Friedrich Schiller

Über das Pathetische

Darstellung des Leidens – als bloßen Leidens – ist niemals Zweck der Kunst, aber als Mittel zu ihrem Zweck ist sie derselben äußerst wichtig. Der letzte Zweck der Kunst ist die Darstellung des Übersinnlichen, und die tragische Kunst insbesondere bewerkstelligt dieses dadurch, daß sie uns die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts versinnlicht. Nur der Widerstand, den es gegen die Gewalt der Gefühle äußert, macht das freie Prinzip in uns kenntlich; der Widerstand aber kann nur nach der Stärke des Angriffs geschätzt werden. Soll sich also die Intelligenz im Menschen als eine von der Natur unabhängige Kraft offenbaren, so muß die Natur ihre ganze Macht erst vor unsern Augen bewiesen haben. Das Sinnenwesen muß tief und heftig leiden; Pathos muß da sein, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kundtun und sich handelnd darstellen könne.

Man kann niemals wissen, ob die Fassung des Gemüts eine Wirkung seiner moralischen Kraft ist, wenn man nicht überzeugt worden ist,[512] daß sie keine Wirkung der Unempfindlichkeit ist. Es ist keine Kunst, über Gefühle Meister zu werden, die nur die Oberfläche der Seele leicht und flüchtig bestreichen; aber in einem Sturm, der die ganze sinnliche Natur aufregt, seine Gemütsfreiheit zu behalten, dazu gehört ein Vermögen des Widerstandes, das über alle Naturmacht unendlich erhaben ist. Man gelangt also zur Darstellung der moralischen Freiheit nur durch die lebendigste Darstellung der leidenden Natur, und der tragische Held muß sich erst als empfindendes Wesen bei uns legitimiert haben, ehe wir ihm als Vernunftwesen huldigen und an seine Seelenstärke glauben.

Pathos ist also die erste und unnachlaßliche Foderung an den tragischen Künstler, und es ist ihm erlaubt, die Darstellung des Leidens so weit zu treiben, als es, ohne Nachteil für seinen letzten Zweck, ohne Unterdrückung der moralischen Freiheit, geschehen kann. Er muß gleichsam seinem Helden oder seinem Leser die ganze volle Ladung des Leidens geben, weil es sonst immer problematisch bleibt, ob sein Widerstand gegen dasselbe eine Gemütshandlung, etwas Positives, und nicht vielmehr bloß etwas Negatives und ein Mangel ist.

Dies letztere ist der Fall bei dem Trauerspiel der ehemaligen Franzosen, wo wir höchst selten oder nie die leidende Natur zu Gesicht bekommen, sondern meistens nur den kalten, deklamatorischen Poeten oder auch den auf Stelzen gehenden Komödianten sehen. Der frostige Ton der Deklamation erstickt alle wahre Natur, und den französischen Tragikern macht es ihre angebetete Dezenz vollends ganz unmöglich, die Menschheit in ihrer Wahrheit zu zeichnen. Die Dezenz verfälscht überall, auch wenn sie an ihrer rechten Stelle ist, den Ausdruck der Natur, und doch fodert diesen die Kunst unnachlaßlich. Kaum können wir es einem französischen Trauerspielhelden glauben, daß er leidet, denn er läßt sich über seinen Gemütszustand heraus wie der ruhigste Mensch, und die unaufhörliche Rücksicht auf den Eindruck, den er auf andere macht, erlaubt ihm nie, der Natur in sich ihre Freiheit zu lassen. Die Könige, Prinzessinnen und Helden eines Corneille und Voltaire vergessen ihren Rang auch im heftigsten Leiden nie und ziehen weit eher ihre Menschheit als ihre Würde aus. Sie gleichen den Königen und Kaisern in den alten Bilderbüchern, die sich mitsamt der Krone zu Bette legen.[513]

Wie ganz anders sind die Griechen und diejenigen unter den Neuern, die in ihrem Geiste gedichtet haben. Nie schämt sich der Grieche der Natur, er läßt der Sinnlichkeit ihre vollen Rechte und ist dennoch sicher, daß er nie von ihr unterjocht werden wird. Sein tiefer und richtiger Verstand läßt ihn das Zufällige, das der schlechte Geschmack zum Hauptwerke macht, von dem Notwendigen unterscheiden; alles aber, was nicht Menschheit ist, ist zufällig an dem Menschen. Der griechische Künstler, der einen Laokoon, eine Niobe, einen Philoktet darzustellen hat, weiß von keiner Prinzessin, keinem König und keinem Königsohn; er hält sich nur an den Menschen. Deswegen wirft der weise Bildhauer die Bekleidung weg und zeigt uns bloß nackende Figuren; ob er gleich sehr gut weiß, daß dies im wirklichen Leben nicht der Fall war. Kleider sind ihm etwas Zufälliges, dem das Notwendige niemals nachgesetzt werden darf, und die Gesetze des Anstands oder des Bedürfnisses sind nicht die Gesetze der Kunst. Der Bildhauer soll und will uns den Menschen zeigen, und Gewänder verbergen denselben; also verwirft er sie mit Recht.

Ebenso wie der griechische Bildhauer die unnütze und hinderliche Last der Gewänder hinwegwirft, um der menschlichen Natur mehr Platz zu machen, so entbindet der griechische Dichter seine Menschen von dem ebenso unnützen und ebenso hinderlichen Zwang der Konvenienz und von allen frostigen Anstandsgesetzen, die an dem Menschen nur künsteln und die Natur an ihm verbergen. Die leidende Natur spricht wahr, aufrichtig und tiefeindringend zu unserm Herzen in der homerischen Dichtung und in den Tragikern: alle Leidenschaften haben ein freies Spiel, und die Regel des Schicklichen hält kein Gefühl zurück. Die Helden sind für alle Leiden der Menschheit so gut empfindlich als andere, und eben das macht sie zu Helden, daß sie das Leiden stark und innig fühlen und doch nicht davon überwältigt werden. Sie lieben das Leben so feurig wie wir andern, aber diese Empfindung beherrscht sie nicht so sehr, daß sie es nicht hin geben können, wenn die Pflichten der Ehre oder der Menschlichkeit es fodern. Philoktet erfüllt die griechische Bühne mit seinen Klagen, selbst der wütende Herkules unterdrückt seinen Schmerz nicht. Die zum Opfer bestimmte Iphigenia gesteht mit rührender Offenheit, daß sie von dem Licht der Sonne mit Schmerzen scheide. Nirgends sucht[514] der Grieche in der Abstumpfung und Gleichgültigkeit gegen das Leiden seinen Ruhm, sondern in Ertragung desselben bei allem Gefühl für dasselbe. Selbst die Götter der Griechen müssen der Natur einen Tribut entrichten, sobald sie der Dichter der Menschheit näherbringen will. Der verwundete Mars schreit für Schmerz so laut auf wie zehntausend Mann, und die von einer Lanze geritzte Venus steigt weinend zum Olymp und verschwört alle Gefechte.

Diese zarte Empfindlichkeit für das Leiden, diese warme, aufrichtige, wahr und offen daliegende Natur, welche uns in den griechischen Kunstwerken so tief und lebendig rührt, ist ein Muster der Nachahmung für alle Künstler und ein Gesetz, das der griechische Genius der Kunst vorgeschrieben hat. Die erste Foderung an den Menschen macht immer und ewig die Natur, welche niemals darf abgewiesen werden; denn der Mensch ist – ehe er etwas anders ist – ein empfindendes Wesen. Die zweite Foderung an ihn macht die Vernunft, denn er ist ein vernünftig empfindendes Wesen, eine moralische Person, und für diese ist es Pflicht, die Natur nicht über sich herrschen zu lassen, sondern sie zu beherrschen. Erst alsdann, wenn erstlich der NATUR ihr Recht ist angetan worden, und wenn zweitens die VERNUNFT das ihrige behauptet hat, ist es dem ANSTAND erlaubt, die dritte Foderung an den Menschen zu machen und ihm, im Ausdruck sowohl seiner Empfindungen als seiner Gesinnungen, Rücksicht gegen die Gesellschaft aufzulegen und sich – als ein zivilisiertes Wesen zu zeigen.

Das erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der leidenden Natur. Das zweite ist Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden.

Der Affekt, als Affekt, ist etwas Gleichgültiges, und die Darstellung desselben würde, für sich allein betrachtet, ohne allen ästhetischen Wert sein; denn, um es noch einmal zu wiederholen, nichts, was bloß die sinnliche Natur angeht, ist der Darstellung würdig. Daher sind nicht nur alle bloß erschlaffende (schmelzende) Affekte, sondern überhaupt auch alle höchsten Grade, von was für Affekten es auch sei, unter der Würde tragischer Kunst.

Die schmelzenden Affekte, die bloß zärtlichen Rührungen, gehören zum Gebiet des Angenehmen, mit dem die schöne Kunst nichts zu tun hat. Sie ergötzen bloß den Sinn durch Auflösung oder Erschlaffung[515] und beziehen sich bloß auf den äußern, nicht auf den innern Zustand des Menschen. Viele unsrer Romane und Trauerspiele, besonders der sogenannten Dramen (Mitteldinge zwischen Lustspiel und Trauerspiel) und der beliebten Familiengemälde gehören in diese Klasse. Sie bewirken bloß Ausleerungen des Tränensacks und eine wollüstige Erleichterung der Gefäße; aber der Geist geht leer aus, und die edlere Kraft im Menschen wird ganz und gar nicht dadurch gestärkt. Ebenso, sagt Kant, fühlt sich mancher durch eine Predigt erbaut, wobei doch gar nichts in ihm aufgebaut worden ist. Auch die Musik der Neuern scheint es vorzüglich nur auf die Sinnlichkeit anzulegen und schmeichelt dadurch dem herrschenden Geschmack, der nur angenehm gekitzelt, nicht ergriffen, nicht kräftig gerührt, nicht erhoben sein will. Alles Schmelzende wird daher vorgezogen, und wenn noch so großer Lärm in einem Konzertsaal ist, so wird plötzlich alles Ohr, wenn eine schmelzende Passage vorgetragen wird. Ein bis ins Tierische gehender Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen, der offene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges Zittern ergreift den ganzen Körper, der Atem ist schnell und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die Sinne schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip der Freiheit im Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum Raube wird. Alle diese Rührungen, sage ich, sind durch einen edeln und männlichen Geschmack von der Kunst ausgeschlossen, weil sie bloß allein dem Sinne gefallen, mit dem die Kunst nichts zu verkehren hat.

