicht kommen, denn die Astern gingen ins Knospen und die Hagebutten würden rot und reif.

Aber nach einigen Tagen schrieb sie ihm abermals, er möge kommen, denn es sei alles bereit.

Quelle:
Gustav Sack: Ein verbummelter Student. Berlin 21-221929, S. 167-174.
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