Sechzehnter Brief

[619] Aus der Wechselwirkung zwei entgegengesetzter Triebe und aus der Verbindung zwei entgegengesetzter Prinzipien haben wir das Schöne hervorgehen sehen, dessen höchstes Ideal also in dem möglichst vollkommensten Bunde und Gleichgewicht der Realität und der Form wird zu suchen sein. Dieses Gleichgewicht bleibt aber immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann. In der Wirklichkeit wird immer ein Übergewicht des einen Elements über das andere übrig bleiben, und das Höchste, was die Erfahrung leistet, wird in einer Schwankung zwischen beiden Prinzipien bestehen, wo bald die Realität, bald die Form überwiegend ist. Die Schönheit in der Idee ist also ewig nur eine unteilbare einzige, weil es nur ein einziges Gleichgewicht geben kann; die Schönheit in der Erfahrung hingegen wird ewig eine doppelte sein, weil bei einer Schwankung das Gleichgewicht auf eine doppelte Art, nämlich diesseits und jenseits, kann übertreten werden.

Ich habe in einem der vorhergehenden Briefe bemerkt, auch läßt es sich aus dem Zusammenhange des Bisherigen mit strenger Notwendigkeit folgern, daß von dem Schönen zugleich eine auflösende und eine anspannende Wirkung zu erwarten sei: eine auflösende, um sowohl den sinnlichen Trieb als den Formtrieb in ihren Grenzen zu halten: eine anspannende, um beide in ihrer Kraft zu erhalten. Diese beiden Wirkungsarten der Schönheit sollen aber, der Idee nach, schlechterdings nur eine einzige sein. Sie soll auflösen, dadurch daß sie beide Naturen gleichförmig anspannt, und soll anspannen, dadurch daß sie beide Naturen gleichförmig auflöst. Dieses folgt schon aus dem Begriff einer Wechselwirkung, vermöge dessen beide Teile einander zugleich notwendig bedingen und durch einander bedingt[619] werden, und deren reinstes Produkt die Schönheit ist. Aber die Erfahrung bietet uns kein Beispiel einer so vollkommenen Wechselwirkung dar, sondern hier wird jederzeit, mehr oder weniger, das Übergewicht einen Mangel und der Mangel ein Übergewicht begründen. Was also in dem Ideal-Schönen nur in der Vorstellung unterschieden wird, das ist in dem Schönen der Erfahrung der Existenz nach verschieden. Das Idealschöne, obgleich unteilbar und einfach, zeigt in verschiedener Beziehung sowohl eine schmelzende als energische Eigenschaft; in der Erfahrung gibt es eine schmelzende und energische Schönheit. So ist es, und so wird es in allen den Fällen sein, wo das Absolute in die Schranken der Zeit gesetzt ist und Ideen der Vernunft in der Menschheit realisiert werden sollen. So denkt der reflektierende Mensch sich die Tugend, die Wahrheit, die Glückseligkeit; aber der handelnde Mensch wird bloß Tugenden üben, bloß Wahrheiten fassen, bloß glückselige Tage genießen. Diese auf jene zurückzuführen – an die Stelle der Sitten die Sittlichkeit, an die Stelle der Kenntnisse die Erkenntnis, an die Stelle des Glückes die Glückseligkeit zu setzen, ist das Geschäft der physischen und moralischen Bildung; aus Schönheiten Schönheit zu machen, ist die Aufgabe der ästhetischen.

Die energische Schönheit kann den Menschen ebensowenig vor einem gewissen Überrest von Wildheit und Härte bewahren, als ihn die schmelzende vor einem gewissen Grade der Weichlichkeit und Entnervung schützt. Denn da die Wirkung der erstern ist, das Gemüt sowohl im Physischen als Moralischen anzuspannen und seine Schnellkraft zu vermehren, so geschieht es nur gar zu leicht, daß der Widerstand des Temperaments und Charakters die Empfänglichkeit für Eindrücke mindert, daß auch die zärtere Humanität eine Unterdrückung erfährt, die nur die rohe Natur treffen sollte, und daß die rohe Natur an einem Kraftgewinn teilnimmt, der nur der freien Person gelten sollte; daher findet man in den Zeitaltern der Kraft und der Fülle das wahrhaft Große der Vorstellung mit dem Gigantesken und Abenteuerlichen, und das Erhabene der Gesinnung mit den schauderhaftesten Ausbrüchen der Leidenschaft gepaart; daher wird man in den Zeitaltern der Regel und der Form die Natur ebensooft unterdrückt als beherrscht, ebensooft beleidigt als übertroffen finden. Und[620] weil die Wirkung der schmelzenden Schönheit ist, das Gemüt im Moralischen wie im Physischen aufzulösen, so begegnet es ebenso leicht, daß mit der Gewalt der Begierden auch die Energie der Gefühle erstickt wird und daß auch der Charakter einen Kraftverlust teilt, der nur die Leidenschaft treffen sollte: daher wird man in den sogenannten verfeinerten Weltaltern Weichheit nicht selten in Weichlichkeit, Fläche in Flachheit, Korrektheit in Leerheit, Liberalität in Willkürlichkeit, Leichtigkeit in Frivolität, Ruhe in Apathie ausarten und die verächtlichste Karikatur zunächst an die herrlichste Menschlichkeit grenzen sehen. Für den Menschen unter dem Zwange entweder der Materie oder der Formen ist also die schmelzende Schönheit Bedürfnis, denn von Größe und Kraft ist er längst gerührt, ehe er für Harmonie und Grazie anfängt empfindlich zu werden. Für den Menschen unter der Indulgenz des Geschmacks ist die energische Schönheit Bedürfnis, denn nur allzugern verscherzt er im Stand der Verfeinerung eine Kraft, die er aus dem Stand der Wildheit herüberbrachte.

Und nunmehr, glaube ich, wird jener Widerspruch erklärt und beantwortet sein, den man in den Urteilen der Menschen über den Einfluß des Schönen und in Würdigung der ästhetischen Kultur anzutreffen pflegt. Er ist erklärt, dieser Widerspruch, sobald man sich erinnert, daß es in der Erfahrung eine zweifache Schönheit gibt und daß beide Teile von der ganzen Gattung behaupten, was jeder nur von einer besondern Art derselben zu beweisen imstande ist. Er ist gehoben, dieser Widerspruch, sobald man das doppelte Bedürfnis der Menschheit unterscheidet, dem jene doppelte Schönheit entspricht. Beide Teile werden also wahrscheinlich recht behalten, wenn sie nur erst miteinander verständigt sind, welche Art der Schönheit und welche Form der Menschheit sie in Gedanken haben.

Ich werde daher im Fortgange meiner Untersuchungen den Weg, den die Natur in ästhetischer Hinsicht mit dem Menschen einschlägt, auch zu dem meinigen machen und mich von den Arten der Schönheit zu dem Gattungsbegriff derselben erheben. Ich werde die Wirkungen der schmelzenden Schönheit an dem angespannten Menschen und die Wirkungen der energischen an dem abgespannten prüfen, um zuletzt beide entgegengesetzte Arten der Schönheit in der Einheit des[621] Ideal-Schönen auszulöschen, so wie jene zwei entgegengesetzten Formen der Menschheit in der Einheit des Ideal-Menschen untergehn.

Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 5, München: Hanser 31962, S. 619-622.
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