Achtes Kapitel

[59] Nach einer Pause fing Florentin wieder an:

»Wir waren ungefähr zwei Jahre auf der Akademie, unsre Übungen waren vollendet, wir sprachen schon von unsrer Rückreise und meinem weitern Fortkommen, als ganz unerwartet ein Brief an mich ankam, er war von meiner Schwester. Der Tag ihrer Einkleidung sei bestimmt, schrieb sie mir, und sehr nah, sie wolle also von mir und meinem Freunde schriftlich Abschied nehmen, und mich meines Versprechens, ihr zu helfen, entlassen, denn sie dürfe jetzt nicht mehr auf die Ausführung desselben hoffen. Sie sei nun entschlossen, sich drein zu ergeben; auch hoffe sie, es würde ihr gewiß am Ende gut gehen, denn seit dem Jahre, daß sie nun im Kloster gelebt, habe sie viel Liebe und Freundlichkeit von den Nonnen erfahren; sie habe auch schon einige gute Freundinnen, die sie sehr liebe, die sie wieder zärtlich lieben, und mit denen sie immer zusammen sei, das sei doch eine Freude, die sie bei der Mutter entbehre, wo sie ebenso streng[59] eingezogen leben müsse, als im Kloster, und dabei ganz allein, ohne eine Gespielin ihres Alters zu haben. Sie wünsche sehr von mir und Manfredi mündlich Abschied zu nehmen, wir sollten es doch möglich zu machen suchen, zurückzukommen, um bei der feierlichen Einkleidung zugegen zu sein, und sie in ihrem Schmuck zu sehen, denn sie würde ganz herrlich geschmückt sein, die Mutter hätte ihr für ihren Gehorsam einen reichen Anzug zur Zeremonie gegeben, und so viel Geld zu guten Werken, als sie nur immer verlangte. Ihre vorige Hofmeisterin habe diesen Brief zu bestellen übernommen, aus alter Liebe für ihre Pflegekinder, und wolle ihr auch meine Antwort überbringen, wenn ich ihr eine schreiben wollte.

Dies war ungefähr der Inhalt ihres Briefes. Die Unschuld aber, das Unbewußte, Einfältige, das aus jedem Wort hervorblickte, kann ich nicht ausdrücken. Wir wurden beide auf eine eigne Weise von der Beschränktheit gerührt, und Manfredi erinnerte sich dabei mit vieler Zärtlichkeit der süßen Gestalt und der frommen kleinen Miene. Ich beschloß auf der Stelle, sie zu retten, wenn Manfredi mir zur Ausführung helfen wollte. Dieser war nicht so bald zu bewegen, aber ich hatte ihm das Geständnis abgedrungen, daß ihr rührendes Bild, so wie er es durch die Planke des Gartens erblickt hatte, jetzt aufs neue mit großen Ansprüchen auf seine Hülfe vor ihn träte, daß er es eigentlich noch nie aus seiner Seele verloren habe, kurz daß er sie liebe, und gewiß glücklich sein würde, wenn er sich mit ihr verbinden dürfte. Überdem hatte ich ihr Hülfe versprochen, und sie schien sogar auf ihn gerechnet zu haben; er ward endlich überredet, daß unsre Unternehmung gerecht und ehrenvoll sei, und versprach mir seine Hülfe. Und nun ward ein allerliebster Plan verabredet, der so toll war, daß es uns alle drei, wenn er gelungen wäre, ins tiefste Elend gezogen hätte. Uns kam aber damals nichts leichter, nichts natürlicher vor.

Meiner Schwester schrieb ich in wenigen Worten: Ich wolle mein Versprechen mit Manfredis Hülfe erfüllen. Sie solle alles tun, was man von ihr verlangte, nur Sorge tragen, daß sie nicht die erste sei, die an dem Tage das Gelübde ablegte. Sie werde mich in dem Augenblick sehen, wenn sie zum Altar gehen müsse, dann solle sie sich gefaßt halten, mir auf meinen Wink zu folgen. Mit Manfredi hatte ich verabredet, gleich zurückzureisen, ohne es jemand wissen zu lassen, ohne uns zu zeigen, und den Tag der Einkleidung in einem entlegenen Hause vor dem Tor zu erwarten. Dann wollte ich ganz eingehüllt ins Kloster gehen, und mich unter das Gedränge mischen; wenn dann meine Schwester sich mit der Begleitung aller Angehörigen durch die[60] Menge drängte, um zum Altar zu gelangen, und alles aufmerksam auf die Himmelsbräute wäre, die vor ihr eingekleidet würden, dann sollte ich den Moment wahrnehmen, sie von den übrigen ab, und zur Tür zurückführen, sie dann schnell in einen Mantel verhüllen, den ich über meinen eigenen hängen wollte, und mit ihr durch den nächsten Gang in den Garten eilen. Da bei einer öffentlichen Feierlichkeit die Türen offen sind, oder doch nachlässig bewacht werden, so war von dieser Seite kein Hindernis zu befürchten. Manfredi mußte unterdessen eine Strickleiter an die Mauer befestigt haben, und uns draußen mit einer Chaise und raschen Pferden erwarten; auch müßte er eine Männerkleidung in Bereitschaft halten, die meine Schwester sogleich anlegen könnte, wenn wir uns außer der Stadt sähen, dann wollten wir, ohne zu rasten, nach Venedig reisen, dort würden sie sogleich getraut. Für die Einwilligung meiner Schwester war ich Bürge, ich war überzeugt, sie würde sich in ihrem neuen Lose besser und glücklicher finden, als in dem traurigen, wozu sie sich schon so geduldig gefügt hatte. Manfredi bleibt mit ihr in Venedig, ich reise zurück, versöhne den Marchese mit ihnen, der zu edel ist, um sie seinen Zorn lange empfinden zu lassen, besonders da diese Handlung seinen wahren Grundsätzen gar nicht entgegen sein kann; was er uns damals darüber gesagt, war gewiß nur, um uns von allen weiteren Plänen abzuhalten, sein Ernst konnte es aber nicht sein. Ist nur erst der Marchese versöhnt, so muß es ihm leicht werden, auch unsre Mutter zu beruhigen, besonders da es doch nun einmal geschehen, und nicht zu ändern sein wird. Dann hole ich sie wieder von Venedig ab, sie werden beide glücklich sein, und werden mir ihr Glück danken; ich habe dann redlich meine große Schuld gegen Manfredi abgetragen. Wir haben unser Leben gewagt für die gute Sache, wir haben den Priestern ein Schlachtopfer aus den Händen gewunden! Das Bewußtsein dieser großen Handlung wird uns auf ewig stärken und erheben, und unser Trost im Tode sein, wenn wir dem Versuche unterliegen sollten! –

Mit diesen hohen Worten, die wir wechselsweise einander zuriefen, und uns die Köpfe immer mehr erhitzten, eilten wir an die Ausführung des großen Werks. Von den unzähligen Schwierigkeiten fiel uns keine ein. Anfangs ging alles dem Plane gemäß. Wir reisten ab, kamen an, wohnten im strengsten Inkognito vor dem Tore in einem unbekannten Hause. Den Morgen nach unsrer Ankunft erzählte uns unsre Wirtin: es werde heute in dem Nonnenkloster ein großes Fest gefeiert, wo die ganze Stadt gewiß hinströmen würde, um es anzusehen, sie selbst wolle auch nicht zurückbleiben; sie bat uns daher, mit unsrer Abreise[61] zu eilen, wenn wir nicht etwa auch Zuschauer abgeben wollten. Es würden drei vornehme Fräulein heute ihr Gelübde ablegen, die alle drei schön und fromm wie die heiligen Engel wären, und es wohl verdienten, glückselige Bräute des Himmels zu werden. Das wäre ein sehr schönes und erbauliches Schauspiel, auch freute man sich schon, die heiligen Reden des vortrefflichen Priors zu hören und seinen Segen zu erhalten. Sie nannte den wohlbekannten Namen des Priors, und mein ganzer Eifer entbrannte aufs neue. Manfredi eilte, seine Aufträge zu besorgen, ich in die Kirche des Klosters.

Es war noch sehr früh, das Volk versammelte sich allmählich, mir ward die Zeit lang. Ich ging wieder hinaus, um mir den nächsten Gang nach dem Garten, und durch denselben nach der Mauer, recht zu merken. In der Tür begegnete mir meine alte Wärterin; ich wandte mich von ihr, um mich zu verbergen, sie hatte mich aber schon erkannt und guckte mich scharf an. ›Mein Jesus! sind Sie wahrhaftig hier; kommen Sie nur gleich mit mir zum Fräulein, sie erwartet Sie schon, folgen Sie mir nur. Ei, ei, Sie sind wirklich gekommen!‹ Ihre Anrede befremdete mich, ich suchte sie so vorsichtig als möglich auszuforschen, sie wußte aber nichts weiter, konnte mir auf keine Frage antworten, als daß sie mich zu meiner Schwester führen sollte, die mich sprechen müßte, ich folgte ihr also. Sie öffnete eine Tür, ich trat hinein, und sah meine Schwester in prächtigem Brautschmuck in den Armen meiner Mutter, die sie mit Schmeicheleien und Küssen bedeckte. Meine Schwester schrie laut auf, als sie mich gewahr ward, ihr Gesicht in beiden Händen bergend; dann kam sie auf mich zu:

›Vergib mir!‹ rief sie, und fiel mir um den Hals, ›vergib mir, Guter, und lebe wohl!‹ Sie wollte noch sprechen, meine Mutter verhinderte sie aber daran. ›Geh, meine fromme Tochter!‹ sagte sie, ›laß mich mit ihm allein.‹ Meine Schwester ging hinaus, ich war unbeweglich und stumm vor Erstaunen. Meine Mutter fing wieder an: ›Ich habe nur wenig Zeit, Florentin, mich mit dir zu unterhalten. Dein entsetzliches gottloses Vorhaben ist entdeckt! Sei ewig gepriesen von mir, gebenedeite Jungfrau, daß du das Herz meines Kindes gerührt hast, eh' es unwiderruflich verloren war! In dieser Nacht, die das arme Kind in der Angst ihres Herzens unruhig und schlaflos zubrachte, ward es ihr in einer wundervollen Erscheinung offenbar, daß sie auf schlimmem Wege sei, und im Begriff ihre Seele ewiger Verdammnis zu übergeben, und mit ihr zwei andre Seelen noch, die leider, ach! vielleicht nicht mehr zu retten sind. Ein Strahl der ewigen Gnade hat das geliebte Kind des Himmels erleuchtet, und sie fest im Entschluß zum[62] Guten gemacht. Diesen Morgen, als ich ihr den Brautschmuck anlegen half, und mich ihrer Schönheit im Herzen erfreute, hat sie mir euer Vorhaben entdeckt, und deinen Brief gezeigt. Florentin, ich will jetzt nichts davon erwähnen, wie sehr es mich beugte, noch steht es bei dir, mich in hoher Himmelsfreude wieder aufzurichten. Auf mein Geheiß hat das fromme Kind gebeichtet, und ihre Seele von aller Angst lösen lassen. Der Prior, dem sie die Beichte abgelegt, weiß nun alles; auch habe ich soeben eine Unterredung mit ihm deinetwegen gehabt. Du hast dich schwer vergangen, er kann und darf es nicht verhindern, daß du schwer dafür büßest. Ein einziges Mittel gibt es noch, dich mit dem Himmel zu versöhnen. Entsage der Welt, leb in Ruhe im Schoß der Kirche!‹ – ›Nimmer, nimmermehr, Mutter!‹ rief ich in höchster Bewegung. – ›Nein? durchaus nicht? Nun so fliehe, eile von hier weg, es ist das einzige, was ich für dich tun kann, wenn ich dich aufs schnellste entfliehen heiße, denn hier bist du jetzt keinen Augenblick in Sicherheit, mein Herz blutet für dich, glaub mir das! Hier, nimm diesen Beutel! Was er enthält, ist alles, was du jemals von mir zu erwarten hast. Dein weiteres Fortkommen bleibt dir selbst überlassen; du hast dir ein müh- und sorgenvolles Leben erwählt, nun mußt du es tragen. Du wirst kümmerlich darben müssen in der Welt; in der heiligen Zurückgezogenheit hättest du weltliche Not nie gekannt.‹ – ›Davon nichts mehr, Mutter! ich will gehen, gleich gehen! Nur ein Wort noch! Ist es möglich, daß Sie selbst meiner schwachen Schwester zureden konnten, mich dem Prior zu verraten?‹ – ›Lästerliche Worte! nennst du die Beichte Verrat? deine fromme Schwester schwach? Es galt ihre Ruhe auf dieser, ihre Seligkeit auf jener Welt. Sie ist mein Kind!‹ – ›Und ich nicht, Mutter? bin ich nicht Ihr Sohn?‹ –

Ich erzähle euch hier so zusammenhängend als möglich, was mit der äußersten Verwirrung gesprochen ward, indem eins dem andern immer in die Rede fiel, ich war besonders wegen dieser unerwarteten Wendung in großer Verwirrung. Zuletzt ward ich heftig, meine Worte fallen mir jetzt nicht wieder ein, aber sie mochten wohl eben nicht sanft sein; ich strömte über von Vorwürfen, daß sie ihren Sohn, ihren einzigen Sohn, im blinden Aberglauben den Pfaffen aufgeopfert hatte, und schonte sie vielleicht zu wenig. Sie ward aufgebracht und rief endlich in großer Hitze: ›Trotze nicht länger, Florentin, und höre etwas, wozu ich nicht wieder einen schicklichen Augenblick finden werde, denn wir werden uns nie wiedersehen! Ich bin nicht deine Mutter, und meine Tochter ist nicht deine Schwester!‹ – Das war freilich etwas Neues, ich war wie betäubt. ›Wo? wer? wer denn?‹ rief[63] ich. – ›Dazu ist jetzt nicht Zeit, auch nützt es dir nicht, es zu wissen, deine Eltern leben nicht mehr; sie waren mir teuer, darum warest auch du es mir. Es wird geläutet, ich muß jetzt fort. Halte dich nicht länger auf, Florentin, wenn man dich hier erblickt, so vermag ich dich nicht zu retten. Es ist der letzte Liebesdienst, den ich dir erweise: laß dich umarmen, mein Sohn! Ich bin zwar nicht deine Mutter, aber ich habe mütterliche Sorge für dich getragen, vergiß es niemals! Lebe wohl, Gott segne dich! Flieh! ich höre Stimmen im Nebenzimmer! Oder kehrst du noch um? wirfst du dich reuig in die Arme der heiligen Kirche?‹ – ›Leben Sie wohl!‹ rief ich ihr nach, als sie mich standhaft verneinen sah und sich mit einem Ausdruck von Schmerz und Unwillen ins Nebenzimmer wandte. Jetzt hörte ich viele Stimmen, unter allen hervor die mir so verhaßte Stimme des Priors. Betäubt eilte ich fort, im allgemeinen Getümmel kam ich unbemerkt wieder hinaus.

Manfredi erwartete mich, der Abrede gemäß, an der Gartenmauer; ich setzte mich in den Wagen, und ohne ihm weiter etwas zu sagen, mußte er wieder hinfahren, wo wir hergekommen waren.

Dies war das tragische Ende unsrer Heldenunternehmung! Begreifen Sie jetzt wohl, Juliane, wie leicht es ist, einen Narren aus mir zu machen? Manfredi sahe mich mit großen Augen an, und wartete mit Gelassenheit, bis der Strom von Ausrufungen und Schimpfreden, der sich reichlich von meinen Lippen ergoß, gemäßigter wurde. Endlich war ich ruhig genug geworden, ihm den Verlauf meiner Unternehmung zu erzählen. Er war nicht wenig erstaunt über die Veränderungen, Erklärungen und Verwicklungen, die diese hervorgebracht hatte. Die Schwäche meiner Schwester fiel ihm wenig auf, er gestand mir, er hätte gleich anfangs Hindernis von ihrer Seite befürchtet, und ihre Einwilligung würde ihn weit mehr gewundert haben. Er war mit mir überzeugt, daß sie einst ihr Gelübde bereuen, und dann diesen verlornen Moment gern mit ihrem Leben zurückrufen würde. Mein guter Manfredi trauerte über ihr Schicksal, und suchte sie gegen meine heftige Anklage in Schutz zu nehmen.

Von seiner Liebe zu ihr war nicht wieder die Rede zwischen uns. Entweder sie war in ihm ebenso schnell erloschen als aufgelodert, oder er drängte sie gewaltsam in sein Innres zurück, um den gemeinschaftlichen Angelegenheiten, die uns jetzt so nahe lagen, Raum zu lassen. Es ward beschlossen, daß Manfredi wieder zurück auf die Akademie gehen müßte; von dort sollte er an seinen Vater schreiben, ihm alles entdecken, und ihn um Rat fragen, ob er es wagen dürfte, in seine Vaterstadt zurückzureisen, oder wenn der Anteil, den er an meinem[64] Unternehmen genommen, bekannt geworden, und es gefährlich für ihn wäre, so sollte er ihn um die Erlaubnis bitten, mir folgen zu dürfen, ich hatte beschlossen, nach Venedig zu reisen. Dürfte er aber zu seinem Vater reisen, so sollte ich in Venedig Nachricht von ihm erwarten, er würde alsdann dort alles anwenden, die bösen Folgen unsers Unternehmens zu unterdrücken, dann wollten wir uns auf irgendeine Weise wieder zusammen treffen. Manfredi versprach mir auch vor allen Dingen keine Mühe und keine Nachforschung zu sparen, um etwas über meine Geburt und meine Eltern zu erfahren: wir hofften, der Marchese selbst würde sich dafür interessieren, und uns eine Aufklärung dieser seltsamen Begebenheit verschaffen. Wie die Kinder beschäftigte uns die Dunkelheit über mein vergangnes Schicksal mehr, als die Sorge für die Zukunft; ein sonderbares Rätsel war es allerdings, daß fremde Menschen sich eine solche Gewalt über mich hatten anmaßen wollen, und dann mich wieder mit so vieler Sorgfalt behandelt hatten. Die Nacht hindurch reisten wir, dann trennten uns unsre verschiedenen Wege. Den Morgen schieden wir unbekümmert und mit der Zuversicht, uns bald wiederzusehen, um uns dann gewiß nie wieder zu trennen.«

Quelle:
Dorothea Schlegel: Florentin. Berlin 1987, S. 59-65.
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