486. Die Kemptermaise.

[22] Von J.B.Tafrathshofer.


In einem Städtlein wohlbekannt

In unserm lieben Schwabenland

Entkam einst unbedachter Weise

Des Bürgermeisters Lieblingsmaise.


Ob dieser Botschaft schreckensbleich,

Eilt er auf's Rathhaus alsogleich

Und schwöret dort in finsterm Grolle,

Daß sie ihm nicht entwischen solle.
[22]

Die Diener der Gerechtigkeit

Stehn vor der Thüre schon bereit

Und lauschen mit gespitzten Ohren,

Wozu »Sein Gnaden« sie erkoren.


»Auf! auf!« herrscht er mit grimmem Blick,

»Bringt meine Maise mir zurück;

Greift eilig zu den langen Spießen

Und laßt mir schnell die Thore schließen!«


Gesagt, gethan. Gewappnet eilt

Die Schaar der Wächter unverweilt,

Und jedes Thor, massiv geflügelt,

Wird fest verrammelt und verriegelt.


Dann fliegen sie wie athemlos

Durch alle Straßen klein und groß

Vom Stadtwirth wiederum zurücke

Hinunter bis zur Illerbrücke,


Und suchen alle Gärten aus,

Durchstöbern Keller, Dach und Haus;

Umsonst, sie waren all' betrogen:

Die Maise war davon geflogen.


Wen jammert nicht der arme Mann,

Dem all' sein Erdenglück zerrann?

Er fand kein Ende seiner Klage

Und starb gerührt vom Nervenschlage.


Von diesem klugen Thorverschluß

Heißt man noch jeden Pfiffikus,

Der weiser ist, als andre Weise,

In Schwaben eine »Kemptermaise.«

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 22-23.
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