6. Christus im Garten

[447] Bei finstrer Nacht, zur ersten Wacht,

Ein' Stimm' begunt' zu klagen;

Ich nahm in Acht, was sie da sagt,

Welch Leid sie mußte tragen.


Ein göttlich Blut, gebeugt im Mut,

Verlassen von Gefährten;

In großer Not, rang mit dem Tod,

Im Garten lag zur Erden.


Es war der liebe Gottes Sohn,

Sein Haupt gesenkt in Armen;

Viel weiß' und bleicher als der Mond,

Wen möcht' es nicht erbarmen!


Ach Vater, liebster Vater mein,

Muß ich den Kelch dann trinken?

Und mag es dann nicht anders sein,

Laß meine Seel' nicht sinken!


Geliebtes Kind, leer ihn geschwind,

Hört er den Vater sagen;

Sei stark gesinnt, bald überwindt,

Du wirst das Leiden tragen.


Ach Vater mein, muß es so sein,

So will ich's mutvoll wagen,

Will trinken rein, den Kelch allein,

Dir kann ich's nicht versagen.[447]


Doch Sinn und Mut, erschrecken tut.

Soll ich mein Leben lassen?

O bittrer Tod! dein' Angst und Not

Ist groß ohn' alle Maßen.


O Jungfrau zart, die mich gebar,

Sollst du mein' Leiden wissen?

Die ach so hart, fürwahr, fürwahr,

Das Herz dir wär' zerrissen.


Ach Mutter mein, siehst du die Pein,

Wird dir das Herz zerspringen;

Die herbe Pein, mich nehmen ein,

Mit Tod und Marter ringen.


Ade, Ade, zu guter Nacht,

Maria, Mutter milde;

Ist niemand da, der mit mir wacht,

In dieser Wüsten wilde?


Ein Kreuz mir vor den Augen schwebt,

O weh der bittern Schmerzen!

Dran soll ich morgen sein erhebt,

Tief schmerzt es mich im Herzen.


Der schöne Mond will untergehn,

Für Leid kann er nicht scheinen;

Die Sternlein stehn, ohn' Flimmern sehn,

Mit mir sie wollen weinen.


Kein Vogelsang, kein Freudenklang,

Man höret in den Lüften;

Die wilden Tier', trauren mit mir,

In Steinen und in Klüften.


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 447-448.
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