534. Graf Aswin's Tanne.

[74] Erzählt von AdalbertMüller.


Im Böhmerwalde stehen viele Bäume und die Bäume haben viele Aeste und Zweige; aber so viel Nadeln oder Läublein an den Aesten und Zweigen allen hängen, so viel Stöße und Hiebe wurden ehedem unter den Grenzbewohnern gewechselt von hüben und drüben. Es war ein wildes, unsicheres Leben hier in alter Zeit, und kaum verging ein Tag im Jahre, an welchem die Deutschen und die Slawen sich nicht in den Haaren lagen. Feuer und Wasser wären besser mit einander ausgekommen, als diese beiden grundverschiedenen Völkerschaften. Erst als der große Kaiser Karl die böhmische und sorabische Mark gestiftet, ward Ruhe, und es konnten an der Grenze einige Ortschaften in Aufnahme kommen. Kaum aber hatte der Tod dem preiswürdigen Fürsten die Zügel der Herrschaft entrissen, und die Slawen spürten nicht mehr den Druck seiner starken Hand, so brachen sie wieder los und suchten das deutsche Gebiet mit ihren Beutezügen heim. Und dauerten diese gemeinschädlichen Grenzbalgereien fort bis in's sechzehnte Jahrhundert, wie denn Vater Aventin in seiner vielbelobten Chronika schreibt: »Im Böhmerwalde ist der Hädweg (der Arber) der höchst berg oberhalb Passauw, auff dem ein großer See, darumb die Behemen und Bayern noch kriegen, wer stercker kempfft, wirfft den andern in See.«

In den Tagen Heinrich's des Vierten hausten die Slawen ärger denn je mit Raub und Mordbrand. Da faßte der Kaiser den klugen Entschluß, ein mächtiges Dynastengeschlecht nach den bedrängten Gegenden zu verpflanzen und in solcher Weise die Grenzhut zu stärken. Er sah sich zu dem Ende die Grafen von Bogen aus, welche längs der Donau weit über die Berge und die dampfenden, brausenden Wälder geboten, vom Einflusse des Regen hinunter bis zur Ilz. Diese begabte er mit vielen Dörfern und Weilern im Grenzbezirke, als da sind: Grawat, Vurte, Mazelin, Tichanesberg, Trasanesdorf, Buchberg und Sichowa. Die Grafen bauten feste Burgen und Wehren und legten Mannschaft hinein, so daß die stößigen Nachbarn, wenn sie über die Grenze wollten, eine harte Nuß zu beißen fanden.

Einmal war ein absonderlich fruchtbares Jahr eingetreten und es lag im Regenthale das Korn Garbe an Garbe auf den Feldern. Das[75] erspähten die Böhmen drüben auf ihren weitschauenden Felsgipfeln, und es beschlich sie die Lust, zu ernten, wo sie nicht gesäet. Also thaten sie sich in großen Haufen zusammen und wimmelten aus den Wäldern und Schluchten hervor, so dicht wie ein Heer Ameisen. Aber Graf Aswin hielt treue Wacht. Seine Mahnboten eilten von Schloß zu Schloß, und die Nothfeuer brannten auf den Bergen durch den ganzen Nordgau hin. Und als er hinlängliche Streitmacht zu haben glaubte, zog er den Böhmen entgegen und schlug sie in drei Feldschlachten nach einander.

Das letzte Treffen geschah am Alphaltersberge, jetzt Einfaltesberg genannt, hart an der Landstraße, so von Cham gen Straubing führt. Dort rastete nach blutiger Arbeit der Graf unter einer hohen Tanne, und es stieg ihm der Gedanke auf, das Gedächtniß des Tages bleibend an die Nachkommen zu bringen. Alsbald ließ er sein Schwert durch die Lüfte sausen und hieb mit mächtigen Schlägen in den Stamm der Tanne das Zeichen des Kreuzes.

Der mannliche Held ward hochgefeiert in Lied und Sage, und beim Volke hieß er der Schreck der Böhmen. Die Tanne stand viele Jahrhunderte aufrecht, denn Axt und Säge mieden sie mit frommer Scheu. Es ist so überlang nicht her, daß sie, altersmorsch, vom Winde gebrochen wurde, und zur Stunde noch leben Leute, die ihren umfangreichen Stock im Walde droben sahen und maßen.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 74-76.
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