Zehntes Kapitel.

Weihnachten.

[155] Der Abend auf dem Hohenkrähen klang noch etliche Tage in der Herzogin Gemüt fort. Mißtöne werden schwer vergeben, zumal von dem, der sie selber angeschlagen. Darum saß Frau Hadwig einige Tage verstimmt in ihrem Saal. Grammatik und Virgilius ruhten. Sie scherzte mit Praxedis über die Schulmeister in Konstantinopel angelegentlicher denn früher. Ekkehard fragte an, ob er zur Fortsetzung des Unterrichts sich einstellen solle. »Ich habe Zahnweh«, sprach die Herzogin. »Die rauhe Spätherbstluft werde schuld daran sein«, meinte er bedauernd.

Er fragte jeden Tag etliche Male nach seiner Gebieterin Befinden. Das rührte die Herzogin wieder. »Woher kommt's«, sprach sie einmal zu Praxedis, »daß einer mehr wert sein kann, als er selber aus sich zu machen weiß?«

»Vom Mangel an Grazie«, sagte die Griechin. »In andern Ländern hab' ich das Umgekehrte wahrgenommen, aber hier sind die Menschen zu träge, mit jedem Schritt, mit jeder Handbewegung, mit jedem Wort auszusprechen: ›das bin ich‹. Sie denken's lieber und meinen, es müßte dann die ganze Welt auf ihrer Stirn lesen, was dahinter webt und strebt.«

»Wir sind doch sonst so fleißig«, sprach Frau Hadwig wohlgefällig.[155]

»Die Büffel schaffen auch den ganzen Tag«, hätte Praxedis schier erwidert, aber in diesem Falle begnügte sie sich damit, es gedacht zu haben.

Ekkehard war unbefangen. Es fiel ihm nicht ein, daß er der Herzogin ungeeignet geantwortet. Er hatte wirklich an das Gleichnis der Schrift gedacht und übersehen, daß es dem leisen Ausdruck einer Zuneigung gegenüber nicht zweckmäßig ist, die Schrift anzuführen. Er verehrte die Herzogin, aber mehr als den verkörperten Begriff der Hoheit, denn als Frau. Daß Hohes Anbetung fordert, war ihm nicht eingefallen, noch weniger, daß auch die höchste Erscheinung oft mit einfacher Liebe zufrieden ist. Frau Hadwigs üble Laune nahm er wahr. Er begnügte sich, seine Wahrnehmung in dem allgemeinen Satz niederzulegen, daß der Umgang mit einer Herzogin schwieriger sei als der mit Ordensbrüdern nach der Regel des heiligen Benedikt. Aus Vincentius' nachgelassenen Büchern studierte er die Briefe des Apostels Paulus. Herr Spazzo ging in jener Zeit hochmütiger an ihm vorüber denn früher.

Frau Hadwig fand, daß es besser sei, ins frühere Geleis zurückzukehren. »Es war doch ein mächtiger Anblick«, sprach sie eines Tages zu Ekkehard, »wie wir vom hohen Krähen nach den Schneegebirgen schauten. Kennt Ihr aber das Hohentwieler Wetterzeichen? Wenn die Alpen recht klar und nah am Himmel sich abzeichnen, schlägt die Witterung um. Es sind wirklich schlechte Tage darauf gefolgt. Wir wollen wieder Virgilius lesen.«

Da holte Ekkehard vergnügt seinen schweren metallbeschlagenen Virgilius und sie setzten die Studien fort. Er erklärte den Frauen der Äneïde zweites Buch, den Fall der hohen Troja, das hölzerne Pferd und Simons List und Laokoons bittres Verderben, den nächtlichen Kampf, Cassandras Geschick und Priamus' Tod, die Flucht mit dem greisen Anchises.

Mit sichtbarer Teilnahme lauschte Frau Hadwig der spannenden Erzählung. Nur mit dem Verschwinden von Äneas' Ehegemahlin Kreusa war sie nicht ganz zufrieden.[156] »Das braucht er vor der Königin Dido nicht so breit zu erzählen«, sprach sie, »die Lebende hat sicher nicht gern gehört, daß er der Entschwundenen so lange nachgelaufen. Verloren ist verloren.«

Indessen zog der Winter mit scharfem Schritt heran. Der Himmel blieb trüb und bleigrau, die Ferne verhüllt; erst zogen die Berggipfel rings die weiße Schneedecke um, dann folgte Feld und Tal dem Beispiel. Junge Eiszapfen prüften das Gebälke unter dem Dach, ob sie sich für etliche Monate ungestört dran niederlassen möchten; die alte Linde im Schloßhof hatte längst wie ein fürsichtiger Hausvater, der die abgetragenen Gewandungen dem Hebräer überläßt, ihre welken Blätter dem Spiel der Winde hingeschüttelt – es war ein großer Bündel, sie zerzausten ihn in alle Lüfte. An ihre Äste kamen krächzend die Raben aus den nahen Wäldern geflogen, spähend, ob nicht aus der Burg Küche dann und wann ein Knöchlein für sie abfalle. Einmal kam einer mit den schwarzen Brüdern, dessen Flug war schwierig, die Schwungfedern verstümmelt – da ging Ekkehard über den Schloßhof, der Rabe aber flog schreiend auf und suchte das Weite, er hatte den Mönchshabit schon früher gesehen und war ihm nicht hold.

Des Winters Nächte sind lang und dunkel. Dann und wann blitzt ein Nordlicht auf. Aber leuchtender als alles Nordlicht steht jene Nacht in der Menschen Gemüt, da die Engel niederstiegen zu den Hirten auf der Feldwacht und ihnen den Grüß brachten: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden allen, die eines guten Willens sind.«

Auf dem hohen Twiel rüsteten sie zur Feier der Weihnacht durch freundliches Geschenk. Das Jahr ist lang und zählt der Tage viel, in denen man sich Freundliches erweisen kann, aber der Deutschen Sinnesart will auch dafür einen Tag vorgeschrieben haben, darum ist bei ihnen vor anderem Volk die Sitte der Bescherung eingeführt. Das gute Herz hat sein besonder Landrecht.

In jener Zeit hatte Frau Hadwig die Grammatica[157] schier beiseite gelegt; es wurde im Frauensaal viel genäht und gestickt, Knäuel von Goldfaden und schwarzer Seide lagen umher, und wie Ekkehard einsmals unvermerkt eintrat, sprang Praxedis vor ihn hin und wies ihm die Tür, Frau Hadwig aber verbarg ein angefangen Werk der Nadel in einem Körblein.

Da ward Ekkehard aufmerksam und zog nicht ohne Grund den Schluß, es werde etwas zum Geschenk für ihn hergerichtet. Darum sann er darauf, dasselbe zu erwidern und alles aufzubieten, was ihm an Wissen und Kunstfertigkeit zu Gebot stand; er schickte seinem Freund und Lehrer Folkard in Sankt Gallen Bericht, daß ihm der zusende Pergament und Farben und Pinsel und köstliche Tinte. Jener tat's. Ekkehard aber saß manches Stündlein der Nacht in seiner Turmstube und besann sich auf ein lateinisches Reimwerk, das er der Herzogin widmen wollte – und sollten ihr darin etliche feine Huldigungen dargebracht werden. Es ging aber nicht so leicht.

Einmal hatte er begonnen und wollte in kurzem Zug von Erschaffung der Welt bis auf Antritt des Herzogtums in Schwabenland durch Frau Hadwig gelangen, aber es hatte ein paar hundert Hexameter gekostet, da war er noch nicht beim König David angelangt, und das Werk hätte wohl erst Weihnachten über drei Jahre fertig werden können. Ein anderes Mal wollte er alle Frauen aufzählen, die durch Kraft oder Liebreiz in der Völker Geschichte eingegriffen, von der Königin Semiramis an mit Erwähnung der amazonischen Jungfrauen, der heldenmütigen Judith und der melodischen Sängerin Sappho, aber zu seinem Leidwesen fand er, daß, bis sein Griffel zu Frau Hadwig sich durchgearbeitet hätte, er unmöglich noch etwas Neues zu deren Lob und Preis vorzubringen vermöchte. Da ging er sehr betrübt und niedergeschlagen umher.

»Habt Ihr eine Spinne verschluckt, Perle aller Professoren?« frug ihn Praxedis einmal, wie sie dem Verstörten begegnete.

»Ihr habt gut scherzen«, sprach Ekkehard traurig, –[158] und unter dem Siegel der Verschwiegenheit klagte er ihr seine Not. Praxedis mußte lachen:

»Bei den sechsunddreißigtausend Bänden der Bibliothek zu Konstantinopolis!« sagte sie, – »Ihr wollet ja ganze Wälder umhauen, wo es nur ein paar Blümlein zum Strauß erfordert. Macht's einfach, ungelehrt, lieblich – wie es Euer geliebter Virgilius ausgedacht hätte!« – Sie sprang davon.

Ekkehard setzte sich wieder auf seine Stube. »Wie Virgil?« dachte er. Aber in der ganzen Äneïde war kein Beispiel für solchen Fall vorgezeichnet. Er las etliche Gesänge. Dann saß er träumerisch da. Da kam ihm ein guter Gedanke. »Ich hab's!« rief er, »der teure Sänger selber soll die Huldigung darbringen!« Er schrieb das Gedicht nieder, als wenn Virgilius ihm in seiner Turmeinsamkeit erschienen wäre, freudig darüber, daß in deutschen Landen seine Gesänge fortlebten, der hohen Frau dankend, die sein pflege. In wenig Minuten war's fertig.

Das Gedicht wollte Ekkehard mit einer schönen Malerei verziert zu Pergament bringen. Er sann ein Bild aus: die Herzogin mit Krone und Scepter auf hohem Throne sitzend, ihr kommt Virgilius im weißen Gewand, den Lorbeer in den Locken, entgegen und neigt das Haupt; an der Rechten aber führt er den Ekkehard, der bescheiden wie der Schüler mit dem Lehrer einherschreitet, ebenfalls tief sich verneigend.

In der strengen Weise des trefflichen Folkard entwarf er die Zeichnung. Er erinnerte sich an ein Bild im Psalterbuch, wie der junge David vor den König Abimelech tritt131. So ordnete er die Gestalten; die Herzogin zeichnete er Zwei Finger breit höher als Virgilius, und der Ekkehard des Entwurfs war hinwiederum ein Beträchtliches kleiner als der heidnische Poet; – anfangende Kunst, der es an anderem Mittel des Ausdrucks gebricht, spricht Rang und Größe äußerlich aus.

Den Virgilius bracht' er leidlich zuwege. Sie hatten sich in Sankt Gallen bei ihren Malereien stets an Überlieferung alten Bilderwerks gehalten und für Gewandung,[159] Faltenwurf und Bezeichnung der Gestalt einen gleichmäßig sich wiederholenden Zug angenommen. Ebenso gelang es ihm mit seinem eigenen Abbild, sofern er wenigstens eine Figur im Mönchshabit, kenntlich durch eine Tonsur, herstellte.

Aber ein verzweifelt Probleme war ihm die richtige Darstellung einer königlichen Frauengestalt, denn in die klösterliche Kunst hatte noch kein Abbild einer Frau, selbst nicht das der Gottesmutter Maria, Einlaß erhalten. David und Abimelech, die er so gut im Zug hatte, halfen ihm nichts, bei ihnen brach der Königsmantel schon hoch über dem Knie ab, und er wußte nicht, wie den Faltenwurf tiefer herabsenken.

Da lagerte sich wiederum Kümmernis auf seine Stirn. »Nun?« fragte Praxedis eines Tages.

»Das Lied ist fertig«, sprach Ekkehard. »Jetzt fehlt mir was anderes?«

»Was fehlt denn?«

»Ich sollte wissen«, sprach er wehmütig, »in welcher Weise sich der Frauen Gewand um den zarten Leib schmiegt.«

»Ihr sprecht ja ganz abscheulich, erlesenes Gefäß der Tugend«, schalt ihn Praxedis. Ekkehard aber erklärte ihr seinen Kummer deutlicher. Da machte die Griechin eine Handbewegung, als wolle sie die Augenlider in die Höhe ziehen. »Macht die Augen auf«, sagte sie, »und seht Euch das Leben an.« Der Rat war einfach und doch neu für einen, der seine ganze Kunst auf einsamer Stube erlernt. Ekkehard schaute seine Ratgeberin lang' und abmessend an. »Es frommt mir nichts«, sprach er, »Ihr tragt keinen Königsmantel.«

Da erbarmte sich die Griechin des zweifelerfüllten Künstlers. »Wartet«, sagte sie, »die Frau Herzogin ist drunten im Garten, ich will ihren Staatsmantel umlegen, da kann Euch geholfen werden.« Sie huschte fort; in wenig Minuten war sie wieder da, der schwere Purpurmantel mit goldener Verbrämung hing ihr nachlässig um die Schultern. In gemessenem Schritt ging sie durch das[160] Gemach, ein eherner Leuchter stand auf dem Tisch, sie nahm ihn wie einen Szepter, das Haupt auf die Schulter zurückgeworfen, trat sie vor den Mönch.

Der hatte seine Feder ergriffen und ein Stücklein Pergament. »Wendet Euch ein wenig gegen das Licht«, sprach er, und begann emsig seine Striche zu ziehen.

Jedesmal aber, wenn er nach seinem anmutigen Vorbild scheute, warf ihm dies einen blitzenden Blick zu. Er zeichnete langsamer. Praxedis schaute nach dem Fenster: »Und da unsere Nebenbuhlerin im Reich«, sprach sie mit künstlich erhobener Stimme, »bereits den Burghof verläßt und uns zu überfallen droht, so befehlen wir Euch bei Strafe der Enthauptung, Eure Zeichnung in eines Augenblicks Frist zu vollenden«.

»Ich danke Euch«, sprach Ekkehard und legte die Feder nieder.

Praxedis trat zu ihm unb beugte sich vor, in sein Blatt zu sehen. »Schändlicher Verrat«, sprach sie, »das Bild hat ja keinen Kopf.«

»Ich brauche nur den Faltenwurf«, sagte Ekkehard.

»Ihr habt Euer Glück versäumt«, scherzte Praxedis im früheren Ton; »das Antlitz treu abgebildet und wer weiß, ob wir in fürstlicher Gnade Euch nicht zum Patriarchen von Konstantinopel ernannt hätten.«

Es wurden Schritte hörbar. Schnell riß Praxedis den Mantel von den Schultern, daß er auf den Arm niedersank. Schon stand die Herzogin vor den Heiden.

»Wollt Ihr wieder Griechisch lernen?« sprach sie vorwurfsvoll zu Ekkehard.

»Ich hab' ihm den edeln Sardonyx an meiner Herrin Mantel Agraffe gezeigt; es ist so ein feingeschnittener Kopf«, sagte Praxedis, »Herr Ekkehard versteht sich aufs Altertum. Er hat das Antlitz recht gelobt ...«

Auch Audifax traf seine Vorbereitungen für Weihnachten. Seine Hoffnung auf Schätze war sehr geschwunden. Er hielt sich jetzt an das wirklich Vorhandene. Darum stieg er oft nächtlich ins Tal hinunter ans Ufer der Aach, die mit trägem Lauf dem See entgegenschleicht.[161] Beim morschen Steg stand ein hohler Weidenbaum. Dort lauerte Audifax manches Stündlein, den erhobenen Rebstecken nach des Baumes Öffnung gerichtet. Er stellte einem Fischotter nach. Aber keinem Denker ist die Erforschung der letzten Gründe alles Seins so schwierig geworden, wie dem Hirtenknaben seine Otterjagd. Denn aus dem hohlen Ufer zogen sich noch allerhand Ausgänge in den Fluß, die der Otter wußte, Audifax nicht. Und wenn Audifax oft vor Kälte zitternd sprach: »Itzt muß er kommen!«, so kam weit stromaufwärts ein Gebrause hergetönt, das war sein Freund, der dort die Schnauze übers Wasser streckte und Atem holte; und wenn Audifax leise dem Ton nachschlich, hatte sich der Otter inzwischen auf den Rücken gelegt und ließ sich gemächlich stromab treiben ...

In der Hohentwieler Küche war Leben und Bewegung, wie im Zelt des Feldherrn am Vorabend der Schlacht. Frau Hadwig selbst stand unter den dienenden Mägden, sie trug keinen Herzogsmantel, wohl aber einen weißen Schurz, teilte Mehl und Honig aus und ordnete die Backung der Lebkuchen an. Praxedis mischte Ingwer, Pfeffer und Zimt zur Würze des Teigs.

»Was nehmen wir für eine Form?« frug sie. »Das Viereck mit den Schlangen?«

»Das große Herz132 ist schöner«, sprach Frau Hadwig. Da wurden die Weihnachtlebkuchen in der Herzform gebacken, den schönsten spickte Frau Hadwig eigenhändig mit Mandeln und Kardamomen.