Auf der andern Seite sind aber auch alle diejenigen Grade des Affekts ausgeschlossen, die den Sinn bloß quälen, ohne zugleich den Geist dafür zu entschädigen. Sie unterdrücken die Gemütsfreiheit durch Schmerz nicht weniger als jene durch Wollust und können deswegen bloß Verabscheuung und keine Rührung bewirken, die der Kunst würdig wäre. Die Kunst muß den Geist ergötzen und der Freiheit gefallen. Der, welcher einem Schmerz zum Raube wird, ist bloß ein gequältes Tier, kein leidender Mensch mehr; denn von dem Menschen wird schlechterdings ein moralischer Widerstand gegen das Leiden gefodert, durch den allein sich das Prinzip der Freiheit in ihm, die Intelligenz, kenntlich machen kann.[516]

Aus diesem Grunde verstehen sich diejenigen Künstler und Dichter sehr schlecht auf ihre Kunst, welche das Pathos durch die bloße sinnliche Kraft des Affekts und die höchstlebendigste Schilderung des Leidens zu erreichen glauben. Sie vergessen, daß das Leiden selbst nie der letzte Zweck der Darstellung und nie die unmittelbare Quelle des Vergnügens sein kann, das wir am Tragischen empfinden. Das Pathetische ist nur ästhetisch, insofern es erhaben ist. Wirkungen aber, welche bloß auf eine sinnliche Quelle schließen lassen und bloß in der Affektion des Gefühlvermögens gegründet sind, sind niemals erhaben, wieviel Kraft sie auch verraten mögen: denn alles Erhabene stammt nur aus der Vernunft.

Eine Darstellung der bloßen Passion (sowohl der wollüstigen als der peinlichen) ohne Darstellung der übersinnlichen Widerstehungskraft heißt gemein, das Gegenteil heißt edel. Gemein und edel sind Begriffe, die überall, wo sie gebraucht werden, eine Beziehung auf den Anteil oder Nichtanteil der übersinnlichen Natur des Menschen an einer Handlung oder an einem Werke bezeichnen. Nichts ist edel, als was aus der Vernunft quillt; alles, was die Sinnlichkeit für sich hervorbringt, ist gemein. Wir sagen von einem Menschen, er handle gemein, wenn er bloß den Eingebungen seines sinnlichen Triebes folgt, er handle anständig, wenn er seinem Trieb nur mit Rücksicht auf Gesetze folgt, er handle edel, wenn er bloß der Vernunft, ohne Rücksicht auf seine Triebe, folgt. Wir nennen eine Gesichtsbildung gemein, wenn sie die Intelligenz im Menschen durch gar nichts kenntlich macht, wir nennen sie sprechend, wenn der Geist die Züge bestimmte, und edel, wenn ein reiner Geist die Züge bestimmte. Wir nennen ein Werk der Architektur gemein, wenn es uns keine andre als physische Zwecke zeigt, wir nennen es edel, wenn es, unabhängig von allen physischen Zwecken, zugleich Darstellung von Ideen ist.

Ein guter Geschmack also, sage ich, gestattet keine, wenngleich noch so kraftvolle Darstellung des Affekts, die bloß physisches Leiden und physischen Widerstand ausdrückt, ohne zugleich die höhere Menschheit, die Gegenwart eines übersinnlichen Vermögens sichtbar zu machen – und zwar aus dem schon entwickelten Grunde, weil nie das Leiden an sich, nur der Widerstand gegen das Leiden pathetisch und der Darstellung würdig ist. Daher sind alle absolut höchsten Grade[517] des Affekts dem Künstler sowohl als dem Dichter untersagt; denn alle unterdrücken die innerlich widerstehende Kraft oder setzen vielmehr die Unterdrückung derselben schon voraus, weil kein Affekt seinen absolut höchsten Grad erreichen kann, solange die Intelligenz im Menschen noch einigen Widerstand leistet.

Jetzt entsteht die Frage: wodurch macht sich diese übersinnliche Widerstehungskraft in einem Affekte kenntlich? Durch nichts anders als durch Beherrschung oder, allgemeiner, durch Bekämpfung des Affekts. Ich sage des Affekts, denn auch die Sinnlichkeit kann kämpfen, aber das ist kein Kampf mit dem Affekt, sondern mit der Ursache, die ihn hervorbringt – kein moralischer, sondern ein physischer Widerstand, den auch der Wurm äußert, wenn man ihn tritt, und der Stier, wenn man ihn verwundet, ohne deswegen Pathos zu erregen. Daß der leidende Mensch seinen Gefühlen einen Ausdruck zu geben, daß er seinen Feind zu entfernen, daß er das leidende Glied in Sicherheit zu bringen sucht, hat er mit jedem Tiere gemein, und schon der Instinkt übernimmt dieses, ohne erst bei seinem Willen anzufragen. Das ist also noch kein Aktus seiner Humanität, das macht ihn als Intelligenz noch nicht kenntlich. Die Sinnlichkeit wird zwar jederzeit ihren Feind, aber niemals sich selbst bekämpfen.

Der Kampf mit dem Affekt hingegen ist ein Kampf mit der Sinnlichkeit und setzt also etwas voraus, was von der Sinnlichkeit unterschieden ist. Gegen das Objekt, das ihn leiden macht, kann sich der Mensch mit Hülfe seines Verstandes und seiner Muskelkräfte wehren; gegen das Leiden selbst hat er keine andre Waffen als Ideen der Vernunft.

Diese müssen also in der Darstellung vorkommen oder durch sie erweckt werden, wo Pathos stattfinden soll. Nun sind aber Ideen im eigentlichen Sinn und positiv nicht darzustellen, weil ihnen nichts in der Anschauung entsprechen kann. Aber negativ und indirekt sind sie allerdings darzustellen, wenn in der Anschauung etwas gegeben wird, wozu wir die Bedingungen in der Natur vergebens aufsuchen. Jede Erscheinung, deren letzter Grund aus der Sinnenwelt nicht kann abgeleitet werden, ist eine indirekte Darstellung des Übersinnlichen.

Wie gelangt nun die Kunst dazu, etwas vorzustellen, was über der Natur ist, ohne sich übernatürlicher Mittel zu bedienen? Was für eine[518] Erscheinung muß das sein, die durch natürliche Kräfte vollbracht wird (denn sonst wäre sie keine Erscheinung) und dennoch ohne Widerspruch aus physischen Ursachen nicht kann hergeleitet werden? Dies ist die Aufgabe; und wie löst sie nun der Künstler?

Wir müssen uns erinnern, daß die Erscheinungen, welche im Zustand des Affekts an einem Menschen können wahrgenommen werden, von zweierlei Gattung sind. Entweder es sind solche, die ihm bloß als Tier angehören und als solche bloß dem Naturgesetz folgen, ohne daß sein Wille sie beherrschen oder überhaupt die selbständige Kraft in ihm unmittelbaren Einfluß darauf haben könnte. Der Instinkt erzeugt sie unmittelbar, und blind gehorchen sie seinen Gesetzen. Dahin gehören z.B. die Werkzeuge des Blutumlaufs, des Atemholens und die ganze Oberfläche der Haut. Aber auch diejenigen Werkzeuge, die dem Willen unterworfen sind, warten nicht immer die Entscheidung des Willens ab; sondern der Instinkt setzt sie oft unmittelbar in Bewegung, da besonders, wo dem physischen Zustand Schmerz oder Gefahr droht. So steht zwar unser Arm unter der Herrschaft des Willens, aber wenn wir unwissend etwas Heißes angreifen, so ist das Zurückziehen der Hand gewiß keine Willenshandlung, sondern der Instinkt allein vollbringt sie. Ja noch mehr. Die Sprache ist gewiß etwas, was unter der Herrschaft des Willens steht, und doch kann auch der Instinkt sogar über dieses Werkzeug und Werk des Verstandes nach seinem Gutdünken disponieren, ohne erst bei dem Willen anzufragen, sobald ein großer Schmerz oder nur ein starker Affekt uns überrascht. Man lasse den gefaßtesten Stoiker auf einmal etwas höchst Wunderbares oder unerwartet Schreckliches erblicken, man lasse ihn dabeistehen, wenn jemand ausglitscht und in einen Abgrund fallen will, so wird ein lauter Ausruf, und zwar kein bloß unartikulierter Ton, sondern ein ganz bestimmtes Wort, ihm unwillkürlich entwischen, und die Natur in ihm wird früher als der Wille gehandelt haben. Dies dient also zum Beweis, daß es Erscheinungen an dem Menschen gibt, die nicht seiner Person als Intelligenz, sondern bloß seinem Instinkt als einer Naturkraft können zugeschrieben werden.

Nun gibt es aber auch zweitens Erscheinungen an ihm, die unter dem Einfluß und unter der Herrschaft des Willens stehen, oder die[519] man wenigstens als solche betrachten kann, die der Wille hätte verhindern können; welche also die Person und nicht der Instinkt zu verantworten hat. Dem Instinkt kommt es zu, das Interesse der Sinnlichkeit mit blindem Eifer zu besorgen, aber der Person kommt es zu, den Instinkt durch Rücksicht auf Gesetze zu beschränken. Der Instinkt achtet an sich selbst auf kein Gesetz, aber die Person hat dafür zu sorgen, daß den Vorschriften der Vernunft durch keine Handlung des Instinkts Eintrag geschehe. So viel ist also gewiß, daß der Instinkt allein nicht alle Erscheinungen am Menschen im Affekt unbedingterweise zu bestimmen hat, sondern daß ihm durch den Willen des Menschen eine Grenze gesetzt werden kann. Bestimmt der Instinkt allein alle Erscheinungen am Menschen, so ist nichts mehr vorhanden, was an die Person erinnern könnte, und es ist bloß ein Naturwesen, also ein Tier, was wir vor uns haben; denn Tier heißt jedes Naturwesen unter der Herrschaft des Instinkts. Soll also die Person dargestellt werden, so müssen einige Erscheinungen am Menschen vorkommen, die entweder gegen den Instinkt oder doch nicht durch den Instinkt bestimmt worden sind. Schon daß sie nicht durch den Instinkt bestimmt wurden, ist hinreichend, uns auf eine höhere Quelle zu leiten, sobald wir nur einsehen, daß der Instinkt sie schlechterdings hätte anders bestimmen müssen, wenn seine Gewalt nicht wäre gebrochen worden.

Jetzt sind wir imstande, die Art und Weise anzugeben, wie die übersinnliche selbständige Kraft im Menschen, sein moralisches Selbst, im Affekt zur Darstellung gebracht werden kann. – Dadurch nämlich, daß alle bloß der Natur gehorchende Teile, über welche der Wille entweder gar niemals oder wenigstens unter gewissen Umständen nicht disponieren kann, die Gegenwart des Leidens verraten – diejenigen Teile aber, welche der blinden Gewalt des Instinkts entzogen sind und dem Naturgesetz nicht notwendig gehorchen, keine oder nur eine geringe Spur dieses Leidens zeigen, also in einem gewissen Grad frei erscheinen. An dieser Disharmonie nun zwischen denjenigen Zügen, die der animalischen Natur nach dem Gesetz der Notwendigkeit eingeprägt werden, und zwischen denen, die der selbsttätige Geist bestimmt, erkennt man die Gegenwart eines übersinnlichen Prinzips im Menschen, welches den Wirkungen der Natur eine Grenze setzen[520] kann und sich also eben dadurch als von derselben unterschieden kenntlich macht. Der bloß tierische Teil des Menschen folgt dem Naturgesetz und darf daher von der Gewalt des Affekts unterdrückt erscheinen. An diesem Teil also offenbart sich die ganze Stärke des Leidens und dient gleichsam zum Maß, nach welchem der Widerstand geschätzt werden kann; denn man kann die Stärke des Widerstandes oder die moralische Macht in dem Men schen nur nach der Stärke des Angriffs beurteilen. Je entscheidender und gewaltsamer nun der Affekt in dem Gebiet der Tierheit sich äußert, ohne doch im Gebiet der Menschheit dieselbe Macht behaupten zu können, desto mehr wird diese letztere kenntlich, desto glorreicher offenbart sich die moralische Selbständigkeit des Menschen, desto pathetischer ist die Darstellung und desto erhabener das Pathos.17

In den Bildsäulen der Alten findet man diesen ästhetischen Grundsatz anschaulich gemacht, aber es ist schwer, den Eindruck, den der sinnlich lebendige Anblick macht, unter Begriffe zu bringen und durch Worte anzugeben. Die Gruppe des Laokoon und seiner Kinder ist ohngefähr ein Maß für das, was die bildende Kunst der Alten im Pathetischen zu leisten vermochte. »Laokoon«, sagt uns Winckelmann in seiner Geschichte der Kunst (S. 699 der Wiener Quartausgabe), »ist eine Natur im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes gemacht, der die bewußte Stärke des Geistes gegen denselben zu sammeln sucht; und indem sein Leiden die Muskeln aufschwellet[521] und die Nerven anziehet, tritt der mit Stärke bewaffnete Geist in der aufgetriebenen Stirne hervor, und die Brust erhebt sich durch den beklemmten Odem und durch Zurückhaltung des Ausdrucks der Empfindung, um den Schmerz in sich zu fassen und zu verschließen. Das bange Seufzen, welches er in sich und den Odem an sich ziehet, erschöpft den Unterleib und macht die Seiten hohl, welches uns gleichsam von der Bewegung seiner Eingeweide urteilen läßt. Sein eigenes Leiden aber scheint ihn weniger zu beängstigen als die Pein seiner Kinder, die ihr Angesicht zum Vater wenden und um Hülfe schreien; denn das väterliche Herz offenbart sich in den wehmütigen Augen, und das Mitleiden scheint in einem trüben Duft auf denselben zu schwimmen. Sein Gesicht ist klagend, aber nicht schreiend, seine Augen sind nach der höhern Hülfe gewandt. Der Mund ist voll von Wehmut und die gesenkte Unterlippe schwer von derselben; in der überwärts gezogenen Oberlippe aber ist dieselbe mit Schmerz vermischet, welcher mit einer Regung von Unmut, wie über ein unverdientes unwürdiges Leiden, in die Nase hinauftritt, dieselbe schwellen macht und sich in den erweiterten und aufwärts gezogenen Nüssen offenbaret. Unter der Stirn ist der Streit zwischen Schmerz und Widerstand, wie in einem Punkte vereinigt, mit großer Wahrheit gebildet; denn indem der Schmerz die Augenbraunen in die Höhe treibt, so drücket das Sträuben gegen denselben das obere Augenfleisch niederwärts und gegen das obere Augenlid zu, so daß dasselbe durch das übergetretene Fleisch beinahe ganz bedeckt wird. Die Natur, welche der Künstler nicht verschönern konnte, hat er ausgewickelter, angestrengter und mächtiger zu zeigen gesucht; da, wohin der größte Schmerz gelegt ist, zeigt sich auch die größte Schönheit. Die linke Seite, in welche die Schlange mit dem wütenden Bisse ihr Gift ausgießet, ist diejenige, welche durch die nächste Empfindung zum Herzen am heftigsten zu leiden scheint. Seine Beine wollen sich erheben, um seinem Übel zu entrinnen; kein Teil ist in Ruhe, ja die Meißelstriche selbst helfen zur Bedeutung einer erstarrten Haut.«

Wie wahr und fein ist in dieser Beschreibung der Kampf der Intelligenz mit dem Leiden der sinnlichen Natur entwickelt, und wie treffend die Erscheinungen angegeben, in denen sich Tierheit und Menschheit, Naturzwang und Vernunftfreiheit offenbaren! Virgil schilderte[522] bekanntlich denselben Auftritt in seiner Äneis, aber es lag nicht in dem Plan des epischen Dichters, sich bei dem Gemütszustand des Laokoon, wie der Bildhauer tun mußte, zu verweilen. Bei dem Virgil ist die ganze Erzählung bloß Nebenwerk, und die Absicht, wozu sie ihm dienen soll, wird hinlänglich durch die bloße Darstellung des Physischen erreicht, ohne daß er nötig gehabt hätte, uns in die Seele des Leidenden tiefe Blicke tun zu lassen; da er uns nicht sowohl zum Mitleid bewegen als mit Schrecken durchdringen will. Die Pflicht des Dichters war also in dieser Hinsicht bloß negativ, nämlich die Darstellung der leidenden Natur nicht so weit zu treiben, daß aller Ausdruck der Menschheit oder des moralischen Widerstandes dabei verlorenging, weil sonst Unwille und Abscheu unausbleiblich erfolgen müßten. Er hielt sich daher lieber an Darstellung der Ursache des Leidens und fand für gut, sich umständlicher über die Furchtbarkeit der beiden Schlangen und über die Wut, mit der sie ihr Schlachtopfer anfallen, als über die Empfindungen desselben zu verbreiten. An diesen eilt er nur schnell vorüber, weil ihm daran liegen mußte, die Vorstellung eines göttlichen Strafgerichts und den Eindruck des Schreckens ungeschwächt zu erhalten. Hätte er uns hingegen von Laokoons Person soviel wissen lassen als der Bildhauer, so würde nicht mehr die strafende Gottheit, sondern der leidende Mensch der Held in der Handlung gewesen sein und die Episode ihre Zweckmäßigkeit für das Ganze verloren haben.

Man kennt die Virgilische Erzählung schon aus Lessings vortrefflichem Kommentar. Aber die Absicht, wozu Lessing sie gebrauchte, war bloß, die Grenzen der poetischen und malerischen Darstellung an diesem Beispiel anschaulich zu machen, nicht den Begriff des Pathetischen daraus zu entwickeln. Zu dem letztern Zweck scheint sie mir aber nicht weniger brauchbar, und man erlaube mir, sie in dieser Hinsicht noch einmal zu durchlaufen.


Ecce autem gemini Tenedo tranquilla per alta

(horresco referens) immensis orbibus angues

incumbunt pelago, pariterque ad littora tendunt.

Pectora quorum inter fluctus arrecta, jubaeque

sanguineae exsuperant undas, pars caetera pontum[523]

pone legit, sinuatque immensa volumine terga.

Fit sonitus spumante salo, jamque arva tenebant,

ardenteis oculos suffecti sanguine et igni,

sibila lambebant linguis vibrantibus ora.


Die erste von den drei oben angeführten Bedingungen des Erhabenen der Macht ist hier gegeben; eine mächtige Naturkraft nämlich, die zur Zerstörung bewaffnet ist und jedes Widerstandes spottet. Daß aber dieses Mächtige zugleich furchtbar und das Furchtbare erhaben werde, beruht auf zwei verschiedenen Operationen des Gemüts, d.i. auf zwei Vorstellungen, die wir selbsttätig in uns erzeugen. Indem wir erstlich diese unwiderstehliche Naturmacht mit dem schwachen Widerstehungsvermögen des physischen Menschen zusammenhalten, erkennen wir sie als furchtbar, und indem wir sie zweitens auf unsern Willen beziehen und uns die absolute Unabhängigkeit desselben von jedem Natureinfluß ins Bewußtsein rufen, wird sie uns zu einem erhabenen Objekt. Diese beiden Beziehungen aber stellen wir an; der Dichter gab uns weiter nichts als einen mit starker Macht bewaffneten und nach Äußerung derselben strebenden Gegenstand. Wenn wir davor zittern, so geschieht es bloß, weil wir uns selbst oder ein uns ähnliches Geschöpf im Kampf mit demselben denken. Wenn wir uns bei diesem Zittern erhaben fühlen, so ist es, weil wir uns bewußt werden, daß wir, auch selbst als ein Opfer dieser Macht, für unser freies Selbst, für die Autonomie unserer Willensbestimmungen nichts zu fürchten haben würden. Kurz, die Darstellung ist bis hieher bloß kontemplativerhaben.


Diffugimus visu exsangues, illi agmine certo

Laocoonta petunt.


Jetzt wird das Mächtige zugleich als furchtbar gegeben, und das Kontemplativerhabene geht ins Pathetische über. Wir sehen es wirklich mit der Ohnmacht des Menschen in Kampf treten. Laokoon oder wir, das wirkt bloß dem Grad nach verschieden. Der sympathetische Trieb schreckt den Erhaltungstrieb auf, die Ungeheuer schießen los auf – uns, und alles Entrinnen ist vergebens.

Jetzt hängt es nicht mehr von uns ab, ob wir diese Macht mit der[524] unsrigen messen und auf unsre Existenz beziehen wollen. Dies geschieht ohne unser Zutun in dem Objekte selbst. Unsre Furcht hat also nicht, wie im vorhergehenden Moment, einen bloß subjektiven Grund in unserm Gemüte, sondern einen objektiven Grund in dem Gegenstand. Denn erkennen wir gleich das Ganze für eine bloße Fiktion der Einbildungskraft, so unterscheiden wir doch auch in dieser Fiktion eine Vorstellung, die uns von außen mitgeteilt wird, von einer andern, die wir selbsttätig in uns hervorbringen.

Das Gemüt verliert also einen Teil seiner Freiheit, weil es von außen empfängt, was es vorher durch seine Selbsttätigkeit erzeugte. Die Vorstellung der Gefahr erhält einen Anschein objektiver Realität, und es wird Ernst mit dem Affekte.

Wären wir nun nichts als Sinnenwesen, die keinem andern als dem Erhaltungstriebe folgen, so würden wir hier stillestehen und im Zustand des bloßen Leidens verharren. Aber etwas ist in uns, was an den Affektionen der sinnlichen Natur keinen Teil nimmt und dessen Tätigkeit sich nach keinen physischen Bedingungen richtet. Je nachdem nun dieses selbsttätige Prinzip (die moralische Anlage) in einem Gemüt sich entwickelt hat, wird der leidenden Natur mehr oder weniger Raum gelassen sein und mehr oder weniger Selbsttätigkeit im Affekt übrigbleiben.

In moralischen Gemütern geht das Furchtbare (der Einbildungskraft) schnell und leicht ins Erhabene über. So wie die Imagination ihre Freiheit verliert, so macht die Vernunft die ihrige geltend; und das Gemüt erweitert sich nur desto mehr nach innen, indem es nach außen Grenzen findet. Herausgeschlagen aus allen Verschanzungen, die dem Sinnenwesen einen physischen Schutz verschaffen können, werfen wir uns in die unbezwingliche Burg unsrer moralischen Freiheit und gewinnen eben dadurch eine absolute und unendliche Sicherheit, indem wir eine bloß komparative und prekäre Schutzwehre im Feld der Erscheinung verlorengeben. Aber eben darum, weil es zu diesem physischen Bedrängnis gekommen sein muß, ehe wir bei unsrer moralischen Natur Hülfe suchen, so können wir dieses hohe Freiheitsgefühl nicht anders als mit Leiden erkaufen. Die gemeine Seele bleibt bloß bei diesem Leiden stehen und fühlt im Erhabenen des Pathos nie mehr als das Furchtbare; ein selbständiges Gemüt hingegen nimmt gerade von[525] diesem Leiden den Übergang zum Gefühl seiner herrlichsten Kraftwirkung und weiß aus jedem Furchtbaren ein Erhabenes zu erzeugen.


Laocoonta petunt, ac primum parva duorum

corpora gnatorum serpens amplexus uterque

implicat, ac miseros morsu depascitur artus.


Es tut eine große Wirkung, daß der moralische Mensch (der Vater) eher als der physische angefallen wird. Alle Affekte sind ästhetischer aus der zweiten Hand, und keine Sympathie ist stärker, als die wir mit der Sympathie empfinden.


Post ipsum auxilio subeuntem ac tela ferentem

corripiunt.


Jetzt war der Augenblick da, den Helden als moralische Person bei uns in Achtung zu setzen, und der Dichter ergriff diesen Augenblick. Wir kennen aus seiner Beschreibung die ganze Macht und Wut der feindlichen Ungeheuer und wissen, wie vergeblich aller Widerstand ist. Wäre nun Laokoon bloß ein gemeiner Mensch, so würde er seines Vorteils wahrnehmen und wie die übrigen Trojaner in einer schnellen Flucht seine Rettung suchen. Aber er hat ein Herz in seinem Busen, und die Gefahr seiner Kinder hält ihn zu seinem eigenen Verderben zurück. Schon dieser einzige Zug macht ihn unsers ganzen Mitleidens würdig. In was für einem Moment auch die Schlangen ihn ergriffen haben möchten, es würde uns immer bewegt und erschüttert haben. Daß es aber gerade in dem Momente geschieht, wo er als Vater uns achtungswürdig wird, daß sein Untergang gleichsam als unmittelbare Folge der erfüllten Vaterpflicht, der zärtlichen Bekümmernis für seine Kinder vorgestellt wird – dies entflammt unsre Teilnahme aufs höchste. Er ist es jetzt gleichsam selbst, der sich aus freier Wahl dem Verderben hingibt, und sein Tod wird eine Willenshandlung.


Bei allem Pathos muß also der Sinn durch Leiden, der Geist durch Freiheit interessiert sein. Fehlt es einer pathetischen Darstellung an einem Ausdruck der leidenden Natur, so ist sie ohne ästhetische Kraft, und unser Herz bleibt kalt. Fehlt es ihr an einem Ausdruck der ethischen Anlage, so kann sie bei aller sinnlichen Kraft nie pathetisch[526] sein und wird unausbleiblich unsre Empfindung empören. Aus aller Freiheit des Gemüts muß immer der leidende Mensch, aus allem Leiden der Menschheit muß immer der selbständige oder der Selbständigkeit fähige Geist durchscheinen.

Auf zweierlei Weise aber kann sich die Selbständigkeit des Geistes im Zustand des Leidens offenbaren. Entweder negativ: wenn der ethische Mensch von dem physischen das Gesetz nicht empfängt und dem Zustand keine Kausalität für die Gesinnung gestattet wird; oder positiv: wenn der ethische Mensch dem physischen das Gesetz gibt, und die Gesinnung für den Zustand Kausalität erhält. Aus dem ersten entspringt das Erhabene der Fassung, aus dem zweiten das Erhabene der Handlung.

Ein Erhabenes der Fassung ist jeder vom Schicksal unabhängige Charakter. »Ein tapfrer Geist, im Kampf mit der Widerwärtigkeit«, sagt Seneca, »ist ein anziehendes Schauspiel selbst für die Götter.« Einen solchen Anblick gibt uns der römische Senat nach dem Unglück bei Cannä. Selbst Miltons Lucifer, wenn er sich in der Hölle, seinem künftigen Wohnort, zum erstenmal umsieht, durchdringt uns, dieser Seelenstärke wegen, mit einem Gefühl von Bewunderung. »Schrecken, ich grüße euch«, ruft er aus, »und dich, unterirdische Welt, und dich, tiefste Hölle. Nimm auf deinen neuen Gast. Er kommt zu dir mit einem Gemüte, das weder Zeit noch Ort umgestalten soll. In seinem Gemüte wohnt er. Das wird ihm in der Hölle selbst einen Himmel erschaffen. Hier endlich sind wir frei usf.« Die Antwort der Medea im Trauerspiel gehört in die nämliche Klasse.

Das Erhabene der Fassung läßt sich anschauen, denn es beruht auf der Koexistenz; das Erhabene der Handlung hingegen läßt sich bloß denken, denn es beruht auf der Succession, und der Verstand ist nötig, um das Leiden von einem freien Entschluß abzuleiten. Daher ist nur das erste für den bildenden Künstler, weil dieser nur das Koexistente glücklich darstellen kann, der Dichter aber kann sich über beides verbreiten. Selbst wenn der bildende Künstler eine erhabene Handlung darzustellen hat, muß er sie in eine erhabene Fassung verwandeln.

Zum Erhabenen der Handlung wird erfodert, daß das Leiden eines Menschen auf seine moralische Beschaffenheit nicht nur keinen Einfluß habe, sondern vielmehr umgekehrt das Werk seines moralischen[527] Charakters sei. Dies kann auf zweierlei Weise sein. Entweder mittelbar und nach dem Gesetz der Freiheit, wenn er aus Achtung für irgendeine Pflicht das Leiden erwählt. Die Vorstellung der Pflicht bestimmt ihn in diesem Falle als Motiv, und sein Leiden ist eine Willenshandlung. Oder unmittelbar und nach dem Gesetz der Notwendigkeit, wenn er eine übertretene Pflicht moralisch büßt. Die Vorstellung der Pflicht bestimmt ihn in diesem Falle als Macht, und sein Leiden ist bloß eine Wirkung. Ein Beispiel des ersten gibt uns Regulus, wenn er, um Wort zu halten, sich der Rachbegier der Karthaginienser ausliefert; zu einem Beispiel des zweiten würde er uns dienen, wenn er sein Wort gebrochen und das Bewußtsein dieser Schuld ihn elend gemacht hätte. In beiden Fällen hat das Leiden einen moralischen Grund, nur mit dem Unterschied, daß er uns in dem ersten Fall seinen moralischen Charakter, in dem andern bloß seine Bestimmung dazu zeigt. In dem ersten Fall erscheint er als eine moralisch große Person, in dem zweiten bloß als ein ästhetisch großer Gegenstand.

Dieser letzte Unterschied ist wichtig für die tragische Kunst und verdient daher eine genauere Erörterung.

Ein erhabenes Objekt, bloß in der ästhetischen Schätzung, ist schon derjenige Mensch, der uns die Würde der menschlichen Bestimmung durch seinen Zustand vorstellig macht, gesetzt auch, daß wir diese Bestimmung in seiner Person nicht realisiert finden sollten. Erhaben in der moralischen Schätzung wird er nur alsdann, wenn er sich zugleich als Person jener Bestimmung gemäß verhält, wenn unsre Achtung nicht bloß seinem Vermögen, sondern dem Gebrauch dieses Vermögens gilt, wenn nicht bloß seiner Anlage, sondern seinem wirklichen Betragen Würde zukommt. Es ist ganz etwas anders, ob wir bei unserm Urteil auf das moralische Vermögen überhaupt und auf die Möglichkeit einer absoluten Freiheit des Willens, oder ob wir auf den Gebrauch dieses Vermögens und auf die Wirklichkeit dieser absoluten Freiheit des Willens unser Augenmerk richten.

Es ist etwas ganz anders, sage ich, und diese Verschiedenheit liegt nicht etwa nur in den beurteilten Gegenständen, sondern sie liegt in der verschiedenen Beurteilungsweise. Der nämliche Gegenstand kann uns in der moralischen Schätzung mißfallen und in der ästhetischen sehr anziehend für uns sein. Aber wenn er uns auch in beiden Instanzen[528] der Beurteilung Genüge leistete, so tut er diese Wirkung bei beiden auf eine ganz verschiedene Weise. Er wird dadurch, daß er ästhetisch brauchbar ist, nicht moralisch befriedigend, und dadurch, daß er moralisch befriedigt, nicht ästhetisch brauchbar.

Ich denke mir z.B. die Selbstaufopferung des Leonidas bei Thermopylä. Moralisch beurteilt, ist mir diese Handlung Darstellung des, bei allem Widerspruch der Instinkte erfüllten, Sittengesetzes; ästhetisch beurteilt, ist sie mir Darstellung des, von allem Zwang der Instinkte unabhängigen, sittlichen Vermögens. Meinen moralischen Sinn (die Vernunft) befriedigt diese Handlung; meinen ästhetischen Sinn (die Einbildungskraft) entzückt sie.

Von dieser Verschiedenheit meiner Empfindungen bei dem nämlichen Gegenstande gebe ich mir folgenden Grund an.

Wie sich unser Wesen in zwei Prinzipien oder Naturen teilt, so teilen sich, diesen gemäß, auch unsre Gefühle in zweierlei ganz verschiedene Geschlechter. Als Vernunftwesen empfinden wir Beifall oder Mißbilligung; als Sinnenwesen empfinden wir Lust oder Unlust. Beide Gefühle, des Beifalls und der Lust, gründen sich auf eine Befriedigung: jenes auf Befriedigung eines Anspruchs: denn die Vernunft fodert bloß, aber bedarf nicht; dieses auf Befriedigung eines Anliegens: denn der Sinn bedarf bloß, und kann nicht fodern. Beide, die Foderungen der Vernunft und die Bedürfnisse des Sinnes, verhalten sich zueinander wie Notwendigkeit zu Notdurft, sie sind also beide unter dem Begriff von Nezessität enthalten; bloß mit dem Unterschied, daß die Nezessität der Vernunft ohne Bedingung, die Nezessität der Sinne bloß unter Bedingungen statthat. Bei beiden aber ist die Befriedigung zufällig. Alles Gefühl, der Lust sowohl als des Beifalls, gründet sich also zuletzt auf Übereinstimmung des Zufälligen mit dem Notwendigen. Ist das Notwendige ein Imperativ, so wird Beifall, ist es eine Notdurft, so wird Lust die Empfindung sein; beide in desto stärkerem Grade, je zufälliger die Befriedigung ist.

Nun liegt bei aller moralischen Beurteilung eine Foderung der Vernunft zum Grunde, daß moralisch gehandelt werde, und es ist eine unbedingte Nezessität vorhanden, daß wir wollen, was recht ist. Weil aber der Wille frei ist, so ist es (physisch) zufällig, ob wir es wirklich tun. Tun wir es nun wirklich, so erhält diese Übereinstimmung des[529] Zufalls im Gebrauche der Freiheit mit dem Imperativ der Vernunft Billigung oder Beifall, und zwar in desto höherem Grade, als der Widerstand der Neigungen diesen Gebrauch der Freiheit zufälliger und zweifelhafter machte.

Bei der ästhetischen Schätzung hingegen wird der Gegenstand auf das Bedürfnis der Einbildungskraft bezogen, welche nicht gebieten, bloß verlangen kann, daß das Zufällige mit ihrem Interesse übereinstimmen möge. Das Interesse der Einbildungskraft aber ist: sich frei von Gesetzen im Spiele zu erhalten. Diesem Hange zur Ungebundenheit ist die sittliche Verbindlichkeit des Willens, durch welche ihm sein Objekt auf das strengste bestimmt wird, nichts weniger als günstig; und da die sittliche Verbindlichkeit des Willens der Gegenstand des moralischen Urteils ist, so sieht man leicht, daß bei dieser Art zu urteilen die Einbildungskraft ihre Rechnung nicht finden könne. Aber eine sittliche Verbindlichkeit des Willens läßt sich nur unter Voraussetzung einer absoluten Independenz desselben vom Zwang der Naturtriebe denken; die Möglichkeit des Sittlichen postuliert also Freiheit und stimmt folglich mit dem Interesse der Phantasie hierin auf das vollkommenste zusammen. Weil aber die Phantasie durch ihr Bedürfnis nicht so vorschreiben kann, wie die Vernunft durch ihren Imperativ dem Willen der Individuen vorschreibt, so ist das Vermögen der Freiheit, auf die Phantasie bezogen, etwas Zufälliges und muß daher, als Übereinstimmung des Zufalls mit dem (bedingungsweise) Notwendigen, Lust erwecken. Beurteilen wir also jene Tat des Leonidas moralisch, so betrachten wir sie aus einem Gesichtspunkt, wo uns weniger ihre Zufälligkeit als ihre Notwendigkeit in die Augen fällt. Beurteilen wir sie hingegen ästhetisch, so betrachten wir sie aus einem Standpunkt, wo sich uns weniger ihre Notwendigkeit als ihre Zufälligkeit darstellt. Es ist Pflicht für jeden Willen, so zu handeln, sobald er ein freier Wille ist; daß es aber überhaupt eine Freiheit des Willens gibt, welche es möglich macht, so zu handeln, dies ist eine Gunst der Natur in Rücksicht auf dasjenige Vermögen, welchem Freiheit Bedürfnis ist. Beurteilt also der moralische Sinn – die Vernunft – eine tugendhafte Handlung, so ist Billigung das Höchste, was erfolgen kann; weil die Vernunft nie mehr und selten nur soviel finden kann, als sie fodert. Beurteilt hingegen der ästhetische Sinn, die Einbildungskraft, die[530] nämliche Handlung, so erfolgt eine positive Lust, weil die Einbildungskraft niemals Einstimmigkeit mit ihrem Bedürfnisse fodern kann und sich also von der wirklichen Befriedigung desselben, als von einem glücklichen Zufall, überrascht finden muß. Daß Leonidas die heldenmütige Entschließung wirklich faßte, billigen wir; daß er sie fassen konnte, darüber frohlocken wir und sind entzückt.

Der Unterschied zwischen beiden Arten der Beurteilung fällt noch deutlicher in die Augen, wenn man eine Handlung zum Grunde legt, über welche das moralische und das ästhetische Urteil verschieden ausfallen. Man nehme die Selbstverbrennung des Peregrinus Proteus zu Olympia. Moralisch beurteilt, kann ich dieser Handlung nicht Beifall geben, insofern ich unreine Triebfedern dabei wirksam finde, um derentwillen die Pflicht der Selbsterhaltung hintangesetzt wird. Ästhetisch beurteilt, gefällt mir aber diese Handlung, und zwar deswegen gefällt sie mir, weil sie von einem Vermögen des Willens zeugt, selbst dem mächtigsten aller Instinkte, dem Triebe der Selbsterhaltung, zu widerstehen. Ob es eine rein moralische Gesinnung oder ob es bloß eine mächtigere sinnliche Reizung war, was den Selbsterhaltungstrieb bei dem Schwärmer Peregrin unterdrückte, darauf achte ich bei der ästhetischen Schätzung nicht, wo ich das Individuum verlasse, von dem Verhältnis seines Willens zu dem Willensgesetz abstrahiere und mir den menschlichen Willen überhaupt, als Vermögen der Gattung, im Verhältnis zu der ganzen Naturgewalt denke. Bei der moralischen Schätzung, hat man gesehen, wurde die Selbsterhaltung als eine Pflicht vorgestellt, daher beleidigte ihre Verletzung; bei der ästhetischen Schätzung hingegen wurde sie als ein Interesse angesehen, daher gefiel ihre Hintansetzung. Bei der letztern Art des Beurteilens wird also die Operation gerade umgekehrt, die wir bei der erstern verrichten. Dort stellen wir das sinnlich beschränkte Individuum und den pathologisch affizierbaren Willen dem absoluten Willensgesetz und der unendlichen Geisterpflicht, hier hingegen stellen wir das absolute Willensvermögen und die unendliche Geistergewalt dem Zwange der Natur und den Schranken der Sinnlichkeit gegenüber. Daher läßt uns das ästhetische Urteil frei und erhebt und begeistert uns, weil wir uns schon durch das bloße Vermögen, absolut zu wollen, schon durch die bloße Anlage zur Moralität gegen die[531] Sinnlichkeit in augenscheinlichem Vorteil befinden, weil schon durch die bloße Möglichkeit, uns vom Zwange der Natur loszusagen, unserm Freiheitsbedürfnis geschmeichelt wird. Daher beschränkt uns das moralische Urteil und demütigt uns, weil wir uns bei jedem besondern Willensakt gegen das absolute Willensgesetz mehr oder weniger im Nachteil befinden und durch die Einschränkung des Willens auf eine einzige Bestimmungsweise, welche die Pflicht schlechterdings fodert, dem Freiheitstriebe der Phantasie widersprochen wird. Dort schwingen wir uns von dem Wirklichen zu dem Möglichen und von dem Individuum zur Gattung empor; hier hingegen steigen wir vom Möglichen zum Wirklichen herunter und schließen die Gattung in die Schranken des Individuums ein; kein Wunder also, wenn wir uns bei ästhetischen Urteilen erweitert, bei moralischen hingegen eingeengt und gebunden fühlen.18

Aus diesem allen ergibt sich denn, daß die moralische und die ästhetische Beurteilung, weit entfernt, einander zu unterstützen, einander[532] vielmehr im Wege stehen, weil sie dem Gemüt zwei ganz entgegengesetzte Richtungen geben, denn die Gesetzmäßigkeit, welche die Vernunft als moralische Richterin fodert, besteht nicht mit der Ungebundenheit, welche die Einbildungskraft als ästhetische Richterin verlangt. Daher wird ein Objekt zu einem ästhetischen Gebrauch gerade um soviel weniger taugen, als es sich zu einem moralischen qualifiziert; und wenn der Dichter es dennoch erwählen müßte, so wird er wohl tun, es so zu behandeln, daß nicht sowohl unsre Vernunft auf die Regel des Willens, als vielmehr unsre Phantasie auf das Vermögen des Willens hingewiesen werde. Um seiner selbst willen muß der Dichter diesen Weg einschlagen, denn mit unserer Freiheit ist sein Reich zu Ende. Nur solange wir außer uns anschauen, sind wir sein; er hat uns verloren, sobald wir in unsern eigenen Busen greifen. Dies erfolgt aber unausbleiblich, sobald ein Gegenstand nicht mehr als Erscheinung von uns betrachtet wird, sondern als Gesetz über uns richtet.

Selbst von den Äußerungen der erhabensten Tugend kann der Dichter nichts für seine Absichten brauchen, als was an denselben der Kraft gehört. Um die Richtung der Kraft bekümmert er sich nichts. Der Dichter, auch wenn er die vollkommensten sittlichen Muster vor unsre Augen stellt, hat keinen andern Zweck und darf keinen andern haben, als uns durch Betrachtung derselben zu ergötzen. Nun kann uns aber nichts ergötzen, als was unser Subjekt verbessert, und nichts kann uns geistig ergötzen, als was unser geistiges Vermögen erhöht. Wie kann aber die Pflichtmäßigkeit eines andern unser Subjekt verbessern und unsere geistige Kraft vermehren? Daß er seine Pflicht wirklich erfüllt, beruht auf einem zufälligen Gebrauche, den er von seiner Freiheit macht und der eben darum für uns nichts beweisen kann. Es ist bloß das Vermögen zu einer ähnlichen Pflichtmäßigkeit, was wir mit ihm teilen, und indem wir in seinem Vermögen auch das unsrige wahrnehmen, fühlen wir unsere geistige Kraft erhöht. Es ist also bloß die vorgestellte Möglichkeit eines absolut freien Wollens, wodurch die wirkliche Ausübung desselben unserm ästhetischen Sinn gefällt.

Noch mehr wird man sich davon überzeugen, wenn man nachdenkt, wie wenig die poetische Kraft des Eindrucks, den sittliche Charaktere oder Handlungen auf uns machen, von ihrer historischen[533] Realität abhängt. Unser Wohlgefallen an idealischen Charakteren verliert nichts durch die Erinnerung, daß sie poetische Fiktionen sind, denn es ist die poetische, nicht die historische Wahrheit, auf welche alle ästhetische Wirkung sich gründet. Die poetische Wahrheit besteht aber nicht darin, daß etwas wirklich geschehen ist, sondern darin, daß es geschehen konnte, also in der innern Möglichkeit der Sache. Die ästhetische Kraft muß also schon in der vorgestellten Möglichkeit liegen.

Selbst an wirklichen Begebenheiten historischer Personen ist nicht die Existenz, sondern das durch die Existenz kund gewordene Vermögen das Poetische. Der Umstand, daß diese Personen wirklich lebten und daß diese Begebenheiten wirklich erfolgten, kann zwar sehr oft unser Vergnügen vermehren, aber mit einem fremdartigen Zusatz, der dem poetischen Eindruck vielmehr nachteilig als beförderlich ist. Man hat lange geglaubt, der Dichtkunst unsers Vaterlands einen Dienst zu erweisen, wenn man den Dichtern Nationalgegenstände zur Bearbeitung empfahl. Dadurch, hieß es, wurde die griechische Poesie so bemächtigend für das Herz, weil sie einheimische Szenen malte und einheimische Taten verewigte. Es ist nicht zu leugnen, daß die Poesie der Alten dieses Umstandes halber Wirkungen leistete, deren die neuere Poesie sich nicht rühmen kann – aber gehörten diese Wirkungen der Kunst und dem Dichter? Wehe dem griechischen Kunstgenie, wenn es vor dem Genius der Neuern nichts weiter als diesen zufälligen Vorteil voraushätte, und wehe dem griechischen Kunstgeschmack, wenn er durch diese historischen Beziehungen in den Werken seiner Dichter erst hätte gewonnen werden müssen! Nur ein barbarischer Geschmack braucht den Stachel des Privatinteresse, um zu der Schönheit hingelockt zu werden, und nur der Stümper borgt von dem Stoffe eine Kraft, die er in die Form zu legen verzweifelt. Die Poesie soll ihren Weg nicht durch die kalte Region des Gedächtnisses nehmen, soll nie die Gelehrsamkeit zu ihrer Auslegerin, nie den Eigennutz zu ihrem Fürsprecher machen. Sie soll das Herz treffen, weil sie aus dem Herzen floß, und nicht auf den Staatsbürger in dem Menschen, sondern auf den Menschen in dem Staatsbürger zielen.

Es ist ein Glück, daß das wahre Genie auf die Fingerzeige nicht viel achtet, die man ihm, aus besserer Meinung als Befugnis, zu erteilen[534] sich sauer werden läßt; sonst würden Sulzer und seine Nachfolger der deutschen Poesie eine sehr zweideutige Gestalt gegeben haben. Den Menschen moralisch auszubilden und Nationalgefühle in dem Bürger zu entzünden, ist zwar ein sehr ehrenvoller Auftrag für den Dichter, und die Musen wissen es am besten, wie nahe die Künste des Erhabenen und Schönen damit zusammenhängen mögen. Aber was die Dichtkunst mittelbar ganz vortrefflich macht, würde ihr unmittelbar nur sehr schlecht gelingen. Die Dichtkunst führt bei dem Menschen nie ein besondres Geschäft aus, und man könnte kein ungeschickteres Werkzeug erwählen, um einen einzelnen Auftrag, ein Detail, gut besorgt zu sehen. Ihr Wirkungskreis ist das Total der menschlichen Natur, und bloß, insofern sie auf den Charakter einfließt, kann sie auf seine einzelnen Wirkungen Einfluß haben. Die Poesie kann dem Menschen werden, was dem Helden die Liebe ist. Sie kann ihm weder raten, noch mit ihm schlagen, noch sonst eine Arbeit für ihn tun; aber zum Helden kann sie ihn erziehn, zu Taten kann sie ihn rufen und zu allem, was er sein soll, ihn mit Stärke ausrüsten.

Die ästhetische Kraft, womit uns das Erhabene der Gesinnung und Handlung ergreift, beruht also keineswegs auf dem Interesse der Vernunft, daß recht gehandelt werde, sondern auf dem Interesse der Einbildungskraft, daß recht handeln möglich sei, d.h. daß keine Empfindung, wie mächtig sie auch sei, die Freiheit des Gemüts zu unterdrücken vermöge. Diese Möglichkeit liegt aber in jeder starken Äußerung von Freiheit und Willenskraft, und wo nur irgend der Dichter diese antrifft, da hat er einen zweckmäßigen Gegenstand für seine Darstellung gefunden. Für sein Interesse ist es eins, aus welcher Klasse von Charakteren, der schlimmen oder guten, er seine Helden nehmen will, da das nämliche Maß von Kraft, welches zum Guten nötig ist, sehr oft zur Konsequenz im Bösen erfodert werden kann. Wieviel mehr wir in ästhetischen Urteilen auf die Kraft als auf die Richtung der Kraft, wieviel mehr auf Freiheit als auf Gesetzmäßigkeit sehen, wird schon daraus hinlänglich offenbar, daß wir Kraft und Freiheit lieber auf Kosten der Gesetzmäßigkeit geäußert, als die Gesetzmäßigkeit auf Kosten der Kraft und Freiheit beobachtet sehen. Sobald nämlich Fälle eintreten, wo das moralische Gesetz sich mit Antrieben gattet, die den Willen durch ihre Macht fortzureißen drohen,[535] so gewinnt der Charakter ästhetisch, wenn er diesen Antrieben widerstehen kann. Ein Lasterhafter fängt an, uns zu interessieren, sobald er Glück und Leben wagen muß, um seinen schlimmen Willen durchzusetzen; ein Tugendhafter hingegen verliert in demselben Verhältnis unsre Aufmerksamkeit, als seine Glückseligkeit selbst ihn zum Wohlverhalten nötigt. Rache, zum Beispiel, ist unstreitig ein unedler und selbst niedriger Affekt. Nichtsdestoweniger wird sie ästhetisch, sobald sie dem, der sie ausübt, ein schmerzhaftes Opfer kostet. Medea, indem sie ihre Kinder ermordet, zielt bei dieser Handlung auf Jasons Herz, aber zugleich führt sie einen schmerzhaften Stich auf ihr eigenes, und ihre Rache wird ästhetisch erhaben, sobald wir die zärtliche Mutter sehen.

Das ästhetische Urteil enthält hierin mehr Wahres, als man gewöhnlich glaubt. Offenbar kündigen Laster, welche von Willensstärke zeugen, eine größere Anlage zur wahrhaften moralischen Freiheit an als Tugenden, die eine Stütze von der Neigung entlehnen, weil es dem konsequenten Bösewicht nur einen einzigen Sieg über sich selbst, eine einzige Umkehrung der Maximen kostet, um die ganze Konsequenz und Willensfertigkeit, die er an das Böse verschwendete, dem Guten zuzuwenden. Woher sonst kann es kommen, daß wir den halbguten Charakter mit Widerwillen von uns stoßen und dem ganz schlimmen oft mit schauernder Bewunderung folgen? Daher unstreitig, weil wir bei jenem auch die Möglichkeit des absolut freien Wollens aufgeben, diesem hingegen es in jeder Äußerung anmerken, daß er durch einen einzigen Willensakt sich zur ganzen Würde der Menschheit aufrichten kann.

In ästhetischen Urteilen sind wir also nicht für die Sittlichkeit an sich selbst, sondern bloß für die Freiheit interessiert, und jene kann nur insofern unsrer Einbildungskraft gefallen, als sie die letztere sichtbar macht. Es ist daher offenbare Verwirrung der Grenzen, wenn man moralische Zweckmäßigkeit in ästhetischen Dingen fodert und, um das Reich der Vernunft zu erweitern, die Einbildungskraft aus ihrem rechtmäßigen Gebiete verdrängen will. Entweder wird man sie ganz unterjochen müssen, und dann ist es um alle ästhetische Wirkung geschehen, oder sie wird mit der Vernunft ihre Herrschaft teilen, und dann wird für Moralität wohl nicht viel gewonnen sein. Indem man[536] zwei verschiedene Zwecke verfolgt, wird man Gefahr laufen, beide zu verfehlen. Man wird die Freiheit der Phantasie durch moralische Gesetzmäßigkeit fesseln und die Notwendigkeit der Vernunft durch die Willkür der Einbildungskraft zerstören.

Fußnoten

1 Siehe die Abhandlung über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen.


2 Denn – um es noch einmal zu wiederholen – in der bloßen Anschauung wird alles, was an der Schönheit objektiv ist, gegeben. Da aber das, was dem Menschen den Vorzug vor allen übrigen Sinnenwesen gibt, in der bloßen Anschauung nicht vorkommt, so kann eine Eigenschaft, die sich schon in der bloßen Anschauung offenbart, diesen Vorzug nicht sichtbar machen. Seine höhere Bestimmung, die allein diesen Vorzug begründet, wird also durch seine Schönheit nicht ausgedrückt, und die Vorstellung von jener kann daher nie ein Ingrediens von dieser abgeben, nie in das ästhetische Urteil mit aufgenommen werden. Nicht der Gedanke selbst, dessen Ausdruck die menschliche Bildung ist, bloß die Wirkungen desselben in der Erscheinung offenbaren sich dem Sinn. Zu dem übersinnlichen Grund dieser Wirkungen erhebt der bloße Sinn sich ebensowenig, als (wenn man mir dies Beispiel verstatten will) der bloß sinnliche Mensch zu der Idee der obersten Weltursache hinaufsteigt, wenn er seine Triebe befriedigt.


3 Daher nimmt Home den Begriff der Anmut viel zu eng an, wenn er (Grundsätze d. Kritik II, 39. Neueste Ausgabe) sagt: »daß, wenn die anmutigste Person in Ruhe sei und sich weder bewege noch spreche, wir die Eigenschaft der Anmut, wie die Farbe im Finstern, aus den Augen verlieren.« Nein, wir verlieren sie nicht aus den Augen, solange wir an der schlafenden Person die Züge wahrnehmen, die ein wohlwollender sanfter Geist gebildet hat; und gerade der schätzbarste Teil der Grazie bleibt übrig, derjenige nämlich, der sich aus Gebärden zu Zügen verfestete und also die Fertigkeit des Gemüts in schönen Empfindungen an den Tag legt. Wenn aber der Herr Berichtiger des Homischen Werks seinen Autor durch die Bemerkung zurechtzuweisen glaubte (siehe in demselben Band Seite 459): »daß sich die Anmut nicht bloß auf willkürliche Bewegungen einschränke, daß eine schlafende Person nicht aufhöre, reizend zu sein«, – und warum? »weil während dieses Zustandes die unwillkürlichen sanften und eben deswegen desto anmutigern Bewegungen erst recht sichtbar werden«, so hebt er den Begriff der Grazie ganz auf, den Home bloß zu sehr einschränkte. Unwillkürliche Bewegungen im Schlafe, wenn es nicht mechanische Wiederholungen von willkürlichen sind, können nie anmutig sein, weit entfernt, daß sie es vorzugsweise sein könnten, und wenn eine schlafende Person reizend ist, so ist sie es keineswegs durch die Bewegungen, die sie macht, sondern durch ihre Züge, die von vorhergegangenen Bewegungen zeugen.


4 Philosophische Schriften I, 90.


5 Wenn sich eine Begebenheit vor einer zahlreichen Gesellschaft ereignet, so kann es sich treffen, daß jeder Anwesende von der Gesinnung der handelnden Personen seine eigene Meinung hat; so zufällig sind willkürliche Bewegungen mit ihrer moralischen Ursache verbunden. Wenn hingegen einem aus dieser Gesellschaft ein sehr geliebter Freund oder ein sehr verhaßter Feind unerwartet in die Augen fiele, so würde der unzweideutige Ausdruck seines Gesichts die Empfindungen seines Herzens schnell und bestimmt an den Tag legen, und das Urteil der ganzen Gesellschaft über den gegenwärtigen Empfindungszustand dieses Menschen würde wahrscheinlich völlig einstimmig sein: denn der Ausdruck ist hier mit seiner Ursache im Gemüt durch Naturnotwendigkeit verbunden.


6

Ich bin ebenso weit entfernt, bei dieser Zusammenstellung dem Tanzmeister sein Verdienst um die wahre Grazie, als dem Schauspieler seinen Anspruch darauf abzustreiten. Der Tanzmeister kommt der wahren Anmut unstreitig zu Hülfe, indem er dem Willen die Herrschaft über seine Werkzeuge verschafft und die Hindernisse hinwegräumt, welche die Masse und Schwerkraft dem Spiel der lebendigen Kräfte entgegensetzen. Er kann dies nicht anders als nach Regeln verrichten, welche den Körper in einer heilsamen Zucht erhalten und, solange die Trägheit widerstrebt, steif, d.i. zwingend sein und auch so aussehen dürfen. Entläßt er aber den Lehrling aus seiner Schule, so muß die Regel bei diesem ihren Dienst schon geleistet haben, daß sie ihn nicht in die Welt zu begleiten braucht: kurz, das Werk der Regel muß in Natur übergehen.

Die Geringschätzung, mit der ich von der theatralischen Grazie rede, gilt nur der nachgeahmten, und diese nehme ich keinen Anstand, auf der Schaubühne wie im Leben zu verwerfen. Ich bekenne, daß mir der Schauspieler nicht gefällt, der seine Grazie, gesetzt, daß ihm die Nachahmung auch noch so sehr gelungen sei, an der Toilette studiert hat. Die Forderungen, die wir an den Schauspieler machen, sind: 1. Wahrheit der Darstellung und 2. Schönheit der Darstellung. Nun behaupte ich, daß der Schauspieler, was die Wahrheit der Darstellung betrifft, alles durch Kunst und nichts durch Natur hervorbringen müsse, weil er sonst gar nicht Künstler ist; und ich werde ihn bewundern, wenn ich höre oder sehe, daß er, der einen wütenden Guelfo meisterhaft spielte, ein Mensch von sanftem Charakter ist; auf der andern Seite hingegen behaupte ich, daß er, was die Anmut der Darstellung betrifft, der Kunst gar nichts zu danken haben dürfe und daß hier alles an ihm freiwilliges Werk der Natur sein müsse. Wenn es mir bei der Wahrheit seines Spiels beifällt, daß ihm dieser Charakter nicht natürlich ist, so werde ich ihn nur um so höher schätzen; wenn es mir bei der Schönheit seines Spiels beifällt, daß ihm diese anmutigen Bewegungen nicht natürlich sind, so werde ich mich nicht enthalten können, über den Menschen zu zürnen, der hier den Künstler zu Hülfe nehmen mußte. Die Ursache ist, weil das Wesen der Grazie mit ihrer Natürlichkeit verschwindet und weil die Grazie doch eine Forderung ist, die wir uns an den bloßen Menschen zu machen berechtigt glauben. Was werde ich aber nun dem mimischen Künstler antworten, der gern wissen möchte, wie er, da er sie nicht erlernen darf, zu der Grazie kommen soll? Er soll, ist meine Meinung, zuerst dafür sorgen, daß die Menschheit in ihm selbst zur Zeitigung komme, und dann soll er hingehen und (wenn es sonst sein Beruf ist) sie auf der Schaubühne repräsentieren.


7

Daher man auch mehrenteils finden wird, daß solche Schönheiten des Baues sich schon im mittlern Alter durch Obesität sehr merklich vergröbern, daß, anstatt jener kaum angedeuteten zarten Lineamente der Haut, sich Gruben einsenken und wurstförmige Falten aufwerfen, daß das Gewicht unvermerkt auf die Form Einfluß bekömmt und das reizende mannichfache Spiel schöner Linien auf der Oberfläche sich in einem gleichförmig schwellenden Polster von Fette verliert. Die Natur nimmt wieder, was sie gegeben hat.

Ich bemerke beiläufig, daß etwas Ähnliches zuweilen mit dem Genie vorgeht, welches überhaupt in seinem Ursprunge wie in seinen Wirkungen mit der architektonischen Schönheit vieles gemein hat. Wie diese, so ist auch jenes ein bloßes Naturerzeugnis, und nach der verkehrten Denkart der Menschen, die, was nach keiner Vorschrift nachzuahmen und durch kein Verdienst zu erringen ist, gerade am höchsten schätzen, wird die Schönheit mehr als der Reiz, das Genie mehr als erworbene Kraft des Geistes bewundert. Beide Günstlinge der Natur werden bei allen ihren Unarten (wodurch sie nicht selten ein Gegenstand verdienter Verachtung sind) als ein gewisser Geburtsadel, als eine höhere Kaste betrachtet, weil ihre Vorzüge von Naturbedingungen abhängig sind und daher über alle Wahl hinausliegen.

Aber wie es der architektonischen Schönheit ergeht, wenn sie nicht zeitig dafür Sorge trägt, sich an der Grazie eine Stütze und eine Stellvertreterin heranzuziehen, ebenso ergeht es auch dem Genie, wenn es sich durch Grundsätze, Geschmack und Wissenschaft zu stärken verabsäumt. War seine ganze Ausstattung eine lebhafte und blühende Einbildungskraft (und die Natur kann nicht wohl andre als sinnliche Vorzüge erteilen), so mag es beizeiten darauf denken, sich dieses zweideutigen Geschenks durch den einzigen Gebrauch zu versichern, wodurch Naturgaben Besitzungen des Geistes werden können; dadurch, meine ich, daß es der Materie Form erteilt; denn der Geist kann nichts, als was Form ist, sein eigen nennen. Durch keine verhältnismäßige Kraft der Vernunft beherrscht, wird die wild aufgeschossene üppige Naturkraft über die Freiheit des Verstandes hinauswachsen und sie ebenso ersticken, wie bei der architektonischen Schönheit die Masse endlich die Form unterdrückt. Die Erfahrung, denke ich, liefert hievon reichlich Belege, besonders an denjenigen Dichtergenien, die früher berühmt werden, als sie mündig sind, und wo, wie bei mancher Schönheit, das ganze Talent oft die Jugend ist. Ist aber der kurze Frühling vorbei, und fragt man nach den Früchten, die er hoffen ließ, so sind es schwammige und oft verkrüppelte Geburten, die ein mißgeleiteter blinder Bildungstrieb erzeugte. Gerade da, wo man erwarten kann, daß der Stoff sich zur Form veredelt und der bildende Geist in der Anschauung Ideen niedergelegt habe, sind sie, wie jedes andre Naturprodukt, der Materie anheimgefallen, und die vielversprechenden Meteore erscheinen als ganz gewöhnliche Lichter – wo nicht gar als noch etwas weniger. Denn die poetisierende Einbildungskraft sinkt zuweilen auch ganz zu dem Stoff zurück, aus dem sie sich losgewickelt hatte, und verschmäht es nicht, der Natur bei einem andern, solidern Bildungswerk zu dienen, wenn es ihr mit der poetischen Zeugung nicht recht mehr gelingen will.


8 Siehe das Glaubensbekenntnis des V.d.K. von der menschlichen Natur in seiner neuesten Schrift: Die Offenbarung in den Grenzen der Vernunft. Erster Abschnitt.


9 Man lese über diese Materie die aller Aufmerksamkeit würdige Theorie des Willens im zweiten Teil der Reinholdischen Briefe.


10 Man darf aber diese Anfrage des Willens bei der Vernunft nicht mit derjenigen verwechseln, wo sie über die Mittel zu Befriedigung einer Begierde erkennen soll. Hier ist nicht davon die Rede, wie die Befriedigung zu erlangen, sondern ob sie zu gestatten ist. Nur das letzte gehört ins Gebiet der Moralität; das erste gehört zur Klugheit.


11 Findet man nur die Bewegungen der zweiten Art ohne die der erstern, so zeigt dieses an, daß die Person den Affekt will und die Natur ihn verweigert. Findet man die Bewegungen der erstern Art ohne die der zweiten, so beweist dies, daß die Natur in den Affekt wirklich versetzt ist, aber die Person ihn verbietet. Den ersten Fall sieht man alle Tage bei affektierten Personen und schlechten Komödianten; den zweiten Fall desto seltener und nur bei starken Gemütern.


12 In einer Untersuchung über pathetische Darstellungen ist im dritten Stück der Thalia umständlicher davon gehandelt worden.


13

Mit dem feinen und großen Sinn, der ihm eigen ist, hat Winckelmann (Geschichte der Kunst. Erster Teil. S.480f. Wiener Ausgabe) diese hohe Schönheit, welche aus der Verbindung der Grazie mit der Würde hervorgeht, aufgefaßt und beschrieben. Aber was er vereinigt fand, nahm und gab er auch nur für eines, und er blieb bei dem stehen, was der bloße Sinn ihn lehrte, ohne zu untersuchen, ob es nicht vielleicht noch zu scheiden sei. Er verwirrt den Begriff der Grazie, da er Züge, die offenbar nur der Würde zukommen, in diesen Begriff mit aufnimmt. Grazie und Würde sind aber wesentlich verschieden, und man tut unrecht, das zu einer Eigenschaft der Grazie zu machen, was vielmehr eine Einschränkung derselben ist. Was Winckelmann die hohe himmlische Grazie nennt, ist nichts anders als Schönheit und Grazie mit überwiegender Würde. »Die himmlische Grazie«, sagt er, »scheint sich allgenügsam und bietet sich nicht an, sondern will gesucht werden; sie ist zu erhaben, um sich sehr sinnlich zu machen. Sie verschließt in sich die Bewegungen der Seele und nähert sich der seligen Stille der göttlichen Natur.« – »Durch sie«, sagt er an einem andern Ort, »wagte sich der Künstler der Niobe in das Reich unkörperlicher Ideen und erreichte das Geheimnis, die Todesangst mit der höchsten Schönheit zu verbinden« (es würde schwer sein, hierin einen Sinn zu finden, wenn es nicht augenscheinlich wäre, daß hier nur die Würde gemeint ist); »er wurde ein Schöpfer reiner Geister, die keine Begierden der Sinne erwecken, denn sie scheinen nicht zur Leidenschaft gebildet zu sein, sondern dieselbe nur angenommen zu haben.« – Anderswo heißt es: »Die Seele äußerte sich nur unter einer stillen Fläche des Wassers und trat niemals mit Ungestüm hervor. In Vorstellung des Leidens bleibt die größte Pein verschlossen, und die Freude schwebet wie eine sanfte Luft, die kaum die Blätter rühret, auf dem Gesicht einer Leukothea.«

Alle diese Züge kommen der Würde und nicht der Grazie zu, denn die Grazie verschließt sich nicht, sondern kommt entgegen, die Grazie macht sich sinnlich und ist auch nicht erhaben, sondern schön. Aber die Würde ist es, was die Natur in ihren Äußerungen zurückhält und den Zügen, auch in der Todesangst und in dem bittersten Leiden eines Laokoon, Ruhe gebietet.

Home verfällt in denselben Fehler, was aber bei diesem Schriftsteller weniger zu verwundern ist. Auch er nimmt Züge der Würde in die Grazie mit auf, ob er gleich Anmut und Würde ausdrücklich voneinander unterscheidet. Seine Beobachtungen sind gewöhnlich richtig, und die nächsten Regeln, die er sich daraus bildet, wahr; aber weiter darf man ihm auch nicht folgen. Grundsätze der Kritik. II. Teil. Anmut und Würde.


14

Man darf die Achtung nicht mit der Hochachtung verwechseln. Achtung (nach ihrem reinen Begriff) geht nur auf das Verhältnis der sinnlichen Natur zu den Forderungen reiner praktischer Vernunft überhaupt, ohne Rücksicht auf eine wirkliche Erfüllung. »Das Gefühl der Unangemessenheit zu Erreichung einer Idee, die für uns Gesetz ist, heißt Achtung.« (Kants Kritik der Urteilskraft.) Daher ist Achtung keine angenehme, eher drückende Empfindung. Sie ist ein Gefühl des Abstandes des empirischen Willens von dem reinen. – Es kann daher auch nicht befremdlich sein, daß ich die sinnliche Natur zum Subjekt der Achtung mache, obgleich diese nur auf reine Vernunft geht; denn die Unangemessenheit zu Erreichung des Gesetzes kann nur in der Sinnlichkeit liegen.

Hochachtung hingegen geht schon auf die wirkliche Erfüllung des Gesetzes und wird nicht für das Gesetz, sondern für die Person, die demselben gemäß handelt, empfunden. Daher hat sie etwas Ergötzendes, weil die Erfüllung des Gesetzes Vernunftwesen erfreuen muß. Achtung ist Zwang, Hochachtung schon ein freieres Gefühl. Aber das rührt von der Liebe her, die ein Ingrediens der Hochachtung ausmacht. Achten muß auch der Nichtswürdige das Gute, aber um denjenigen hochzuachten, der es getan hat, müßte er aufhören, ein Nichtswürdiger zu sein.


15

Indessen gibt es auch eine Feierlichkeit im guten Sinne, wovon die Kunst Gebrauch machen kann. Diese entsteht nicht aus der Anmaßung, sich wichtig zu machen, sondern sie hat die Absicht, das Gemüt auf etwas Wichtiges vorzubereiten. Da, wo ein großer und tiefer Eindruck geschehen soll und es dem Dichter darum zu tun ist, daß nichts davon verlorengehe, so stimmt er das Gemüt vorher zum Empfang desselben, entfernt alle Zerstreuungen und setzt die Einbildungskraft in eine erwartungsvolle Spannung. Dazu ist nun das Feierliche sehr geschickt, welches in Häufung vieler Anstalten besteht, wovon man den Zweck nicht absieht und in einer absichtlichen Verzögerung des Fortschritts, da, wo die Ungeduld Eile fordert. In der Musik wird das Feierliche durch eine langsame, gleichförmige Folge starker Töne hervorgebracht; die Stärke erweckt und spannt das Gemüt, die Langsamkeit verzögert die Befriedigung, und die Gleichförmigkeit des Takts läßt die Ungeduld gar kein Ende absehen.

Das Feierliche unterstützt den Eindruck des Großen und Erhabenen nicht wenig und wird daher bei Religionsgebräuchen und Mysterien mit großem Erfolg gebraucht. Die Wirkungen der Glocken, der Choralmusik, der Orgel sind bekannt; aber auch für das Auge gibt es ein Feierliches, nämlich die Pracht, verbunden mit dem Furchtbaren, wie bei Leichenzeremonien und bei allen öffentlichen Aufzügen, die eine große Stille und einen langsamen Takt beobachten.


16 »Wider diese Auflösung des Begriffs vom Dynamischerhabenen«, sagt Kant, »scheint zu streiten, daß wir Gott im Ungewitter, Erdbeben usf. als eine zürnende Macht und dennoch als erhaben vorzustellen pflegen, wobei es von unsrer Seite Torheit sowohl als Frevel sein würde, uns eine Überlegenheit des Gemüts über die Wirkungen einer solchen Macht einzubilden. Hier scheint kein Gefühl der Erhabenheit unsrer eignen Natur, sondern vielmehr Niedergeschlagenheit und Unterwerfung die Gemütsstimmung zu sein, die sich für die Erscheinung eines solchen Gegenstandes schickt. In der Religion überhaupt scheint Niederwerfen, Anbetung mit zerknirschten, angstvollen Gebärden das einzig schickliche Benehmen in Gegen wart der Gottheit zu sein, welches daher auch die meisten Völker angenommen haben. Aber«, fährt er fort, »diese Gemütsstimmung ist mit der Idee der Erhabenheit einer Religion bei weitem nicht so notwendig verbunden. Der Mensch, der sich seiner Schuld bewußt ist und also Ursache hat, sich zu fürchten, ist in gar keiner Gemütsstimmung, um die göttliche Größe zu bewundern- nur alsdann, wenn sein Gewissen rein ist, dienen jene Wirkungen der göttlichen Macht dazu, ihm eine erhabene Idee von der Gottheit zu geben, sofern er durch das Gefühl seiner eigenen erhabenen Gesinnung über die Furcht vor den Wirkungen dieser Macht erhoben wird. Er hat Ehrfurcht, nicht Furcht vor der Gottheit, da hingegen die Superstition bloße Furcht und Angst vor der Gottheit fühlt, ohne sie hochzuschätzen, woraus nie eine Religion des guten Wandels, bloß Gunstbewerbung und Einschmeichlung entstehen kann.« Kants »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«, Analytik des Erhabenen.


17 Unter dem Gebiet der Tierheit begreife ich das ganze System derjenigen Erscheinungen am Menschen, die unter der blinden Gewalt des Naturtriebes stehen und ohne Voraussetzung einer Freiheit des Willens vollkommen erklärbar sind; unter dem Gebiet der Menschheit aber diejenigen, welche ihre Gesetze von der Freiheit empfangen. Mangelt nun bei einer Darstellung der Affekt im Gebiet der Tierheit, so läßt uns dieselbe kalt; herrscht er hingegen im Gebiet der Menschheit, so ekelt sie uns an und empört. Im Gebiet der Tierheit muß der Affekt jederzeit unaufgelöst bleiben, sonst fehlt das Pathetische; erst im Gebiet der Menschheit darf sich die Auflösung finden. Eine leidende Person, klagend und weinend vorgestellt, wird daher nur schwach rühren, denn Klagen und Tränen lösen den Schmerz schon im Gebiet der Tierheit auf. Weit stärker ergreift uns der verbissene stumme Schmerz, wo wir bei der Natur keine Hülfe finden, sondern zu etwas, das über alle Natur hinausliegt, unsre Zuflucht nehmen müssen; und eben in dieser Hinweisung auf das Übersinnliche liegt das Pathos und die tragische Kraft.


18 Diese Auflösung, erinnre ich beiläufig, erklärt uns auch die Verschiedenheit des ästhetischen Eindrucks, den die Kantische Vorstellung der Pflicht auf seine verschiedenen Beurteiler zu machen pflegt. Ein nicht zu verachtender Teil des Publikums findet diese Vorstellung der Pflicht sehr demütigend; ein andrer findet sie unendlich erhebend für das Herz. Beide haben recht, und der Grund dieses Widerspruchs liegt bloß in der Verschiedenheit des Standpunkts, aus welchem beide diesen Gegenstand betrachten. Seine bloße Schuldigkeit tun, hat allerdings nichts Großes, und insofern das Beste, was wir zu leisten vermögen, nichts als Erfüllung, und noch mangelhafte Erfüllung, unserer Pflicht ist, liegt in der höchsten Tugend nichts Begeisterndes. Aber bei allen Schranken der sinnlichen Natur dennoch treu und beharrlich seine Schuldigkeit tun und in den Fesseln der Materie dem heiligen Geistergesetz unwandelbar folgen, dies ist allerdings erhebend und der Bewunderung wert. Gegen die Geisterwelt gehalten, ist an unsrer Tugend freilich nichts Verdienstliches, und wieviel wir es uns auch kosten lassen mögen, wir werden immer unnütze Knechte sein; gegen die Sinnenwelt gehalten, ist sie hingegen ein desto erhabeneres Objekt. Insofern wir also Handlungen moralisch beurteilen und sie auf das Sittengesetz beziehen, werden wir wenig Ursache haben, auf unsere Sittlichkeit stolz zu sein; insofern wir aber auf die Möglichkeit dieser Handlungen sehen und das Vermögen unsers Gemüts, das denselben zum Grund liegt, auf die Welt der Erscheinungen beziehen, d.h. insofern wir sie ästhetisch beurteilen, ist uns ein gewisses Selbstgefühl erlaubt, ja es ist sogar notwendig, weil wir ein Prinzipium in uns aufdecken, das über alle Vergleichung groß und unendlich ist.


Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 5, München: Hanser 31962.
Entstanden 1793, Erstdruck als zweiter Teil des Aufsatzes »Vom Erhabenen« in: Neue Thalia (Leipzig), 2. Jg., 1793, Heft 3 und 4.
Lizenz:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Leo Armenius

Leo Armenius

Am Heiligen Abend des Jahres 820 führt eine Verschwörung am Hofe zu Konstantinopel zur Ermordung Kaiser Leos des Armeniers. Gryphius schildert in seinem dramatischen Erstling wie Michael Balbus, einst Vertrauter Leos, sich auf den Kaiserthron erhebt.

98 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon