Vierzehnter Auftritt


[810] Soldaten mit fliegenden Fahnen erfüllen den Hintergrund. Vor ihnen der König und der Herzog von Burgund, in den Armen beider Fürsten liegt Johanna tödlich verwundet, ohne Zeichen des Lebens. Sie treten langsam vorwärts. Agnes Sorel stürzt herein.


SOREL wirft sich an des Königs Brust.

Ihr seid befreit – Ihr lebt – Ich hab Euch wieder!

KÖNIG.

Ich bin befreit – Ich bins um diesen Preis!


Zeigt auf Johanna.


SOREL.

Johanna! Gott! Sie stirbt!

BURGUND.

Sie hat geendet!

Seht einen Engel scheiden! Seht, wie sie daliegt,

Schmerzlos und ruhig wie ein schlafend Kind!

Des Himmels Friede spielt um ihre Züge,

Kein Atem hebt den Busen mehr, doch Leben

Ist noch zu spüren in der warmen Hand.

KÖNIG.

Sie ist dahin – Sie wird nicht mehr erwachen,[810]

Ihr Auge wird das Irdsche nicht mehr schauen.

Schon schwebt sie droben ein verklärter Geist,

Sieht unsern Schmerz nicht mehr und unsre Reue.

SOREL.

Sie schlägt die Augen auf, sie lebt!

BURGUND erstaunt.

Kehrt sie

Uns aus dem Grab zurück? Zwingt sie den Tod?

Sie richtet sich empor! Sie steht!

JOHANNA steht ganz aufgerichtet und schaut umher.

Wo bin ich?

BURGUND.

Bei deinem Volk, Johanna! Bei den Deinen!

KÖNIG.

In deiner Freunde, deines Königs Armen!

JOHANNA nachdem sie ihn lange starr angesehen.

Nein, ich bin keine Zauberin! Gewiß

Ich bins nicht.

KÖNIG.

Du bist heilig wie die Engel,

Doch unser Auge war mit Nacht bedeckt.

JOHANNA sieht heiter lächelnd umher.

Und ich bin wirklich unter meinem Volk,

Und bin nicht mehr verachtet und verstoßen?

Man flucht mir nicht, man sieht mich gütig an?

– Ja, jetzt erkenn ich deutlich alles wieder!

Das ist mein König! Das sind Frankreichs Fahnen!

Doch meine Fahne seh ich nicht – Wo ist sie?

Nicht ohne meine Fahne darf ich kommen,

Von meinem Meister ward sie mir vertraut,

Vor seinem Thron muß ich sie niederlegen,

Ich darf sie zeigen, denn ich trug sie treu.

KÖNIG mit abgewandtem Gesicht.

Gebt ihr die Fahne!


Man reicht sie ihr. Sie steht ganz frei aufgerichtet, die Fahne in der Hand – Der Himmel ist von einem rosigten Schein beleuchtet.


JOHANNA.

Seht ihr den Regenbogen in der Luft?

Der Himmel öffnet seine goldnen Tore,

Im Chor der Engel steht sie glänzend da,

Sie hält den ewgen Sohn an ihrer Brust,

Die Arme streckt sie lächelnd mir entgegen.

Wie wird mir – Leichte Wolken heben mich –[811]

Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide.

Hinauf – hinauf – Die Erde flieht zurück –

Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!


Die Fahne entfällt ihr, sie sinkt tot darauf nieder – Alle stehen lange in sprachloser Rührung- Auf einen leisen Wink des Königs werden alle Fahnen sanft auf sie niedergelassen, daß sie ganz davon bedeckt wird.


Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 2, München 31962, S. 810-812.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Jungfrau von Orleans
Die Jungfrau von Orleans
Die Jungfrau von Orleans: Reclam XL - Text und Kontext
Die Jungfrau von Orleans: Eine romantische Tragödie (Suhrkamp BasisBibliothek)
Maria Stuart / Die Jungfrau von Orleans (Fischer Klassik)
Klassische Dramen: Maria Stuart / Jungfrau von Orleans / Wilhelm Tell (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch)

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon