Erster Brief

Sie wollen mir also vergönnen, Ihnen die Resultate meiner Untersuchungen über das Schöne und die Kunst in einer Reihe von Briefen vorzulegen. Lebhaft empfinde ich das Gewicht, aber auch den Reiz und die Würde dieser Unternehmung. Ich werde von einem Gegenstande sprechen, der mit dem besten Teil unsrer Glückseligkeit in einer unmittelbaren, und mit dem moralischen Adel der menschlichen Natur in keiner sehr entfernten Verbindung steht. Ich werde die Sache der Schönheit vor einem Herzen führen, das ihre ganze Macht empfindet und ausübt und bei einer Untersuchung, wo man ebensooft genötigt ist, sich auf Gefühle als auf Grundsätze zu berufen, den schwersten Teil meines Geschäfts auf sich nehmen wird.

Was ich mir als eine Gunst von Ihnen erbitten wollte, machen Sie großmütigerweise mir zur Pflicht und lassen mir da den Schein eines Verdienstes, wo ich bloß meiner Neigung nachgebe. Die Freiheit des Ganges, welche Sie mir vorschreiben, ist kein Zwang, vielmehr ein Bedürfnis für mich. Wenig geübt im Gebrauche schulgerechter Formen, werde ich kaum in Gefahr sein, mich durch Mißbrauch derselben an dem guten Geschmack zu versündigen. Meine Ideen, mehr aus dem einförmigen Umgange mit mir selbst als aus einer reichen Welterfahrung geschöpft oder durch Lektüre erworben, werden ihren Ursprung nicht verleugnen, werden sich eher jedes andern Fehlers als der Sektiererei schuldig machen und eher aus eigner Schwäche fallen, als durch Autorität und fremde Stärke sich aufrechterhalten.

Zwar will ich Ihnen nicht verbergen, daß es größtenteils Kantische Grundsätze sind, auf denen die nachfolgenden Behauptungen ruhen werden; aber meinem Unvermögen, nicht jenen Grundsätzen schreiben Sie es zu, wenn Sie im Lauf dieser Untersuchungen an irgendeine besondre philosophische Schule erinnert werden sollten. Nein, die Freiheit Ihres Geistes soll mir unverletzlich sein. Ihre eigne Empfindung wird mir die Tatsachen hergeben, auf die ich baue, Ihre[570] eigene freie Denkkraft wird die Gesetze diktieren, nach welchen verfahren werden soll.

Über diejenigen Ideen, welche in dem praktischen Teil des Kantischen Systems die herrschenden sind, sind nur die Philosophen entzweit, aber die Menschen, ich getraue mir es zu beweisen, von jeher einig gewesen. Man befreie sie von ihrer technischen Form, und sie werden als die verjährten Ansprüche der gemeinen Vernunft und als Tatsachen des moralischen Instinktes erscheinen, den die weise Natur dem Menschen zum Vormund setzte, bis die helle Einsicht ihn mündig macht. Aber eben diese technische Form, welche die Wahrheit dem Verstande versichtbart, verbirgt sie wieder dem Gefühl; denn leider muß der Verstand das Objekt des innern Sinns erst zerstören, wenn er es sich zu eigen machen will. Wie der Scheidekünstler, so findet auch der Philosoph nur durch Auflösung die Verbindung und nur durch die Marter der Kunst das Werk der freiwilligen Natur. Um die flüchtige Erscheinung zu haschen, muß er sie in die Fesseln der Regel schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe zerfleischen und in einem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist aufbewahren. Ist es ein Wunder, wenn sich das natürliche Gefühl in einem solchen Abbild nicht wiederfindet und die Wahrheit in dem Berichte des Analysten als ein Paradoxon erscheint?

Lassen Sie daher auch mir einige Nachsicht zustatten kommen, wenn die nachfolgenden Untersuchungen ihren Gegenstand, indem sie ihn dem Verstande zu nähern suchen, den Sinnen entrücken sollten. Was dort von moralischen Erfahrungen gilt, muß in einem noch höhern Grade von der Erscheinung der Schönheit gelten. Die ganze Magie derselben beruht auf ihrem Geheimnis, und mit dem notwendigen Bund ihrer Elemente ist auch ihr Wesen aufgehoben.

Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 5, München: Hanser 31962, S. 570-571.
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