Um dieselbe Zeit, da Ekkehard in der Klosterkirche der Insel eine unfreiwillige Andacht abhielt, war Frau Hadwig auf dem Söller von Hohentwiel gestanden und hatte lange hinausgeschaut – aber nicht nach der untergehenden Sonne. Die ging ihr im Rücken, hinter den dunkeln Bergen des Schwarzwaldes zur Ruhe. Frau Hadwig aber schaute erwartungsvoll nach dem Untersee und nach dem Pfad, der von seinem Ausgang sich dem Hohentwieler Fels entgegen zog. Die Aussicht schien ihr nicht zu genügen; wie's dunkel ward, ging sie unwillig103 zurück, ließ ihren Kämmerer rufen und verhandelte lang' mit ihm ...[100]
Am frühen Morgen des andern Tages stund Ekkehard gerüstet zu weiterer Fahrt an der Schwelle des Klosters. Der Abt war auch schon wach und machte einen Frühgang im Gärtlein. Der Richterernst des gestrigen Tages lag nicht mehr auf seiner Stirne. Ekkehard sagte ihm Valet. Da raunte ihm der Abt lächelnd ins Ohr: »Seliger, der du eine solche Schülerin die Grammatik lehren darfst!« Das schnitt in Ekkehards Herz. Eine alte Geschichte stieg in seiner Erinnerung auf, – auch in den Klostermauern gab's böse Zungen und überlieferte Stücklein, die vom einen zum andern die Runde machten.
»Ihr gedenket wohl der Zeit, heiliger Herr«, sprach er höhnisch, »da Ihr die Nonne Clotildis in der Dialektik unterrichtet104?«
Damit ging er hinab zu seinem Schiffe. Der Abt hätte lieber ein Büchslein mit Pfeffer zum Frühmahl eingenommen als diese Erinnerung. »Glückliche Reise!« rief er dem Scheidenden nach.
Von dieser Zeit hatte Ekkehard es mit den Reichenauer Klosterleuten verdorben. Er ließ sich's nicht kümmern und fuhr mit seinem Ermatinger Fergen den Untersee hinab.
Träumerisch schaute er aus seinem Schifflein hinaus ins Weite. Im durchsichtigen Duft des Morgens wogte der See, zur Linken hoben sich die schlanken Türmchen von Eginos Klause Niederzell, – dort streckt das Eiland seine letzten Spitzen ins Gewässer hinaus, eine steinerne Pfalz schaute aus den Weidenbüschen vor – aber Ekkehards Blick haftete auf der Ferne, der er zusteuerte; groß, stolz, in steiler kecker Linie trat ein felsiger Bergrücken aus dem Gehügel des Ufers vor, gleich dem Gedanken eines Geistesgewaltigen, der wuchtig und tatenschwer flache Umgebung überragt, die Frühsonne warf helle Streiflichter auf Felskanten und Gemäuer. Fern zur Rechten hoben sich etliche niedere Kuppen von gleicher Form, bescheiden, als wären sie Feldwachen, die der Große ausgesendet.
»Der Hohentwiel!« sprach der Fährmann zu Ekkehard. Der hatte das Ziel seiner Fahrt in früheren Tagen noch niemals erschaut, aber es brauchte des Schiffers Wort nicht,[101] um's ihm zu sagen. So mußte der Berg sein, den sie zu ihrem Sitze erkoren. Eine ernste Stimmung kam über Ekkehard. Züge des Gebirges, weite Flächen, Wasser und Himmel, große Landschaft wirkt jederzeit Ernst im Gemüt, nur des Menschen Getrieb ruft ein Lächeln auf des Beschauers Lippe. Er gedachte des Apostel Johannes, wie der einst der Felseninsel Patmos entgegengefahren, und wie ihm dort eine Offenbarung aufgegangen ...
Der Fährmann steuerte rüstig vorwärts. Schon waren sie dem Ufervorsprung, der die Zelle Radolfs und die wenig umliegenden Behausungen trägt, nahe. Da trieb ein seltsam Schifflein im See, roh, ein hohler Baumstamm, aber ganz verdeckt und überbaut mit grünem Gezweig und Schilfrohr, und war kein Ruderer zu erschauen, der es lenkte. Der Wind schaukelte es dem Geröhricht am Gestade entgegen.
