4.

[82] Ein Mädchen, welches am Johannistage in der Dämmerung in die Ruine der Burg kam, sah die weiße Jungfrau da sitzen; – sie hatte ein Schlüsselbund in der Hand und schluchzte laut. Das Mädchen fürchtete sich und lief schnell fort.

Einst kam ein Hirt dahin und erblickte auch die Jungfrau. Sie winkte ihm ihr zu folgen und er that dieß auch. Darauf führte sie ihn zu einer eisernen »Klappe«, welche sie öffnete. Der Hirt erblickte eine wunderschöne Blume, brach sie ab und steckte sie an seinen Hut. Er ging in den geöffneten Raum [»in die eiserne Klappe«] hinein. Hier standen »lauter« eiserne Kisten, ganz mit Gold gefüllt; weil aber der Raum zu niedrig war, so nahm er die Blume vom Hute und legte sie auf einen der Kasten. Nachdem er sich dann die Taschen und den Hut mit Gold gefüllt hatte, ging er wieder fort, vergaß aber die Blume mitzunehmen. Als er hinaus war, ward die Klappe zugeschlagen und er hörte die Jungfrau laut weinen und schluchzen. Sie sprach dann zu ihm: »hätte er die Blume mitgenommen, so wäre sie erlöst gewesen; nun aber müsse sie noch verzaubert bleiben. Jetzt[82] müsse erst wieder ein großer Baum wachsen, aus dessen Holz aber eine Wiege gemacht werden, und das darin (groß) gewiegte Knäblein könne sie erst wieder erlösen.« Der Hirt stand ganz betroffen da, als er aber wieder hinsah, war die Klappe und die Jungfrau verschwunden. Das Geld behielt er und brachte es seiner Braut.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 82-83.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.