Eines Morgens kam Audifax ganz erfroren in die Küche und suchte sich ein Plätzlein am Herdfeuer; seine Lippen zitterten wie in Fieberschauer, aber er war wohlgemut und freudig. »Rüste dich, Büblein«, sprach Praxedis zu ihm, »du mußt heut nachmittag hinüber in den Wald und ein Tännlein hauen.«

»Das ist nicht meines Amtes«, sprach Audifax stolz, »ich will's aber tun, wenn Ihr mir auch einen Gefallen tut.«

»Was befiehlt der Herr Ziegenhirt?« fragte Praxedis.[162]

Audifax sprang hinaus, dann kam er wieder und hielt einen dunkelbraunen Balg siegesfroh in die Höhe, das kurze glatte Haar glänzte daran, dicht und weich war's anzufühlen.

»Woher das Rauchwerk?« fragte Praxedis.

»Selbst gefangen«, sprach Audifax und sah wohlgefällig auf seine Beute. »Ihr sollt eine Pelzhaube für die Hadumoth daraus machen.«

Die Griechin war ihm wohlgesinnt und versprach Erfüllung der Bitte.

Der Weihnachtsbaum war gefällt; sie schmückten ihn mit Äpfeln und Lichtlein, die Herzogin richtete alles im großen Saal. Ein Mann von Stein am Rhein kam herüber und brachte einen Korb, der mit Leinwand zugenäht war. »Es sei von Sankt Gallen«, sprach er, »für Herrn Ekkehard.« Frau Hadwig ließ den Korb uneröffnet zu den andern Gaben stellen.

Der heilige Abend war gekommen. Die gesamten Insassen der Burg versammelten sich in festlichem Gewand, zwischen Herrschaft und Gesind' sollte heut keine Trennung sein. Ekkehard las ihnen das Evangelium von des Heilands Geburt, dann gingen sie paarweise in den großen Saal hinüber, da flammte heller Lichtglanz und festlich leuchtete der dunkle Tannenbaum – als die letzten traten Audifax und Hadumoth ein, ein Blättlein Goldschaum vom Vergolden der Nüsse lag an der Schwelle, Audifax bückte sich darnach, es zerging ihm unter den Fingern. »Das ist dem Christkind von den Flügeln abgefallen«, sprach Hadumoth leise zu ihm.

Auf großen Tischen lagen die Geschenke für die dienenden Leute, ein Stück Leinwand oder gewoben Tuch und einiges Gebäck; sie freuten sich des nicht allzeit so milden Sinnes der Gebieterin. Bei Hadumoths Anteil lag richtig die Pelzhaube. Sie weinte, als Praxedis ihr freundlich den Geber verriet. »Ich hab' nichts für dich«, sagte sie zu Audifax. »Es ist statt der Goldkrone«, sprach der. Knechte und Mägde dankten der Herzogin und gingen in die Gesindestube hinunter.[163]

Frau Hadwig nahm Ekkehard bei der Hand und führte ihn an ein Tischlein. »Das ist für Euch«, sprach sie. Beim mandelgespickten Lebkuchenherz und dem Korb lag ein schmuckes priesterliches Samtbarett und eine prächtige Stola, Grund und Fransen waren von Goldfaden, dunkle Punkte waren mit schwarzer Seide drein gestickt, einige mit Perlen ausgeziert, sie war eines Bischofs wert.

»Laßt sehen, wie Ihr Euch ausnehmt«, sprach Praxedis. Trotz der kirchlichen Bestimmung setzte sie ihm das Barett auf und warf ihm die Stola um. Ekkehard schlug die Augen nieder. »Meisterhaft!« rief sie, »Ihr dürft Euch bedanken.«

Er aber legte scheu die geweihten Gaben wieder ab, aus seinem weiten Gewand zog er die Pergamentrolle und reichte sie schüchtern der Herzogin dar. Frau Hadwig hielt sie unentfaltet. »Erst den Korb öffnen! das Beste –« sprach sie, freundlich auf das Pergament deutend, »soll zuletzt kommen.«

Da schnitten sie den Korb auf; in Heu begraben und durch des Winters Kälte wohlerhalten, lag ein mächtiger Auerhahn drin, Ekkehard hob ihn in die Höhe, mit ausgebreiteten Flügeln reichte er über eines Mannes Länge. Ein Brieflein war bei dem stattlichen Stück Federwild.

»Vorlesen!« sprach die Herzogin neugierig.

Ekkehard öffnete das unkenntliche Sigill und las:


»Dem ehrwürdigen Bruder Ekkehard auf dem hohen Twiel durch Burkard, den Klosterschüler, Romeias, der Wächter am Tor.


Wenn es zwei wären, so wäre einer für Euch. Da es aber auf zwei nicht geglückt hat, so ist der eine nicht für Euch und Eurer kommt nach. Gesendet wird er an Euch wegen Unwissenheit des Namens. Sie war aber mit der Frau Herzogin damals im Kloster und trug ein Gewand von Farbe eines Grünspechts, den Zopf um die Stirn geflochten.

Derselben den Vogel. Wegen fortwährender Gedenkung dessen, der ihn geschossen, an stattgefundene Begleitung zu den Klausnerinnen. Er muß aber stark eingebeizt[164] und mürb gebraten werden, weil sonst zähe; bei Zuzug von Gästen soll sie das weiße Fleisch am Rückgrat selber verzehren, da dies das beste, und das braune von harzigem Geschmack.

Dazu Glück und Segen. Euch, ehrwürdiger Bruder, auch. Wenn auf Eurer Burg ein Wächter, Turmwart oder Forstwart zu wenig, so empfehlet der Herzogin den Romeias, dem wegen Verspottung durch den Schaffner und Verklagung durch den Drachen Wiborad Veränderung des Dienstes wünschenswert. Übung im Tordienst, Einlaß und Hinauswerfung fremden Besuchs betreffend, kann bezeugt werden. Ebenso was Jagd angeht. Und er schaut jetzt schon nach dem hohen Twiel, als zöge ihn ein Seil dorthin. – Langes Leben Euch und der Frau Herzogin. Lebet wohl.«

Fröhlich Lachen schloß die Vorlesung. Praxedis aber war rot geworden. »Das ist ein schlechter Dank von Euch«, sprach sie bissig zu Ekkehard, »daß Ihr Briefe in anderer Leute Namen schreibt und mich beleidiget.«

»Haltet ein«, sprach er, »warum soll der Brief nicht echt sein?«

»Es wär' nicht der erste, den ein Mönch gefälscht«, war Praxedis' gereizte Antwort. »Was braucht Ihr Euch über den groben Jägersmann lustig zu machen? Er war gar nicht so übel.«

»Praxedis, sei vernünftig«, sprach die Herzogin. »Schau' dir den Auerhahn an, der ist nicht im Hegau geschossen, und Ekkehard führt eine andere Feder. Wollen wir den Bittsteller auf unser Schloß versetzen?«

»Das verbitt' ich mir«, rief Praxedis eifrig. »Es soll niemand meinen, daß ...«

»Gut«, sprach Frau Hadwig mit Schweigen gebietendem Ton. Sie rollte Ekkehards Pergament auf. Die Malerei am Anfang war leidlich gelungen, Zweifel über, deren Bedeutung beseitigte die Darüberschreibung der Namen Hadwigis, Virgilius, Ekkehard. Eine kühne Initiale mit verschlungenem goldenen Geäste eröffnete die Schrift.[165]

Die Herzogin war höchlich erfreut. Ekkehard hatte seither über den Besitz solcher Kunst nichts verlauten lassen. Praxedis schaute nach dem purpurnen Mantel, den die gemalte Herzogin trug, und lächelte, als wüßte sie was Besonderes.

Frau Hadwig winkte, daß Ekkehard sein Geschriebenes vorlese und erkläre. Er las.

Verdeutscht lautet's also:


In nächt'ger Stille sah ich jüngst allein

Und ziffert' an den Schriften alter Zeit,

Da flammte hell ein geisterhafter Schein

In mein Gemach. 's war nicht des Mondes Licht, –

Und vor mich trat ein leuchtend Menschenbild,

Unsterblich Lächeln schwebt' um seinen Mund,

In dunkler Fülle wallte das Gelock,

Als Diadem trug er den Lorbeerkranz.


Hindeutend auf das aufgeschlagne Buch,

Sprach er zu mir: »Sei guten Muts, mein Freund,

Ich bin kein Geist, der deinen Frieden stört,

Ich bringe dir nur Gruß und Segenswunsch.

Was toter Buchstab' dort dir noch erzählt,

Das schrieb ich selbst mit warmem Herzblut einst:

Der Troer Waffen, des Äneas Fahrt,

Der Götter Zorn, der stolzen Rom Beginn.


Schon ein Jahrtausend schier ist abgerollt,

Der Sänger starb, es starb sein ganzes Volk.

Still ist mein Grab. Nur selten dringt ein Klang

Zu mir herab von froher Winzer Fest,

Vom Wogenschlag am nahen Kap Misen.


Doch jüngst hat mich der Nordwind aufgestört,

Er brachte Kunde, daß in fremden Gau'n

Man des Äneas Schicksal wieder liest,

Daß eine Fürstin, stolz und hochgemut,

Des Landes Sprache als ein neu Gewand

Um meine Worte gnädig schmiegen heißt.


Wir glaubten einst, am Fuß der Alpen sei

Nur Sumpf des Rheins und ein barbarisch Volk;[166]

Jetzt hat die Heimat selber uns vergessen

Und bei den Fremden leben neu wir auf.

Des Euch zu danken bin ich heute hier:

Das höchste Kleinod, was dem Sänger wird,

Ist Anerkennung einer hohen Frau.


Heil deiner Herrin, der das seltne Gut

Der Stärke und der Weisheit ward beschert,

Die gleich Minerva in der Götter Reih'n,

In Erz gerüstet eine Kriegerin,

Der Friedenskünste Hort und Schutz zugleich.

Noch lange Fahre mög' ihr Szepter walten,

Es blüh' um sie ein stark und sittig Volk,

Und kommt Euch einst ein fremd Getön gerauscht,

Wie Heldenlied und fernes Saitenspiel,

Dann denket mein, es grüßt Italia Euch,

Es grüßt Virgil den Fels von Hohentwiel.«


Er sprach's und winkte freundlich und verschwand.

Ich aber schrieb noch in derselben Nacht,

Was er gesprochen. Meiner Herrin sei's

Als Festgeschenk itzt schüchtern dargebracht

Von ihrem treuen Dienstmann Ekkehard.


Eine kurze Pause erhob sich, als er die Lesung seines Gedichts beendet. Dann trat die Herzogin auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Ekkehard, ich danke Euch!« sprach sie; es waren dieselben Worte, die sie einst im Klosterhof zu Sankt Gallen zu ihm gesprochen, aber der Ton war noch milder wie damals, und der Blick war strahlend und ihr Lächeln wundersam wie das zaubervoller Feyen, von dem die Sage geht, ein Schneeregen blühender Rosen müsse drauf folgen.

Sie wandte sich dann zu Praxedis: »Und dich sollte ich verurteilen, itzt einen abbittenden Fußfall zu tun, die du jüngst so geringschätzend von den gelehrten geistlichen Männern gesprochen.« Aber die Griechin blickte schelmisch drein, wohl wissend, daß ohne ihren weisen Rat und Beistand der scheue Mönch sich kaum zu seiner Dichtung erschwungen.[167]

»In aller Zukunft«, sprach sie, »werde ich seinem Verdienste die gebührende Achtung zollen. Auch einen Kranz will ich ihm flechten, so Ihr gebietet.«

Als Ekkehard hinausgegangen war in seine Turmstube und die stille Mitternacht herannahte, saßen die Frauen noch beieinand. Und die Griechin brachte eine Schale mit Wasser und etliche Stücklein Blei und einen metallenen Löffel. »Das Bleigießen vom vorigen Jahr ist gut eingetroffen«, sprach sie, »wir mochten's uns damals kaum erklären, welch eine sonderbare Form das geschmolzene Stück im Wasser annahm, aber ich meine itzt mehr und mehr, es habe einer Mönchskapuze geglichen, und die ist unserer Burg geworden.«

Die Herzogin war nachdenkend. Sie lauschte, ob Ekkehard nicht etwa durch den Gang zurückkehre.

»Es ist doch nur eitel Spielerei«, sprach sie ...

»Wenn es meiner Herrin nicht gefällt«, sagte die Griechin, »so mag sie unsern Lehrer beauftragen, uns mit Besserem zu erfreuen; sein Virgilius ist freilich ein zuverlässiger Orakel der Zukunft als unser Blei, wenn er in geweihter Nacht mit Segensspruch und Gebet aufgeschlagen wird. Ich wäre fast neugierig, welch ein Stück seiner Dichtung uns die Geschicke des nächsten Jahrs offenbaren würde ...«

»Schweig«, sagte die Herzogin. »Er hat neulich so streng über Zauberei gesprochen, er würde uns auslachen ...«

»Dann werden wir beim alten bleiben müssen«, sprach Praxedis und hielt den Löffel mit dem Blei über das Licht der Lampe. Das Blei schmolz und bewegte sich zitternd, da stund sie auf, murmelte etliche unverständliche Worte und goß es herab. Zischend sprühte das flüssige Metall in die Wasserschale.

Frau Hadwig wandte ihren Blick in scheinbarer Gleichgültigkeit. Praxedis hielt die Schale aus Lampenlicht: statt in seltsame Schlacken zu splittern, war das Blei zusammenhängend geblieben, ein länglich zugespitzter Tropfen. Matt glänzte es in Frau Hadwigs Hand.[168]

»Das ist wiederum ein Rätsel, bis die Lösung kommt«, scherzte Praxedis. »Die Zukunft sieht ja für diesesmal fast aus wie ein Tannenzapfen.«

»Wie eine Träne!« sprach die Herzogin ernst und stützte ihr Haupt auf die Rechte133.

Lauter Lärm im Erdgeschoß der Burg unterbrach das weitere Prüfen der Vorbedeutung; Gekicher und Aufschrei der dienenden Mägde, rauhes Gebrumm männlicher Stimmen, schriller Lautenschlag: so tönte es verworren den Gang herauf; ehrerbietig und schutzflehend hielt der fliehende Schwarm der Dienerinnen an des Saales Schwelle, die lange Friderun unterdrückte mühsam ein lautes Schelten, die junge Hadumoth weinte – tappend kam eine Gestalt hinter ihnen drein, schwerfälligen zweibeinigen Schritts, in rauhe Bärenhaut gehüllt, eine bemalte hölzerne Maske mit namhafter Schnauze vor dem Antlitz; sie brummte und murrte wie ein hungriger Braun, der auf Beute ausgeht, und tat dann und wann einen ungefügen Griff in die Laute, die an rotem Band über die zottigen Schultern gehängt war – aber wie des Weihnachtssaals Türe sich auftat und der Herzogin Gewand entgegenrauschte, machte der nächtliche Spuk kehrt und polterte langsam durch den dröhnenden Gang zurück.

Die alte Schaffnerin ergriff das Wort und trug ihrer Gebieterin vor, daß sie fröhlich unten gesessen und sich der Weihnachtsgaben erfreut, da sei das Ungetüm eingebrochen und habe erst zum eigenen Lautenspiel einen seinen Tanz aufgeführt, hernach aber die Lichter ausgeblasen und die erschrockenen Maiden mit Kuß und Umarmung bedroht und sei so wild und unersättlich geworden, daß es sie alle zur Flucht genötigt; dem rauhen Lachen des Bären aber sei mit Grund zu entnehmen, daß unter der Wildschur Herr Spazzo, der Kämmerer, verborgen stecke, der nach einem scharfen Weintrunk hiemit sein Weihnachtvergnügen beschlossen.

Frau Hadwig beruhigte den Unwillen ihres Gesindes und hieß sie schlafen gehen. Vom Hofe aber tönte noch[169] einmal verwunderter Aufruf; alle standen in einer Gruppe beisammen und schauten unverrückt auf den Turm, denn der schreckhafte Bär war hinaufgestiegen und erging sich jetzo auf den Zinnen der Warte und reckte sein struppiges Haupt nach den Sternen, als wolle er seinem Namensgenossen droben, dem Großen Bären, einen Gruß hinüberwinken ins Unermeßliche.

Die dunkle Vermummung hob sich in deutlichem Umriß vom fahlen glanzerhellten Himmelsgrunde, gespenstig klang ihr Brummen in die schweigende Nacht; doch keinem der Sterblichen ward kund, was die leuchtenden Gestirne dem weinschweren Haupte Herrn Spazzo, des Kämmerers, geoffenbart ...

Um dieselbe Mitternachtstunde kniete Ekkehard vor dem Altar der Burgkapelle und sang leise die Hymnen der Christmette134, wie es die Übung der Kirche vorschrieb.

Quelle:
Joseph Viktor von Scheffel: Kritische Ausgabe in 4 Bänden, Band 3, Leipzig/ Wien 1917, S. 155-170.
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