Ekkehard hieß seinen Fergen das absonderliche Fahrzeug anhalten. Da stieß derselbe mit seiner Ruderstange in die grüne Verhüllung.
»Pest und Aussatz Euch ins Gebein!« fluchte es mit tiefer Stimme aus der Höhlung hervor, »oleum et operam perdidi, Hopfen und Malz ist verloren. Wildgans und Kriekente sind des Teufels!«
Ein Zug Wasservögel, der mit heiserem Geschnatter in der Nähe aufstieg und landeinwärts flog, bestätigte des Fluchenden Ausspruch.
Im Buschwerk des Schiffleins aber knisterte es und hob sich auf, ein wettergebräuntes, runzeldurchfurchtes Antlitz schaute herüber, um den Leib schmiegte sich ein verblichen geistlich Kleid, das, an den Knieen mit unsicherem Messerschnitt gekürzt, zerzaust herabhing; im Gürtel stak ein Köcher statt des Rosenkranzes, die gespannte Armbrust lag auf des Schiffleins Vorderteil.
»Pest und Aussatz« – wollte des Fahrzeugs Insasse nochmals anheben, da schaute er Ekkehards Tonsur und Benediktinergewand und änderte den Ton: »Hoiho! salve confrater! Beim Bart des heiligen Patrik von Armagh, so mich Euer Fürwitz noch eine Viertelstunde länger ungehindert[102] gelassen, könnt' ich Euch zu einem weidlichen Bissen Seewildbret einladen.« Mit Bewegung schaute er den in die Ferne streichenden Wildenten nach.
Ekkehard aber hob lächelnd den Zeigefinger: »Ne clericus venationi incumbat! Kein Geweihter des Herrn soll der Jagd pflegen105.«
»Stubenweisheit«, rief der andere, »gilt nicht bei uns am Untersee. Seid Ihr etwann gesendet, beim Leutpriester zu Radolfszelle Kirchenschau zu halten?«
»Beim Leutpriester zu Radolfszelle?« frug Ekkehard. »Steht hier der Bruder Marcellus vor mir?« Er tat einen Seitenblick auf des Weidmanns rechten Arm, an dem sich die Kutte zurückgestreift hatte; in rauhen Linien war ein von einer Schlange umwundenes Heilandbild eingeätzt und stund mit punktierten Buchstaben drüber Christus vindex106.
»Bruder Marcellus?« lachte der Gefragte und strich mit der Hand über die Stirn, »fuimus TroesA1, willkommen in Moengals Revier!«
Er stieg aus seinem hohlen Baum in Ekkehards Schiff hinüber. »Der heilige Gallus soll leben!« sprach er und küßte ihn auf Wange und Stirn, »lasset uns ans Land fahren, Ihr seid mein Gast, wenn auch ohne Wildenten.«
»Euch hab' ich mir anders vorgestellt«, sprach Ekkehard. Das war kein Wunder.
Nichts gibt ein falscher Bild von Menschen, als nach ihnen an denselben Ort kommen, wo sie einstens gewirkt, vereinzelte Reste ihrer Tätigkeit sehen und aus dem Gerede der Zurückgebliebenen sich eine Vorstellung des Weggegangenen schaffen. Tiefstes und Eigenstes bleibt dritten meist unbeachtet, auch wenn's offen zutag' liegt, in der Überlieferung schwindet's ganz. Als Ekkehard ins Kloster trat, war der Bruder Marcellus schon nach der verlassenen Zelle Radolfs als Pfarrherr abgegangen. Etliche zierlich geschriebene Urkunden, Ciceros Buch von den Pflichten, und ein lateinischer Priscianus mit irischer Schrift zwischen[103] den Zeilen erhielten sein Andenken. Viel verehrt lebte sein Name noch an der innern Klosterschule, er war der tüchtigsten Lehrer einer gewesen, tadellos sein Wandel. Seither war er in Sankt Gallen verschollen. Darum hatte sich Ekkehard statt des Weidmanns im See einen ernsten, hagern, blassen Gelehrten erwartet.
Das Gestad von Radolfs Zelle war erreicht; eine dünne, nur auf einer Seite geprägte Silbermünze stellte den Fährmann zufrieden107. Sie gingen ans Land. Wenig Häuser und schmucklose Fischerhütten standen um das Grabkirchlein, das Radolfs Gebeine birgt.
»Wir sind an Moengals Pfarrhaus«, sprach der Alte, »tretet ein. Ihr werdet hoffentlich dem Bischof zu Konstanz keinen Bericht von meinem Hauswesen erstatten wie jener Dekan von Rheinau, der behauptete, er habe bei mir Krüge und Trinkhörner von einer jedem Zeitalter verhaßten Größe erschauen müssen108.«
Sie traten in eine holzgetäfelte Halle. Hirschgeweih und Auerochsenhörner hingen über dem Eingang, Jagdspieße, Leimruten, Fischgarne lehnten in malerischer Unordnung an den Wänden, an das umgestürzte Fäßlein im Winkel schmiegte sich der Würfelbecher: wäre es nicht des Leutpriesters Behausung gewesen, so hätte füglich auch der Förster des kaiserlichen Bannwaldes hier wohnen können.
In kurzem stund ein Krug säuerlichen Weines auf dem Eichentisch, auch Brot und Butter lieferte die Vorratskammer. Dann kam der Leutpriester aus der Küche zurück, hielt sein Gewand wie eine gefüllte Schürze und schüttete einen Platzregen von geräucherten Gangfischen vor seinen Gast. »Heu, quod anseres fugasti antvogelosque et horotumblum! Weh, daß du mir die Wildgänse verscheucht und die Enten samt der Rohrdommel109!« sprach er, »aber wenn einer nur die Wahl zwischen Gangfisch und gar nichts hat, greift er immer noch zum erstern.«
Glieder derselben Genossenschaft sind schnell befreundet. Ein lebhaft Gespräch erhob sich beim Imbiß. Aber der Alte hatte mehr zu fragen, als Ekkehard beantworten[104] konnte; von so manchem seiner alten Brüder war nichts mehr zu berichten, als daß sein Sarg eingemauert stand bei dem der andern und ein Kreuz an der Wand und ein Eintrag im Totenbuch die einzige Spur, daß er gelebt; – die Geschichten und Späßlein und Klosterfehden, wie sie vor dreißig Jahren erzählt wurden, waren durch neue ersetzt, und was seit damals geschehen, ließ ihn gleichgültig. Nur wie Ekkehard von dem Zweck und Ziel seiner Fahrt sprach, rief er: »Hoiho, Konfrater, was habt Ihr wider die Jagd gesprochen und ziehet ja selber auf Edelwild aus!«
Aber Ekkehard lenkte ab. »Habt Ihr noch nie Heimweh nach des Klosters Stille und Wissenschaft verspürt?« frug er.
Da flammte des Leutpriesters Aug': »Ward Catilina von Heimweh nach den Holzbänken des römischen Senats geplagt, nachdem von ihm gesagt war: excessit, evasit, erupitA2? Junges Blut versteht das nicht. Fleischtöpfe Ägyptens?! ille terrarum mihi praeter omnesA3... sprach der Hund zum Stall, in dem er sieben Jahre gelegen.«
»Ich versteh' Euch allerdings nicht«, sprach Ekkehard. »Was schuf Euch solche Änderung der Sinnesart?« Er warf einen Seitenblick auf das Jagdgerät.
»Die Zeit«, gab der Leutpriester zurück und klopfte seinen Gangfisch auf dem Eichentisch mürb, – »die Zeit und wachsende Erkenntnis. Das braucht Ihr aber Eurem Abte nicht zu berichten. Bin auch einmal ein Bursch gewesen wie Ihr, Irland zieht fromme Leute, sie wissen's hierzulande. Eheu, wie war ich untadligen Gemütes, wie ich mit Oheim Marcus von der Wallfahrt gen Rom zurückkam110. Hättet den jungen Moengal sehen sollen, die ganze Welt war ihm keinen Gründling wert, aber Psallieren, Vigilien singen, geistliche Übungen halten: das war mein Labsal. Da ritten wir in Gallus' Kloster ein – einem heiligen Landsmann zu Ehren macht ein braver Irländer schon ein paar Meilen um, – ich aber bin ganz dort hängengeblieben. Kleider, Bücher, Gold und Wissen,[105] der ganze Mensch ward des Klosters, und der irische Moengal ward Marcellus geheißen und warf seines Oheims silberne und goldene Pfennige zum Fenster hinaus, daß die Brücke abgebrochen sei, die zur Welt zurückführt. Waren schöne Jahre, sag' ich Euch, hab' gewacht und gebetet und studiert nach Herzenslust.
Aber viel Sitzen ist schädlich dem Menschen, und viel Wissen macht überflüssige Arbeit. Manchen Abend hab' ich gegrübelt wie ein Bohrwurm und disputiert wie eine Elster, nichts war unergründlich: wo das Haupt Johannis, des Täufers, begraben liege, und in welcher Sprache die Schlange zu Adam gesprochen – alles klar erörtert, nur daran war ich nicht zu denken geraten, daß der Mensch auch Knochen und Fleisch und Blut mit sich in die Welt bekommen. Hoiho, Konfrater, da kamen böse Stunden, mögen sie Euch erspart bleiben! der Kopf ward schwer, die Hände unruhig, am Schreibtisch kein Bleiben, in der Kirche kein Knieen – fort! hieß es, nur fort und hinaus! Dem alten Thieto sagt' ich dereinst, ich habe eine Entdeckung gemacht. Was für eine? Daß es jenseits unserer Mauern frische Luft gebe ... Da versagten sie mir den Ausgang, aber manche Nacht bin ich heimlich auf den Glockenturm gestiegen111 und hab' hinausgeschaut und die Fledermäuse beneidet, die in Tannenwald hinüber flogen ... Konfrater, dagegen hilft kein Fasten und kein Beten, was im Menschen steckt, muß heraus.
Der vorige Abt hat billige Einsicht genommen und mich auf Jahresfrist hierher geschickt, aber der Bruder Marcellus kam nimmer heim. Wie ich hier im Schweiß meines Angesichtes den Tannbaum fällte und den Nachen zimmerte und den Strichvogel aus den Lüften herunterholte, da ist mir ein Licht aufgegangen, was gesund sein heißt – Fischfang und Weidwerk beizen die unnützen Mücken aus dem Kopf – so stehe ich seit dreißig Jahren der Zelle Radolfi vor, rusticitate quadam imbutus, einer gewissen Verbauerung ausgesetzt, was verficht's? Ich bin gleich der Kropfgans in der Wüste, gleich der Eule, die in Trümmern nistet, sagt der Psalmist, aber frisch und[106] stark, und der alte Moengal gedenkt sobald noch nicht ein stummer Mann zu werden und weiß, daß er wenigstens vor einem Unglück sicher sein darf ...«
»Was meint Ihr für ein Unglück?« frug Ekkehard.
»Daß ihm Sankt Petrus dereinst den himmlischen Torschlüssel vor die Stirn schlägt und spricht: ›Hinaus mit dir, der du unnütz und eitel Philosophie getrieben!‹«
Ekkehard ließ sich auf Moengals Herzensergießungen nicht näher ein. »Ihr habet wohl rauhen Dienst in Sorge der Seelen«, sprach er, »verstockte Herzen, Heidentum und Ketzerei ...«
»'s geht an«, sprach der Alte, »im Mund der Bischöfe und kaiserlichen Räte, in den Kapitularien und Synodal beschlüssen nimmt sich's haarsträubend aus, wenn sie den heidnischen Irrwahn abzeichnen und mit Strafsatzung bedräuen. 's ist eben alter Glaube hierlands, im Baum und Fluß und auf lustiger Bergeshöhe der Gottheit nachzuspüren. Jeder auf der Welt muh seine Apokalypsis haben, die Hegauer suchen sie draußen ... es läßt sich auch etwas dabei denken, wenn der Mensch frühmorgens im Schilfe steht und die Sonne über ihm aufgeht ...
Deshalb kommen sie am Tage des Herrn doch zu mir und singen die Messe mit, und wenn der Sendbote ihnen nicht so manchen Strafschilling aus dem Sack zwickte, würden sie noch fröhlicher sich zum Evangelium wenden. –
Stoßt an, Konfrater, die frische Luft ...«
»Erlaubt«, sprach Ekkehard mit seiner Wendung, »daß ich das Wohl Marcellus', des Lehrers an der Klosterschule, des Verfassers der irischen Übersetzung des Priscianus trinke.«
»Mir auch recht«, lachte Moengal. »Was aber die irische Übersetzung betrifft, die möchte einen Haken haben112.«
In Ekkehard war das Verlangen groß, seinen hohen Twiel zu erreichen. Kurz vor dem Ziele weiter Fahrt hat noch selten einer lange Rast gehalten. »Der Berg steht fest in der Erden«, sprach zwar Moengal, »der entfleucht Euch nimmer.«
Aber Moengals Wein und seine Lehre von der frischen[107] Luft hatten für den, der einer Herzogin entgegen sollte, wenig Verstrickendes. Er brach auf.
»Ich geh' mit Euch bis an des Pfarrsprengels Grenze«, sagte der Leutpriester, »heute dürft Ihr mir noch zur Seite gehen, trotz meines verblichenen Gewandes; wenn Ihr auf dem Berg droben festsitzet, dann werdet Ihr meinen, die Verklärung sei über Euch gekommen, und werdet ein vornehmer Herr werden, und wenn Ihr dereinst an Frau Hadwigs Seite gen Radolfs Zelle geritten kommet, und der alte Moengal steht an der Schwelle, so wird ihm eine gnädige Handbewegung als Almosen zugeworfen – der Welt Lauf! Wenn der Heuerling groß geworden, heißt er Felchen und frißt die Kleinen seines Geschlechts.«
»Das sollt Ihr nicht sagen«, sprach Ekkehard und küßte den irischen Mitbruder.
Da gingen sie zusammen, und der Leutpriester nahm seine Leimruten mit, im Rückweg den Vögeln des Waldes Nachstellung zu bereiten. Es war ein langer Weg durch den Tannenwald, lang und still.
Wie sich das Gehölz lichtete, da stand in dunkler Masse der hohe Twiel und warf ihnen seinen Schatten entgegen. Moengal aber schaute mit scharfem Aug' den Waldpfad entlang durch die Lichtung der Tannen. »Es streicht was durchs Revier«, sprach er.
Sie waren wieder etliche Schritte gegangen, da griff Moengal seinen Gefährten am Arm, stellte ihn, deutete vorwärts und sprach: »Das sind keine Wildenten noch Tiere des Waldes!«
Es kam ein Ton herüber, als wenn fernab ein Roß gewiehert ... Moengal sprang seitwärts, schlich sich ein gut Stück im jungen Gehölz vorwärts, legte sich auf den Boden und spähte.
»Weidmanns Torheit«, sprach Ekkehard und wartete seiner. Jetzt kam er zurück. »Bruder«, sprach er »liegt der heilige Gall in Fehde mit einem der Gewaltigen dieses Landes?«
»Nein.«
»Habt Ihr einen beleidigt?«[108]
»Nein.«
»Sonderbar«, sprach der Alte, »es kommen drei Gewaffnete geritten.«
»Es werden Boten der Herzogin sein, mich zu empfangen«, sprach Ekkehard mit stolzem Lächeln.
»Hoiho!« brummte Moengal, »fehlgeschossen! Das ist nicht herzoglicher Dienstmannen Kleid, der Helm ist sonder Abzeichen. Und im grauen Mantel reitet kein Twieler!«
Er hemmte seinen Schritt.
»Vorwärts!« sprach Ekkehard. »Wes Herz ohne Schuld, den geleiten die Engel des Herrn.«
»Im Hegau nicht immer!« war des Alten Antwort. Es war keine Gelegenheit zu weiterem Zwiegespräch, Hufschlag tönte, der Boden klirrte, drei Reitersmänner kamen gesprengt, den Helm geschlossen, das Schwert gezogen ...
»Folgt mir«, rief der Leutpriester, »maturate fugamA4!« Er warf seine Leimruten zu Boden und wollte Ekkehard mit zur Seite ziehen. Der aber wandte sich nicht. Da sprang Moengal allein ins Buschwerk hinüber, die Dornen zogen ihm zu den alten Rissen ins morsche Gewand etliche neue, er wand sich los, mit den Sprüngen eines Eichhorns setzte er ins Dickicht. Er kannte die Schliche.
»Er ist's!« rief der vorderste der Reiter, da sprangen die andern von den Rossen, stolz sah ihnen Ekkehard entgegen: »Was wollt Ihr?« – keine Antwort; er griff zum Kruzifix, das ihm im Gürtel hing. »Im Namen des Gekreuzigten! ...« wollte er anheben, aber schon war er zu Boden geworfen, unsanfte Fäuste hielten ihn, ein Strick ward um seine Hände geschlungen, bald lagen sie geknebelt auf dem Rücken – eine weiße Binde umschloß seine Augen knapp und fest, daß es dunkel um ihn ward – »Vorwärts!« die Überraschung des Augenblicks beugte ihm die Kniee, unsicher schritt er, da hoben sie ihn und trugen ihn ein Stück weit. Am Beginn des Waldes stunden vier Männer mit einer Sänfte, in die warfen sie den Betroffenen und weiter ging's durch die Ebene, am[109] steten Hufschlag zur Seite merkte Ekkehard, daß die Reiter ihren Fang geleiteten.
Derweil Moengal durch den Wald floh, hüpften die Meisen so zutraulich auf den Zweigen, und heller Drosselschlag umtönte ihn, da vergaß er der Gefahr, und sein Herz kränkte sich, daß er die Leimruten fahren gelassen.
Wie er aber auch noch die Wachtel ihr: Quakkara! Quakkara113 rufen hörte, klang ihm das geradezu herausfordernd, und er wandte seinen Schritt zum Platze des Überfalls. Es war still dort, als wäre nichts geschehen. In der Ferne sah er die Kriegsleute abziehen. Die Helme glänzten.
Es werden aber viele, so die ersten waren, die letzten sein, sprach er kopfschüttelnd und las seine Leimruten zusammen. Zu einer Fürstin Saal gedachte er zu gehen und das Gefängnis nimmt ihn auf. »Heiliger Gallus, bitt' für uns!«
Weiter zerbrach sich Moengal den Kopf nicht. Derlei Vergewaltigung war häufig wie Schlüsselblumen im Frühling.
Es schwamm einmal ein Fisch klaftertief unten im Bodensee, der könnt' sich's gar nicht erklären, was den Kormoran zu ihm hinabführte, der schwarze Tauchervogel hatte ihn schon im Schnabel und flog mit ihm hoch durch die Lüfte weg: noch war's ihm unbegreiflich. So lag Ekkehard in der Sänfte, ein gebundener Mann; je mehr er über seines Geschickes Wendung nachsann, desto weniger mocht' er's fassen.
Dräuend stieg der Gedanke in ihm auf, es möchte wohl einer im Hegau sitzen, ein Freund oder Blutsverwandter der Kammerboten, und jetzt am unschuldigen Jünger des heiligen Gallus Rache nehmen, denn Salomo, der Ursächer ihres schmählichen Todes, war zugleich Abt jenes Klosters gewesen. Für den Fall mochte sich Ekkehard auf das Schlimmste bereit halten, er wußte, wie manchen priesterlichen Standes nicht die Tonsur, nicht geistlich Gewand vor dem Ausstechen der Augen oder Abhauen der Hände geschützt, wenn's um Rache ging.
Er gedachte aus Sterben. Mit seinem Gewissen war er[110] versöhnt, der Tod trug ihm kein Schrecknis zu, aber tief im Herzen klang doch eine leise Frage: »Warum nicht erst in Jahresfrist, nachdem mein Fuß den Twiel betrat?« –
Jetzt gingen die Träger der Sänfte langsamen Schrittes, es mochte einen Berg hinan gehen. »Auf welches der Felsennester dieses Landes schleppen sie mich?« Ein halb Stündlein mochten sie aufwärts gestiegen sein, da schlug der Huftritt der Reiter rasselnd und hohl auf, wie wenn sie über eine hölzerne Brücke ritten. Noch blieb's still, kein Wächterruf, – die Entscheidung konnte nimmer fern sein. Da kam ein starkes Vertrauen über Ekkehard, die Worte des Psalms traten vor ihn: »Gott ist unsere Zuflucht und Stärke, als Hilfe in Nöten mächtig erfunden. Darum fürchten wir nichts, ob auch die Erde wechselte und die Berge wankten im Herzen des Meers. Mögen brausen die Gewässer, die Berge beben bei seinem Ungestüm. Jehovah ist mit uns, unsere Zuflucht der Gott Jakobs, Sela ...«
Über eine zweite Brücke ging's. Ein Tor ward aufgetan, die Sänfte stand. Da huben sie ihren Gefangenen herfür, sein Fuß berührte den Boden, es war Gras – ein Flüstern schlug an sein Ohr, als wär' viel Volk in der Nähe versammelt, der Strick um seine Hände ward gelöst. »Nehmt Euch die Binde von den Augen!« sprach einer seiner Begleiter, er tat's – Herz, jauchze nicht! er stand im Schloßhof von Hohentwiel ... Fröhlich rauschte es im! Geäst der alten Linde, ein zeltartig Getüch war darein gespannt, Kränze von Eppich und Weinlaub hingen hernieder, der Burg Insassen standen gedrängt herum, auf steinerner Bank saß die Herzogin, der purpurdunkle Fürstenmantel wallte von den Schultern, mildes Lächeln umspielte die herben Züge – itzt erhob sich die herrliche Gestalt, sie schritt Ekkehard entgegen: »Willkommen in Hadwigs Burgfrieden!« Er wußte kaum, wie ihm geschah, und wollte ins Knie sinken, huldreich hob sie ihn empor und winkte dem Kämmerer Spazzo, der warf seinen grauen Reitermantel ab, ging auf Ekkehard zu und umarmte ihn wie einen alten Freund: »Im Namen unserer Gebieterin empfahet den Friedenskuß!«[111]
Flüchtig zuckte in Ekkehard der Gedanke: »Soll hier ein Spiel mit mir gespielt werden?« aber die Herzogin rief scherzend:
»Ihr seid mit gleicher Münze bezahlt. Habt Ihr vor drei Tagen die Herzogin in Schwaben nicht anders als getragen über des heiligen Gallus Schwelle kommen lassen, so war's billig, daß auch sie den Mann von Sankt Gallen in ihr Schloß tragen ließ.«
Und Herr Spazzo schüttelte ihm nochmals die Hand und sprach: »Nichts für ungut, es war strenger Befehl so!« – Er hatte erst den Überfall befehligt und wirkte itzt zum herzlichen Empfang, beides mit gleich unveränderter, gewichtiger Miene, denn ein Kämmerer muß gewandt sein und auch das Widersprechende in Form zu bringen wissen.
Ekkehard lächelte: »Für einen Scherz«, sagte er, »habt Ihr's recht ernsthaft ausgeführt.« Er gedachte dabei insbesondere, wie ihm einer der Reitersmänner, da sie ihn in die Sänfte warfen, mit erzbeschlagenem Lanzenschaft einen schweren Stoß in die Seite versetzt. Das stand freilich nicht in der Herzogin Befehl, aber der Reitknecht war schon unter Luitfried, des Kammerboten Neffen, dabei gewesen, wie sie den Bischof Salomo einstmals niederwarfen, und hatte sich von dazumal die irrige Meinung eingeprägt, bei Niederwerfung geistlicher Herren gehöre ein fester Faustschlag, Stoß oder Fußtritt unumgänglich zum Landbrauch114.
Jetzt führte Frau Hadwig ihren Gast an der Hand durch den Schloßhof und wies ihm ihre lustige Behausung und die stolze Fernsicht nach Bodensee und Alpenkuppen, und der Burg Leute baten um seinen Segen – auch die Reitknechte kamen und die Träger der Sänfte, und er segnete sie alle.
Dann geleitete ihn die Herzogin bis an den Eingang. Ein Bad war ihm zurechtgemacht115 und frische Gewandung bereitet; sie hieb ihn sich pflegen und ausruhen, und Ekkehard war fröhlich und guter Dinge nach leicht erstandener Gefahr ...
In der Nacht, die jenem Tage folgte, trug sich's im[112] Kloster Sankt Gallen zu, daß Romeias, der Wächter, ohn' allen Anlaß von seiner Matte auffuhr und grimmig in sein Horn stieß, so daß die Hunde im Klosterhof anschlugen und alles wach wurde und zusammenlief – und war doch weit und breit niemand, der Einlaß begehrte. Der Abt schrieb's auf Rechnung böser Geister, ließ aber zugleich des Romeias Vespertrunk sechs Tage lang auf die Hälfte herabsetzen, – eine Maßregel, die jedoch auf Voraussetzung eines gänzlich unrichtigen Grundes beruhte.
A1 »Gewesen sind wir Troer«, sagt der Priester Panthus bei der Eroberung Iliums (»Äneis« 2, 325).
A2 Cicero in der zweiten Catilinarischen Rede.
A3 Aus einer Ode des Horaz (II, 6): »Dies Plätzchen gefällt mir vor allen ...«
A4 Fliehet eiligst!
Ausgewählte Ausgaben von
Ekkehard
|
Buchempfehlung
Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro