2.

[77] Vor ungefähr 70 bis 80 Jahren lebte zu Vogelbeck ein Kuhhirt Namens Wessel. Dieser weidete einst seine Heerde in der Vogelsburg und hatte sich im Schatten einer grünen Eiche zum Schlafen niedergelegt. Da bemerkt plötzlich sein kleiner Sohn, der sich unterdessen in der Nähe mit Spielen die Zeit vertreibt, bei der Burg eine weiße Gestalt. Aengstlich läuft das Kind zu seinem Vater und weckt ihn mit den Worten: »Vater, was ist das doch«? Der Kuhhirt richtet sich auf und sieht auf einmal die weiße Jungfrau vor sich stehen. Diese bittet ihn darauf, er möge ihr den Kopf abschlagen; er sei der einzige, der sie erlösen könne. Der bestürzte Hirt weigert sich trotz ihres inständigen Bittens und fügt hinzu, er habe ja auch kein Beil. Schnell eilt nun die Jungfrau hin zur Burg, holt ein Beil mit silbernem Gefäß und will ihm das bringen. Als das der Hirte sieht, entflieht er mit seinem Kinde; die Jungfrau aber stößt furchtbare Schmerzensrufe aus. Noch bis auf den heutigen Tag lassen sich in den Nächten zwischen Himmelfahrt und Pfingsten solche Schmerzensrufe an dieser Stelle hören; ja vor drei Jahren sind diese Klagetöne so furchtbar gewesen, daß die Schäfer bei der Vogelsburg nicht haben weiden mögen.

Nach einiger Zeit hat sich der Hirte wieder an derselben Stelle gelagert. Wie er so da liegt, kommt ein Wiesel und[77] läuft ihm mehrere Male über den Schoß. Er schlägt darauf dasselbe todt und siehe! die zwei goldenen Ringe der Jungfrau liegen auf seinem Schoße, welche er in Einbeck für 71/2 Thlr. verkauft hat.

Der alte Wessel hat diese Begebenheit seinem Nachfolger erzählt. Dieser war entschlossen, wenn ihm die weiße Jungfrau erschiene, ihre Bitte zu erfüllen; allein er ist als hochbetagter Greis gestorben, ohne sie jemals gesehen zu haben.

Andere erzählen so:

Die weiße Jungfrau, welche dem Hirten erschien, trug in ihren Händen drei Stücke, einen Klotz, eine Barte und ein Bund Schlüssel. Sie sagte zu ihm, sie sei verwünscht und bat ihn dann, ihr auf dem Klotze mit der dargebotenen Barte den Kopf abzuhauen, auf diese Weise werde er sie erlösen, jedoch müsse er das noch vor zwölf Uhr thun. Nachdem er dieß gethan hätte, solle er das Bund Schlüssel nehmen und damit den Berg aufschließen, er werde in dem Berge viele Kammern und Keller finden, alle mit Gold, Silber und Edelsteinen angefüllt; davon möchte er sich nehmen, so viel er nur tragen könne. Der Hirt aber konnte sich nicht entschließen ihre Bitte zu erfüllen, und so schlug es zwölf Uhr. Da fing die Jungfrau an zu schreien und zu jammern, und sprach, nun werde erst in hundert Jahren wieder einer geboren, der sie erlösen könne. Darauf verschwand sie.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 77-78.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.