Erster Auftritt

[616] Maria tritt in schnellem Lauf hinter Bäumen hervor.

Hanna Kennedy folgt langsam.


KENNEDY.

Ihr eilet ja, als wenn Ihr Flügel hättet,

So kann ich Euch nicht folgen, wartet doch!

MARIA.

Laß mich der neuen Freiheit genießen,

Laß mich ein Kind sein, sei es mit!

Und auf dem grünen Teppich der Wiesen

Prüfen den leichten, geflügelten Schritt.

Bin ich dem finstern Gefängnis entstiegen,

Hält sie mich nicht mehr, die traurige Gruft?

Laß mich in vollen, in durstigen Zügen

Trinken die freie, die himmlische Luft.

KENNEDY.

O meine teure Lady! Euer Kerker

Ist nur um ein klein weniges erweitert.

Ihr seht nur nicht die Mauer, die uns einschließt,

Weil sie der Bäume dicht Gesträuch versteckt.

MARIA.

O Dank, Dank diesen freundlich grünen Bäumen,

Die meines Kerkers Mauern mir verstecken!

Ich will mich frei und glücklich träumen,

Warum aus meinem süßen Wahn mich wecken?

Umfängt mich nicht der weite Himmelsschoß?

Die Blicke, frei und fessellos,

Ergehen sich in ungemeßnen Räumen.

Dort, wo die grauen Nebelberge ragen,[616]

Fängt meines Reiches Grenze an,

Und diese Wolken, die nach Mittag jagen,

Sie suchen Frankreichs fernen Ozean.

Eilende Wolken! Segler der Lüfte!

Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte!

Grüßet mir freundlich mein Jugendland!

Ich bin gefangen, ich bin in Banden,

Ach, ich hab keinen andern Gesandten!

Frei in Lüften ist eure Bahn,

Ihr seid nicht dieser Königin untertan.

KENNEDY.

Ach, teure Lady! Ihr seid außer Euch,

Die langentbehrte Freiheit macht Euch schwärmen.

MARIA.

Dort legt ein Fischer den Nachen an!

Dieses elende Werkzeug könnte mich retten,

Brächte mich schnell zu befreundeten Städten.

Spärlich nährt es den dürftigen Mann.

Beladen wollt ich ihn reich mit Schätzen,

Einen Zug sollt er tun, wie er keinen getan,

Das Glück sollt er finden in seinen Netzen,

Nähm er mich ein in den rettenden Kahn.

KENNEDY.

Verlorne Wünsche! Seht Ihr nicht, daß uns

Von ferne dort die Spähertritte folgen?

Ein finster grausames Verbot scheucht jedes

Mitleidige Geschöpf aus unserm Wege.

MARIA.

Nein, gute Hanna. Glaub mir, nicht umsonst

Ist meines Kerkers Tor geöffnet worden.

Die kleine Gunst ist mir des größern Glücks

Verkünderin. Ich irre nicht. Es ist

Der Liebe tätge Hand, der ich sie danke.

Lord Leicesters mächtgen Arm erkenn ich drin.

Allmählich will man mein Gefängnis weiten,

Durch Kleineres zum Größern mich gewöhnen,

Bis ich das Antlitz dessen endlich schaue,

Der mir die Bande löst auf immerdar.

KENNEDY.

Ach, ich kann diesen Widerspruch nicht reimen!

Noch gestern kündigt man den Tod Euch an,[617]

Und heute wird Euch plötzlich solche Freiheit.

Auch denen, hört ich sagen, wird die Kette

Gelöst, auf die die ewge Freiheit wartet.

MARIA.

Hörst du das Hifthorn? Hörst dus klingen,

Mächtigen Rufes, durch Feld und Hain?

Ach, auf das mutige Roß mich zu schwingen,

An den fröhlichen Zug mich zu reihn!

Noch mehr! O die bekannte Stimme,

Schmerzlich süßer Erinnerung voll.

Oft vernahm sie mein Ohr mit Freuden,

Auf des Hochlands bergigten Heiden,

Wenn die tobende Jagd erscholl.


Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 2, München 31962, S. 616-618.
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