Zweites Kapitel

[22] Florentin war allein; er lehnte sich in ein Fenster seines Schlafzimmers, aus dem er die Aussicht über das Dorf nach dem weit sich hindehnenden fruchtbaren Tale hatte, wodurch der Strom sich majestätisch und ruhig in großen Schwingungen hinwand. In grauer Ferne beschloß das hohe Gebirge den Horizont; das Tal war vom Monde hell erleuchtet. Er sah nach den Schatten, die das Mondlicht bildete, und die in wunderlichen Gestalten bald hervortraten, dann verschwanden.

So stand er lange wie gedankenvoll, und dachte doch nichts. Er hatte an diesem Tage so viel neue Eindrücke empfangen, daß er, wie berauscht, sich selbst aus den Augen verloren hatte. Allmählich verhallte es in seiner Seele, wie Töne in den Wellen der Luft immer in weiteren Kreisen verklingen, bis die Bebungen schwächer werden, und endlich alles ruhig ist. So ward es auch still in ihm, und das bekannte Bild seiner selbst trat wieder deutlich vor ihn. Doch konnte er lange keinen fröhlichen Gedanken fassen. Er war schwermütig, es war ihm traurig, daß er allein hier ein Fremdling sei, wo es ein Gesetz schien, einander anzugehören, daß er allein stehe, daß in der weiten Welt kein Wesen mit ihm verwandt, keines Menschen Existenz an die seinige geknüpft sei. Seine Traurigkeit führte ihn auf jede unangenehme Situation seines Lebens zurück; der Gesang einer Nachtigall, der aus der Ferne zu ihm herüberklang, löste vollends seine Seele in Wehmut auf, er gab sich ihr hin und bald fühlte er seine Tränen fließen.

»Es ist sonderbar! höchst sonderbar!« sagte er, als er ruhiger ward; »wie ich noch die Gesellschaft suchte, lernte ich sie verachten, und nun ich sie floh, nun ich sie haßte, nun muß sie mir wieder liebenswürdig erscheinen! Und hier in einem vornehmen Hause, wo ich sonst immer den Mittelpunkt aller Albernheit der menschlichen Einrichtungen sah: gerade hier muß ich mich wieder mit der Gesellschaft aussöhnen!... Es ist doch gut, daß mir noch diese schöne Erinnerung ward auf meine lange Wallfahrt! So liegt doch die Zukunft nicht mehr so bodenlos vor mir, so zeigt sich mir doch in weiter Entfernung ein Punkt, an dem die Hoffnung sich erhält! Und damit sei zufrieden, Florentin! Suche nicht festzuhalten, was bestimmt ist, dir vorüberzugehen. In der Entfernung, als Hintergrund, als endliches Ziel alles menschlichen Sehnens und Strebens, lächelt mir die Ruhe süß entgegen: so will ich dich fest im Auge behalten,[22] wenn der Strudel des Lebens mich wild ergreift, und ich in Not zu versinken drohe. Recht, guter Alter! jetzt würde sie mir schlecht bekommen; sie ist das Goldne Vließ, das mit Gefahren erkämpft werden muß.«

Er dachte nun an alle insbesondre, die er an dem Tage so zufällig gefunden, und suchte ins klare zu kommen, welchen Eindruck sie auf ihn gemacht hätten. Eduard war ihm in den wenigen Worten, die er ihn hatte sprechen hören, doch lieber geworden; das erkannte er besonders daran, weil er nicht mit dem Leichtsinn an Julianen denken konnte, der ihm sonst beim Anblick einer Schönen gewöhnlich war. Die Verhältnisse, in denen eine Frau stand, hielten ihn sonst nicht leicht von Entwürfen ab, wenn er nicht einen Freund dabei zu schonen hatte. – »Wie ein Frühlingsmorgen erschienst du mir, reizendes Geschöpf, und dein Anblick erfüllte meine Brust mit Ahndung und Freude. Nur Barbaren können gefühllos bleiben bei solcher Schönheit! Eure Verabredungen sollten mich nicht hindern,... auch nicht der unschuldige Bräutigam,... und am Ende?... Betrüge dich nicht Florentin!« –

Wünsche und Erinnerungen an den schönen Leichtsinn von ehemals erwachten ihn ihm, und dann erschien ihm wieder die Geliebte seines künftigen Freundes, und alle ihre Verhältnisse in einer Würde, die ihn zurückschreckte. Er hatte die Gitarre mit auf sein Zimmer genommen, und während seiner Betrachtungen und kleinen Monologen einige Griffe darauf getan; jetzt sang er folgende Worte dazu:


»Unter Myrtenzweigen

Beim Rieseln der Quelle,

Und der Nachtigall Lied,

Auf sanftem Rasen

Durchwirkt mit Blumen,

Im duftenden Hain,

Gebogen die Äste

Von goldener Frucht

Und silberner Blüte,

Wo ewig blau der Himmel,

Ewig lau die Lüfte

Dich umwehen –


Das Mädchen im leichten Gewand

Tanzet den bunten Reihen,

Bricht die labende Frucht,[23]

Schöpfet vom Quell.

Am Felsen ein Hüttchen

Mit weniger Habe,

Dort ruht es die Glieder

Auf reinlichem Lager.


Du blickst dein Verlangen

Ihr tief in das Herz,

Sie hat dich verstanden,

Und teilet die Glut.

Nichts wehrt dir die Küsse

Auf Lippen und Wangen;

Lilien und Rosen,

Blüten und Knospen,

Alles ist dein.


Leicht wie der Westwind,

Scherzend wie er,

Berührst du die Blumen,

Und fliehest vorüber,

Schonend der zarten.


Wer fürchtet da Neid?

Wen lockt der Ruhm?

Zürnet die Mutter?

Das Lächeln kann sie

Doch nicht verbergen;

Denn eigne süße Schuld

Ruft die Tochter

Zurück ihr ins Herz.


Sei still, mein Sinn! ein andres Land empfängt dich;

Es hebt sich das Gebirge zwischen dir

Und jenen Spielen. –


Ernst umgeben diese Mauern dich,

Gesetze ernst und ernste Sitten;

Gelübde, Priester, Zeugen,

Verein der Wappen,


Zahllose Dinge,

Auf ewig fremd dem Scherz;

Fremd auf ewig dir,[24]

Gehn der Liebe voran,

Legen die Freie

In ernste Bande.


So gefesselt geht sie dir vorüber.

Tröstend reicht sie dir die Hand,

Blickt mit Sehnsucht in die Ferne.

›Hier kann ich niemals dein Gefährte sein‹,

Ruft sie dir zu:

›Unter jenen Blumen

Hast du gespielt mit mir,

Auf und ab

Wandert' ich im Scherz mit dir.


Du sollst auch ernst

Mich wieder finden,

Ernst und treu;

Und wieder mein sein:

Nur laß mich frei!‹«


Quelle:
Dorothea Schlegel: Florentin. Berlin 1987, S. 22-25.
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