Sechzehntes Kapitel

[152] Die indischen Teppiche sind so weich – der Fuß versinkt darin wie in einer grünen Wiese.

Und Al Battanys Fuß versinkt auch in diesen indischen Teppichen.

Diese Teppiche ruhen aber in dem Palaste eines indischen Nabobs, der in der Nähe von Benares wohnt.

Schon achtmal hat sich der Mond gerundet – und achtmal ward er wieder verdunkelt – seit die lauteren Brüder Bagdad verließen.

Die Christen schreiben bereits das Jahr 894.

Die Zeit eilt.

Der Astronom Al Battany ist ganz betäubt von den gewaltigen Eindrücken seiner Reise.

Ihm ist zu Mut, als hätt er zum ersten Mal das Hochgebirge – oder als hätt er zum ersten Mal das ewige unermeßliche Meer geschaut.

Indien ist viel reicher, größer und tiefer – als er je gedacht.

Ihn erdrückt fast der Reichtum, der ihn umgibt. Und er fühlt es jetzt erst – wieviel die Araber den Indern verdanken – – – Bagdad wäre ohne Indien nur ein ganz gewöhnliches[152] Wüstendorf. Der Astronom vergißt beinahe vollständig das, was die Araber von den andern, auch höher entwickelten Völkern haben.

Indien wird dem Al Battany zum Paradies.

Und der Blick des Gelehrten wird immer stolzer – ihm ward so viel Ehre zuteil.

Indische Gelehrte und indische Fürsten haben den großen Astronomen mit einer Ehrfurcht begrüßt, als wenn er als Feldherr Alle besiegt hätte – nicht als käme er als einfacher Mann zum heiligen Ganges.

Battany wäre noch viel glücklicher gewesen, wenn er das schäumende Wasser seiner Eitelkeit mehr eingedämmt hätte ...

Aber – er hatte auch zu viel Triumphe gefeiert.

Eine Gesandtschaft aus Peking war sogar gekommen, um Bagdads größten Gelehrten zu begrüßen – vor dem hatte sich ein Dutzend vornehmster Chinesen so schrecklich tief verbeugt.

Die Chinesen teilten dem Battany mit, daß bereits der Chalif von Peking vom Bunde der lauteren Brüder gehört habe und daß Er – der Sohn der Sonne – der gelehrten Gesellschaft die herzlichsten Glückwünsche übersende.

Und die chinesische Gesandtschaft überreichte dem Araber eine mit Edelsteinen besetzte Kassette, in der sich viele kleine Kunstwerke aus Elfenbein, Ebenholz und Perlmutter befanden.

Und die Glückwünsche des Chalifen von Peking hatte Battany sofort mit den Brieftauben, die ihm Osman übergeben, nach Bagdad gesandt; Osman konnte gleichfalls sehr vergnügt sein.

Und wie sich Battany ein wenig heimisch fühlt, speist er zur Nacht bei seinem fürstlichen Freunde mit dreihundert andren Gästen in einem riesengroßen Saale.

Die andren Gäste sind Araber aus Benares, Brahminen und indische Gelehrte.

Ein paar tausend Sklaven bedienen.[153]

Die Zahl der Gerichte ist nicht zu zählen.

Battany ist nun ganz und gar geblendet durch diese fürstliche Pracht.

Er denkt an Saids Abendgesellschaften und muß lächeln.

Nach dem Mahle geht man hinaus auf die hoch gelegene Parkterrasse.

Und dort bietet sich den Gästen ein wirklich berückender Anblick dar, der jedes Auge berauschen muß.

Der große Park ist erleuchtet – aber wie!

Tausend und aber tausend bunte Papierampeln glühen und brennen zwischen den Blumen – durch das Grün der Bäume.

Wie Diamanten glühen und brennen die Ampeln – wie Rubine, Saphire, Smaragde.

Der Nabob gibt ein großes Garten- und Lampenfest. Blumenmädchen – ganz mit bunten Blütenketten umhüllt – wandeln langsam hintereinander mit knisternden Pechfackeln in wohl berechneten Kurven über den Kies der Gartenwege.

Und im Hintergrunde flackern riesige Flammen empor – rote und grüne – bengalische Flammen.

Und neben den Springbrunnen puffen von Zeit zu Zeit mächtige Pulverhaufen in die Luft – die Pulverflammen schlagen blitzschnell – unheimlich – wie Geisterfäuste – in den dunklen Sternenhimmel hinein.

Der Mond steht über den Kuppeln und Türmen von Benares wie eine große Riesenkirsche.

Der funkelnde Glanz der Sterne wird fast verdunkelt von der indischen – Lichtkunst.

Battany und die arabischen Hauptleute sind nun tatsächlich geblendet.

Ein indischer Nabob ist doch zu reich – er kann mehr bieten als Bagdads Chalifenburg.

Ein junger indischer Gelehrter wendet sich jetzt lächelnd an den gefeierten arabischen Gelehrten.

Verschmitzt sieht der gelbe Inder in Battanys braunes[154] Gesicht, dreht immer seinen langen schwarzen Schnurrbart und erklärt umständlich, daß ihm die Bedeutung der ganzen Astronomie sehr unverständlich sei – »denn« – so sagt er zum Schluß – »wir sehen die Sterne doch nur mit unsrem Auge, und mit den Fingern können wir sie nicht greifen. Was wir aber nur mit unsrem Auge sehen, das ist zunächst nur wirklich für unser Auge da – obs außerhalb unsres Auges was Daseiendes ist, können wir gar nicht wissen. Daß die Sterne da oben große Welten sein sollen, vermag ich daher nicht zu glauben – ich glaube – da oben gibt ein junger Gott seinen Freunden ein Lampenfest – das Fest wird bald zu Ende sein – denn einzelne Sterne verlöschen bereits. Bedenke nur! Für einen jungen Gott sind hunderttausend irdische Nächte – eine einzige himmlische Nacht. Die Wandelsterne sind Blumenmädchen mit Fackeln ...«

Der Inder blickt den Battany forschend an – der aber steht so steif da, daß der Araber einem fast leid tun könnte – er hat ja nichts verstanden.

Schnurrbartdrehend wendet sich der indische Gelehrte schließlich ab – ärgert sich natürlich nicht wenig, daß er seinen Witz vor einem dummen eingebildeten Araber verschwendete.

Hierauf spricht ein alter Brahmine mit dem Astronomen – – – Der nimmt sich jetzt furchtbar zusammen, er will nicht wieder nachher – vergeblich nach Worten suchen.

Eine wunderbare Musik tönt aus dem erleuchteten Garten in die Sternennacht empor.

Der Brahmine spricht von den Ssabiern, das bekannt geworden, daß Battany auch ein Ssabier ist – was sein Ansehen sehr erhöht.

Und der Araber kann antworten – er erzählt von Hauran – von Thabit ibn Quorrah und von Tschirsabâl.

Auch andre Brahminen hören zu und sprechen mit.

Man redet bald über die Religion im Allgemeinen.[155]

Die in arabischer Sprache geführte Unterhaltung wird sehr lebhaft.

Ein sehr alter Brahmine, dessen weißer Bart fast bis zur Erde reicht, ist der Meinung, daß die Lehre Mohammeds den großen Religionen nicht beizuzählen sei, da diese Lehre die Aufklärung und die Freigeisterei in gefährlicher Weise fördere – Mohammed habe nur eine Ketzerreligion geschaffen – ihre einfachen, viel zu verständigen Formen seien nicht fürs Volk – das Volk wisse nur mit »vielen« Göttern und mit einem umständlichen Kulte was anzufangen.

Battany staunt und muß dem zustimmen – erklärt dabei, daß man sich in Bagdad um Mohammeds Lehre selbstverständlich sehr wenig kümmere.

»Das weiß ich«, erwidert drauf der alte Priester, »ich habe die Erfolge und Mißerfolge der verschiedenen Religionen durch ein langes Leben mit sehr aufmerksamem Auge verfolgt. Die Lehre Christi hat schon viel mehr für sich als die Lehre Mohammeds. Die christlichen Priester haben eben viel mehr gelernt und viel mehr den älteren Religionen entnommen – die christlichen Priester haben nicht den großen Allgott in die Mitte ihrer Lehren gestellt – sie haben auch den Nebengöttern und den tieferen Gedanken der ›älteren‹ Religionen eine Bedeutung eingeräumt. Natürlich – verstanden hat ja kein einziger Christ – die ›älteren‹ Religionen – – – doch merks nur! – das schadet nicht allzuviel – die neuen Religionen entstehen immer nur dadurch, daß einzelne Menschen, die das religiöse Feuer in den Adern haben, die ›älteren‹ Religionen mißverstehen. Nur das rücksichtslose Nichtverstehenwollen oder das harmlosere Nichtverstehenkönnen – verwerflich. Mißverständnisse aber – die schaden ist nicht so sehr. Religionen sind ja nicht dazu da, von den Menschen verstanden zu werden ... Und der Erfolg! – Oh, glaube mir! Das Klarverständliche und das Vernünftige – das hat immer nur einen sehr geringen Erfolg.[156] Man darf doch nicht vergessen, daß die Menschen viel viel häufiger unvernünftig und unverständig denken – als vernünftig und verständig. Das Vernünftige ist den Menschen garnicht das Natürliche – das Unvernünftige viel mehr. Warum hat Mani nicht denselben Erfolg wie Christus – warum hat Mazdak nicht denselben Erfolg wie Christus gehabt? Ich glaube – nur weil die Jünger dieser Beiden zu gebildet waren – Christi Jünger hatten ihren Meister viel mehr mißverstanden, sie waren keine klaren Köpfe, weil sie soviel religiöses Feuer in sich hatten. Dieses allein hat ihnen aber nicht den Erfolg verschafft – sondern ihre Fähigkeit, alles so mißzuverstehen und so unklar zu sagen, daß es dem Fassungsvermögen des gemeinen Volkes nicht fremd erschien – das hat den Jüngern Christi den Erfolg verschafft. Ja – ja – ich weiß das alles!«

Der Inder streichelt zärtlich seinen langen, weißen, fast die Erde berührenden Bart und lächelt – lächelt – wie ein Greis lächelt.

Al Battany will nun wissen, was die Religion eigentlich will. Der Alte wird ernst und spricht weiter – wie für sich – so dumpf und so verächtlich:

»Aufklärung willst Du! Aufklärung! Ein echter Schüler Mohammeds bist Du! Ein Mann der aufgeklärten Wissenschaft – ein Feind der Religion! Kennst Du Buddha? – nein, Du kennst ihn nicht. Er war auch ein Ketzer – aber nicht ein so schlimmer Ketzer wie Du. Ich wundre mich, daß Du Dich Ssabier nennst. Die ssabischen Priester haben Dir wohl nur den Eintritt in ihren ersten Vorhof gestattet – wo das Volk verweilen muß. Hör doch, Battany! Das Denken führt doch nie zur vollen Klarheit – führt doch überhaupt nie zur Klarheit – – – wenn Du gründlich denkst, wird Dir das Klarste unklar werden. Du aber denkst nicht gründlich. Das Denken führt nicht zur Klarheit – das war nie so. Aufs Verstandenwerden müssen daher die weisen Priester verzichten – selbstverständlich! Man kann doch höchstens nur – mißverstanden werden.[157] Mit dem Mißverstandensein muß man zufrieden sein. Ja – ja – ich weiß das alles!«

Der Brahmine murmelt danach unverständliches Zeug und geht fort – die Inder machen ihm Platz und verbeugen sich vor dem Greise – sehr tief verbeugen sie sich.

Battany wird unwillig und will nun von einem Andern wissen, was die Religion eigentlich will.

Wie da die Inder überlegen lächeln!

Doch ein sehr fein gekleideter Inder, der dem Gespräch bisher schweigend zugehört, antwortet dem Battany folgendermaßen:

»Gelehrter Freund! Ich verstehe Deine Neugierde. Laß mich Dir antworten! Du wirst mich ja ebenfalls nur mißverstehen – doch vielleicht sag ich Dir, was Dir näher kommt! Ich bin kein Priester und denke daher anders. Bist Du nicht der Meinung, daß die gebildetsten Menschen der Erde grade infolge ihrer Bildung schließlich eine übergroße Empfindlichkeit in sich zur Ausbildung kommen lassen? Oh, ja – ja! Und wenn sich diese Empfindlichkeit steigert, wird sie zur größten Qual – erzeugt einen Zustand, der immer unerträglicher wird und zuletzt nach entsetzlichen Beängstigungen, grauenhaften Träumen und wilden Wutausbrüchen – einen Abscheu vor dem Leben gebiert. Oh, ja – ja! Um die Empfindlichkeit und die darauf folgenden Qualen zu vernichten – dazu sind die Religionen da – das wollen die Religionen den Gebildeten sein – wir haben sie drum auch nötig. Dem Volke soll aber die Religion nur ein Mittel sein, das von ganz gemeinen Leiden erlöst – die Religion fürs Volk kann daher aussehen, wie sie will – sie darf sich nur nicht so trocken wie die Lehre Mohammeds geben. Jedes Mittel zur Vernichtung der durch die verfeinerte Bildung erzeugten Seelenqual – gehört ins Gebiet der Religion. Ob man betet oder dichtet, ob man Tempel baut oder Bilder meißelt – das ist im Grunde ziemlich gleich – doch – es ist schlimm – Du verstehst mich wohl auch nicht – nein?«[158]

Battany schüttelt betrübt den Kopf.

Er – der große Astronom – steht plötzlich vor so vielen neuen Rätseln und Fragen, daß er fast heftig werden möchte.

Als wenns nicht am Sternenhimmel genug der Rätsel gäbe.

Er sagt daher sehr kurz, daß er durchaus nicht geneigt sei, alle Rätsel der Erde aufzulösen – er klammre sich zunächst nur an die für ihn begreifbaren Dinge – die ferner liegende, »größere« Rätselwelt müsse für ihn noch unsichtbar bleiben – er wolle sich nicht verwirren lassen.

Währenddem tanzen aber dicht unter der Terrasse hundert der schönsten Bajaderen den langsam bewegten Schneckentanz.

Die Bajaderen sind ganz nackt.

Ihre gelben, wunderbar schlanken Glieder biegen sich in entzückenden Kurven, roter Fackelschein macht sie bunt.

Die Blumenmädchen stehen mit ihren Fackeln im Kreise rum und beleuchten den Tanz.

Battany ist ganz starr.

Der Tanz ist berauschend.

Wein wird herumgereicht.

Ein Sufy setzt dem arabischen Astronomen auseinander, wie viele Millionen von Käfern und Schmetterlingen bei solchem Lampenfest einen qualvollen Tod finden – wie viele kleine feine Flügel dabei verbrannt werden.

»Ein ewiges Sterben«, meint der Sufy, »geht durch die Natur. Der Tod ist überall da. Und man wird nur geboren, um qualvoll leidend den Tod zu finden – man stirbt eigentlich vom ersten Augenblick seiner Geburt an. Deshalb sollen wir keine Kinder zeugen, die Frauen nie berühren. Das Heiligste, was wir tun können, ist das, was die Menschen, dies nicht kennen, das Unnatürliche nennen – während dieses Unnatürliche doch grade den feiner entwickelten Menschen als Pflicht von der leidenden Natur auferlegt wird. Hier hast Du den Kernpunkt aller Religionen. Erinnre Dich nur an die Ssabier!«[159]

Battany hört nicht hin.

Er ist berauscht von den Bajaderen, die verwirren ihn.

Und in ganz außerordentlicher Erregung wandelt er, nachdem der Tanz vorüber, mit den andern Gästen des indischen Nabobs zu dem Schauspielhause, in dem ein Schauspiel von dem fein gekleideten Inder aufgeführt wird, der so fein von der Empfindlichkeit und der Qual aller Gebildeten zu sprechen wußte – und den Battany auch nicht verstand ...

Den Gästen wird mit Riesenfächern kühle Luft zugewedelt.

Ein Festzug bewegt sich zum Schauspielhause hin – prächtige dicke Elephanten schreiten würdevoll voran.

Und die goldenen und silbernen Gewänder der Inder glitzern im Fackelschein.

Die Waffen der Araber glitzern ebenfalls.

Ein fürstlicher Kleiderprunk macht sich protzig breit.

Die Blumenmädchen leuchten mit ihren Fackeln.

Die Sängerinnen singen.

Der Vollmond steht am Himmel in trüben Dunstwolken dicht über Benares, in dem die Pest wütet, der stündlich Hunderte von Menschen zum Opfer fallen.

Der heilige Ganges fließt langsam und träge auch an den Gärten des großen Nabobs vorbei, in dessen Reich die Pest nicht eindringt.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Kodama jedoch – der sitzt in Mekka und freut sich anders seines Lebens als der Battany.

Kodama ißt Mekkas beste Rindskeulen auf und trinkt roten Wein dazu – eimerweise.

Dem dicken Geographen ist in Mekka so recht behaglich zu Mute. In jedem Weinkeller ist der Dicke Stammgast.

Und es gibt sehr viele Weinkeller in Mekka.

Die christlichen und jüdischen Weinwirte sprechen von Kodama mit einer Hochachtung – fast mit derselben, mit der Battany vom griechischen Dionysos spricht.[160]

Der gemütliche Dicke geht auch gern auf Abenteuer aus – denn den ganzen Tag und die ganze Nacht nichts Anderes tun als Trinken, Schlafen und Essen – das geht ja nicht.

Und wenn der große Herr aus Bagdad mit den schönen schwarzen Pluderhosen, mit dem kurzen Sammetrock und dem gelben Turban – mit seinem ganzen schweren Leibe und mit dem glänzenden braunen Mondgesicht auf Abenteuer ausgehen will, so wendet er sich zunächst in die große Moschee, in der einst der Prophet so gern zu weilen beliebte.

In der Moschee befinden sich nämlich stets einige hübsche Mädchen, die vor Liebesgram vergehen möchten. Diese Mädchen liebt der dicke Kodama.

Er mag sie nämlich so gern trösten.

Um das zu können, nimmt er sie mit in den tiefen Weinkeller, der nicht allzuweit ab von der Kaaba liegt.

Und beim Weine müssen ihm die Mädchen alle ihre Liebesgeschichten erzählen – wie sie verführt, verraten, belogen, betrogen und verlassen wurden – Alles ganz genau.

Diese Geschichten sammelt der Dicke.

Bei Allah – das macht ihm Spaß – darüber kann er ordentlich lachen.

Siegelringe und bunte Glasfläschchen sammelt der Dicke auch.

Der verstehts, sich die Zeit zu vertreiben.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Der alte Jakuby sammelt natürlich auf seinen Reisen derartige Nichtigkeiten durchaus nicht – der macht sich nur überall Notizen über die wichtigeren Zustände und Angelegenheiten der Länder und Städte, durch die ihn sein Pfad führt. –

Bereits ist der Alte wieder durch ganz Nordafrika gewandert bis zu den Ruinen von Carthago.

Er hat diesmal verschiedene Kriegszüge mitgemacht – und dabei auch mit großer Unerschrockenheit seine Notizen[161] niedergeschrieben – mitten im Krachen der Damascenerklingen beim Wiehern der Rosse und beim Fluchen der arabischen Hauptleute, die mit den störrischen Wüstensöhnen Nordafrikas sehr grausam umgingen.

Doch das Blutfließensehen ist der alte Geograph nun müde geworden. Er segelt mit einem Seeräuberschiff nach Sizilien. Vorzüglich hat ers verstanden, vor den Seeräubern arm und gebrechlich zu erscheinen.

Jakuby ist ein kühner und gewandter Mann.

Er begibt sich gleich nach Palermo, schließt Freundschaft mit den dort lebenden arabischen Gelehrten, denen er von Bagdad wie von einem Weltwunder erzählt und – beobachtet dann mit seinen neuen Freunden den Ätna-Ausbruch, der stattfand, als die Christen das Jahr 894 schrieben.

Von der ›Gesellschaft der lauteren Brüder‹ erzählt Jakuby natürlich so viel, daß sich verschiedene seiner Freunde schließlich auch als lautere Brüder betrachten.

Jakuby ist ein ganz vorzüglicher Apostel, wenn auch zuweilen seine Einzelheiten recht lächerlich wirken.

Er weiß immer alles schnell zu erklären.

Aber was er sagt – ist fast immer falsch – oft reiner Unsinn.

»Hör nur dieses!« meint an einem Abend einer seiner neuen Freunde, als wieder ein gewaltiger dunkelroter Feuerstrom wie eine Riesensäule in den Himmel hinaufspritzt, »hör nur dieses, Jakuby! Wo kommt all das Feuer her?«

Und auf diese Frage weiß Jakuby zunächst gar keine Antwort zu finden, zuletzt behauptet er, daß sich im Innern des Kraters Wasserdampf mit Schwefel mische und sich dadurch entzünde ...

Diese Behauptung fördert natürlich gleich einen kräftigen gelehrten Zank zu Tage – denn die Gelehrten von Palermo kennen die Stoffe der Erde viel besser als Jakuby.

Der Alte ärgert sich, daß man ihn widerlegt und ganz unverhohlen zu verspotten wagt.[162]

Ja – Jeder hat so sein Leid zu tragen.

Und der feuerspeiende Ätna war doch so berauschend großartig – die Erde zitterte, der Himmel füllte sich mit mächtigen Rauchwolken, glühende Felsen stürzten aus dem Himmel heraus ins Meer und versanken dort mit fürchterlichem Gezisch.

Die Feuersäule des Kraters erleuchtete ganz Sizilien – Funkenasche fiel dabei langsam herunter.

Zum Donner in der Tiefe gesellte sich der Donner in den Lüften, die von grellen Blitzen fortwährend durchzuckt wurden.

Die Rauchwolken verdunkelten zuweilen die Feuersäule – die kam jedoch immer wieder zum Vorschein – was sehr unheimlich wirkte, da sonst nur Blitze die Gegend erhellten.

Jakuby machte sich viele Notizen – er ging dem feuerspeienden Berge so nahe auf den Leib, daß ihn seine Freunde verließen.

Gegen Morgen schlug ein brennender Stein, der blitzschnell zur Erde niederfiel, dem kühnen Gelehrten zwei Finger von der linken Hand ab.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Abu Hanifa, der in einem Dorfe Südarabiens weilte, kam auch mit harten Steinen in nähere Berührung.

Indeß – das war freiwillig und schmerzlos.

Der junge Abu Hanifa war nämlich nicht bloß Historiker, er beschäftigte sich auch mit allen andern Wissenschaften – besonders gern mochte er die verschiedenen Steinarten der Wüste untersuchen – deshalb reiste er auch in Südarabien – und kam dort mit harten Steinen in nähere, allerdings schmerzlose Berührung. –

Osman ist über diese Sammelei nicht sehr froh, da in Südarabien nur wenig Menschen leben, die für den Weltbund der lauteren Brüder in Frage kommen – von Steinen versteht Osman nichts.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –[163]

Der Trunkenbold Hamadany lebt in Byzanz und vertrinkt dort den Rest seines väterlichen Erbteils.

Hamadany zecht in Byzanz immer allein.

Das versteht der ganz vortrefflich.

Er mietet sich abends eine Gondel und läßt sich hinausfahren aufs Meer – aber nicht zu weit fort – sodaß er immer noch die große Stadt mit ihren Hügeln und Tempeln sehen kann.

Und wenn er dann so allein in seiner Gondel liegt, dann trinkt er und blickt in die Sterne, in den Mond, aufs Wasser, auf die herrliche Stadt und – und – arbeitet.

Er arbeitet allerdings in eigentümlicher Art.

Er ist ein sonderbarer Geograph.

Er will aus der äußeren Form eines Landes die Schicksale dieses Landes herauslesen.

Die Landschaft sagt ihm alles.

Die Menschen sagen ihm nichts – denn die haßt er.

Wenn die Sonne aufgeht, ist Hamadany immer berauscht, und er redet sich ein, daß er in diesem Morgenrausch das mächtige Byzanz besser kennenlerne als alle andern Geographen.

Morgens flutet gewöhnlich ein weiches rötliches Licht über die alte Stadt; ihre Tempel sind umhüllt von weichen Nebeln, die in zarten matten Farben – hellblauen, rosatönigen und gelblichen leuchten. –

Dem Hamadany kommt Byzanz des Morgens wie ein verlockendes Märchenland vor, in dem Wunderlampen brennen und verwünschte Prinzen wohnen – feine Feenpaläste ringsum.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Indeß – der große Philosoph Abu Hischam wanderte zu Fuß durch ganz Persien.

Als er aber nach Samarkand gekommen, blieb er in Samarkand viel länger, als ers nötig hatte.

In Samarkand traf er nämlich gute alte Jugendfreunde, und die tranken sehr gern.[164]

Da nun Abu Hischam eine lustige Gesellschaft über alles liebte – so blieb er in dieser lustigen Gesellschaft.

Die Stadt gehörte ja seit mehr als sechzig Jahren den Arabern, und es fehlte da an nichts.

Namentlich an einer Sache war kein Mangel – an Wein fehlte es nicht.

Und die Frauen von Samarkand fühlten sich sehr verlassen, da alle Männer beim Weine Weib und Kind in rücksichtsloser Weise vergaßen.

So durfte man sich nicht wundern, daß Abu Hischam allabendlich seine Zecherei durch einen Gesang einleitete, der in Samarkand seit Jahr und Tag bis zur Erschöpfung gesungen wurde – in den jeder Mann mit Begeisterung einstimmte, sobald er Wein vor sich hatte.

Es war »der freie Rundgesang« von Samarkand, den Abu Hischam so sehr liebte – so sehr, daß er niemals trinken konnte, wenn er diesen freien Rundgesang nicht beim ersten Becher gesungen – die Strophen gingen nämlich also:


»Wohl dem, der frei von Weib und Kindern

Sein Leben froh vertrinken kann –

Der muß der Menschheit Leiden lindern –

Der ist ein guter freier Mann –

Der lebt im Sturm und Sonnenschein

Gemütlich in den Tag hinein –

Der hat verjubelt alle Pein

Und darf auf Erden selig sein.«


Der dicke Osman hörte davon glücklicherweise nichts – sonst wäre er sehr böse gewesen.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Im Mondtempel zu Hauran wird jedoch ein Brief des Thabit ibn Quorrah abgegeben.

Der Brief, der in Bagdad in der Chalifenburg geschrieben ist, hat folgenden Wortlaut:
[165]

Meine heißgeliebten Freunde!

Ihr denkt schlecht von mir und glaubt, ich möchte Euch schaden. Das will ich aber nicht. Ich will Euch nur warnen. Die Priester im Mondtempel zu Hauran haben nicht mehr dieselbe Macht wie einst, als unsre Vorfahren noch in Babylon lebten. Babylon zerfiel, und unsre Zeiten sind andre. Vor ein paar hundert Jahren durften sich Haurans Priester noch anders schützen als jetzt. Wie der römische Chalif Caracalla nach Hauran wollte, haben ihn Haurans Priester in der Wüste ermordet. Heute dürfen Haurans Priester nicht mehr morden – vergeßt das nicht! In Bagdad ist man mißtrauisch. Hütet Euch drum vor neuen Freunden! Hütet Euch vor den lauteren Brüdern! Der Dichter Safur weilt in Ägypten. Er gehört auch zu den lauteren Brüdern. Warnt die Ägypter! Warnt die Ägypter! Safur ist neugierig und schwatzt gern.

Mit den glühenden Küssen der Freundschaft

Thabit ibn Quorrah.


Die sieben Priester der Ssabier sind bestürzt – Tschirsabâl besonders.

Man spricht aber nicht weiter über den Brief, sondern sendet Boten nach Ägypten, die den Safur suchen und beobachten sollen.

Und dann gehen die Priester wieder an ihre Arbeit – sie bereiten ein großes Fest vor, bei dem im Tempel ein Schauspiel vorgeführt werden soll – eins mit Falltüren, verdeckten Lichtern und verdeckten Spiegeln – mit Geistern und Wundertaten – mit Tod und Schrecken – mit Donner und Blitz.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Der Dichter Safur klettert während dieser Zeit auf eine große ägyptische Pyramide, die nicht weitab von Cairo wie eine Riesenburg daliegt, von deren Spitze aus Safur in die große afrikanische Wüste hineinschauen kann.[166]

Safur hat toll gelebt und alles Mögliche mitgemacht.

Er genoß das Leben in vollen Zügen – aber nicht so wie Kodama – anders – mit der steten Sucht, den einzelnen Genuß zu verfeinern.

Er betete mit schwärmerischen ägyptischen Heiden die Engel an, die in den Pyramiden wohnen sollten.

Nachts wurden die Engel angebetet.

Er lebte mit diesen Ägyptern fast immer zusammen, denn er wollte von ihnen wissen, ob er nicht mal die Engel der Pyramiden mit eigenen Augen schauen könnte – so wie man seine Mitmenschen mit eigenen Augen schaut.

Er unterhielt sich mit den Ägyptern nur von der Geisterwelt.

Und die Ägypter machten dem Dichter klar, daß die Geister nur in den uralten Denkmälern der Vorzeit hausen könnten – in den alten großen Pyramiden.

»Einen Geist«, sagten die Ägypter, »kannst Du allerdings mit eigenen Augen schauen – der Geist ist aber versteinert – die große Sphinx – die kannst Du schauen, mit Deinen Augen anbeten.«

Und mit weisen Ägyptern und mit vielem Volk geht Safur in einer Mondnacht hinaus zur Sphinx und betet die Sphinx an.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Andächtigen liegen vor der großen Sphinx auf den Knieen.

Fackeln und Lagerfeuer flackern ringsum zum Himmel auf.

Safur genießt den großen Augenblick in tollster Verzückung, er starrt in das riesenhaft in den Sternenhimmel hinaufragende Sphinxhaupt mit glühender Inbrunst hinein.

Und er betet die Sphinx an – lange – länger als die Andern – sieht nichts von den Prozessionen – hört nichts von den Gesängen der Priester, die in stiller Mondnacht heimlich hier ihren – Götzendienst verrichten.[167]

Safur betet und genießt seine Seligkeit wie feurigen Wein, ihm ist, als könne er sich dem überirdischen Wesen körperlich nähern.

Er will die Sphinx umarmen – denn er will den Genuß – immer wieder den Genuß – den höchsten – jeden!

Er sagt sich:

»Wozu wollen die Menschen mehr als den Genuß? Wozu? Immer wollen sie drüber hinaus, und sie können doch nicht – ich auch nicht – darum lieb ich die Sphinx! ich liebe die große Sphinx, als wär sie ein Weib – auch wenn sie noch viel größer wäre – ich säh in ihr das Weib doch!«

Und Safur breitet die Arme aus und starrt in das steinerne Antlitz, in dem alle Rätsel der Welt ihre Spuren hinterließen.

Und Safur sieht plötzlich – wie der Sphinx zwei schwarze riesige Flügel wachsen – wie sie davonfliegt – hinweg – in den Himmel hinein.

Und Safur schreit auf, denn er hat plötzlich das Gesicht der Sphinx – anders gesehen – – – die Sphinx ist seine Dschinne – die Dschinne, die er zuerst bei der Sareppa sah.

Dem Dichter schwindet das Bewußtsein.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Als er wieder erwacht, liegt die riesige Sphinx so ruhig da wie vor tausend Jahren – rührt sich nicht.

Aber die Sphinx ist nun doch dem Dichter eine steinerne Dschinne geworden – das große Wüstenweib, dessen Leib zusammenwuchs und eins ward mit dem Löwen, auf dem das Wüstenweib einst als wilde Dschinne durch die Wüste ritt – durch die heiße große Wüste.

Die Lagerfeuer flammen flackernd höher, als erwachten auch sie wieder.

Safur betet an – das Weib, das er lieben kann – das er lieben will – das er lieben muß – die große steinerne Dschinne – seine Dschinne.[168]

Quelle:
Paul Scheerbart: Dichterische Hauptwerke. Stuttgart 1962, S. 152-169.
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