Vorbemerkungen

[323] Idee eine Autobiographie zu schreiben zuerst lebhaft 1901 in Vahrn während des Aufenthaltes mit Olga und Liesl. Ich schrieb damals an den »Lebendigen Stunden«.

Als 18jähriger plante ich für mein 50. Jahr eine Naturphilosophie, davon kam ich bald ab, wie mir alles Theoretisieren über das Aphoristische hinaus immer unwichtiger wurde. Mir kam es auf das Gestalten an, ich wollte diesem Ziel näher gekommen sein als es mir gelang.


Nicht nur Wunsch, auch tiefes Bedürfnis in diesen Blättern wahr zu sein.

Schwierigkeiten. Vor allem Gedächtnisfehler.

Erinnerungstäuschungen.

Stilistische Gründe.

Ob irgendeine Sache am 1. März oder 15. August vorgegangen ist, kann unter Umständen völlig gleichgültig sein, man opfert die absolute chronologische Genauigkeit der Klarheit der Darstellung.

Es gehört nicht zur Wahrheit im höheren Sinn, über alles Nebensächliche, insbesondere rein Physische Bericht zu erstatten, doch gibt es Fälle, wo das Verschweigen geradezu Fälschung wäre.

Auch von manchen Erlebnissen meiner Freunde wird die Rede sein, nicht nur, wenn solche Erlebnisse Einfluß auf meine Entwicklung genommen haben, sondern wenn sie zur Charakterisierung der Leute dienen, mit denen ich verkehrt habe. Manchmal auch nur, weil mir die Geschichten an sich interessant scheinen oder zu einer gewissen Periode meiner Existenz[323] interessant schienen, was ja wieder zur eigenen Charakteristik beiträgt.


In meiner Absicht liegt es selbstverständlich, meine Erinnerungen völlig wahrheitsgetreu aufzuzeichnen, soweit die Wahrheit der Erinnerungen überhaupt in unserer Macht liegt. Ich weiß nicht, ob die Neigung, wahr gegen mich selbst zu sein, von Anfang an in mir lag. Sicher aber ist, daß sie sich im Laufe der Jahre gesteigert hat, ja, daß mir diese Neigung heute die lebhafteste und beständigste Regung meines Innern zu sein scheint.

Innerhalb der Geständnisse, die man in seinen Denkwürdigkeiten zu machen pflegt, gibt es aber zweierlei Arten, wahr zu sein. Die eine: was man mitteilt völlig rückhaltlos und präzis auszusprechen; die andere: überhaupt alles mitzuteilen, dessen man sich zu erinnern vermag. Es ist fraglich, ob dies letztere überhaupt möglich ist. Ferner, ob es nützlich, und endlich, ob eine solche rückhaltlose Aufrichtigkeit nicht eigentlich nur eine neue Art von Eitelkeit vorzustellen anfängt. Keineswegs gehört ein besonderer Mut dazu, alle häßlichen Wallungen oder bösen Taten niederzuschreiben, deren man sich schuldig weiß, wenn man überzeugt ist, daß vor dem Tode des Schreibers keiner von diesen Aufzeichnungen Kenntnis erhalten wird. Ich frage mich auch, ob mein Wahrheitsbedürfnis nicht zum Teil aus einer Eigenschaft entspringt, die im pathologischen Gefühl der Zwangsvorstellungen wurzeln könnte, in der Neigung zu einer gewissen äußerlichen Pedanterie, die sich im Lauf der Jahre vielleicht als ein Corrigens innerer Schlamperei immer entschiedener entwickelt hat. In Epochen oder Stunden böser innerer Verwirrung habe ich mir dadurch zuweilen eine innere Erleichterung verschafft, indem ich die tatsächlichen oder auch nur vermuteten Gründe meiner Seelenstimmung möglichst schematisch aufnotierte. Wie mir auch das Ordnen von Briefen, Schriften, Ausschnitten etc. öfters die bequeme Illusion einer noch dazu verantwortungslosen Tätigkeit bereitete, wenn ich zu nichts anderem aufgelegt war. Daß aber auch dieser scheinbar harmlose Trieb gelegentlich ins Krankhafte ausartete, ersehe ich daraus, daß ich gewisse Tagebücher aus meiner Gymnasialzeit aus keinem anderen Grunde vertilgt habe, als weil sie[324] dem Format nach durchaus nicht zu den Blättern passen wollten, die ich von einem gewissen Moment an für alle meine Aufzeichnungen gewählt hatte.

Wie nun immer sich diese Erinnerungen weiter gestalten sollten, ob ich von allen Niederträchtigkeiten berichten werde, deren ich mich schuldig weiß, oder nur von denjenigen, die ich auf irgendeine Weise zu beschönigen trachten kann, ich werde kein wissentlich unwahres Wort niederschreiben.

Es ist schwer zu sagen, ob in meinen Tagebüchern solche wissentliche Unwahrheiten stehen. Gewiß ist es, daß ich bis zu einer gewissen Epoche meines Lebens häufig bestrebt war, mich zu stilisieren. Nicht ungestraft habe ich meine Kindheit und meine erste Jünglingszeit in einer Atmosphäre verbracht, die durch den sogenannten Liberalismus der 60er und 70er Jahre bestimmt war. Der eigentliche Grundirrtum dieser Weltanschauung scheint mir darin bestanden zu haben, daß gewisse ideelle Werte von vornherein als fix und unbestreitbar angenommen wurden, daß in den jungen Leuten der falsche Glaube erweckt wurde, sie hätten irgendwelchen klar gesetzten Zielen auf einem vorbestimmten Wege zuzustreben, um dann ohneweiters ihr Haus und ihre Welt auf sicherem Grunde aufbauen zu können. Man glaubte damals zu wissen, was das Wahre, Gute und Schöne war, und das ganze Leben lag in großartiger Einfachheit da. So war mir auch in jenen Tagen der Gedanke noch fern, daß jeder von uns gewissermaßen in jedem Augenblick in einer neuen Welt lebt und daß, wie Gott die Welt, sich jeder Mensch sozusagen jeden Tag sein Haus von neuem bauen muß.

Was aber hätten alle individuellen Erfahrungen für einen Sinn, wenn jeder notwendig zu demselben Resultat gelangen müßte. Keinesfalls machen uns Erfahrungen insoferne reicher, als sie uns die Fähigkeiten verleihen, in irgendeinem Fall ein aprioristisches Urteil zu fällen. Sie vermögen nur eines, die Intensität unserer Urteile für späterhin zu steigern.

1901


Ich bin mir bewußt, kein Künstler ersten Ranges zu sein. Wenn ich trotzdem manchmal mit unverhältnismäßiger Ausführlichkeit auf frühere unreife Arbeiten eingehe, so bedeutet das keineswegs eine falsche Einschätzung dieser Arbeiten oder meines künstlerischen Schaffens im allgemeinen.[325]

Aber mein Schaffen ist nun einmal das wesentlichste Element meines Daseins und wenn auch die Geschichte mancher meiner Werke nicht in die Literaturgeschichte gehören mag, zur Geschichte meines Lebens gehört sie gewiß, und darauf kommt es hier an.

Freunde, allzugern bereit, die Argumente der Feinde zu den ihrigen zu machen.

Auch wenn sie mich im Recht wußten, fielen sie gern von mir ab, ließen mich gern wenigstens für eine Weile im Stich.

Eklatantestes Beispiel, gerade weil hier der Wahrhaftigste und Klügste in Frage kommt: Als ich von meiner Vorladung durch das Ehrengericht anläßlich »Leutnant Gustl« erzähle und hinzusetze, daß ich seinerzeit vergessen, meine Charge zurückzulegen, also wohl zum Erscheinen verpflichtet sei, läßt dieser Freund ein überlegenes, fast schadenfrohes »Sehen Sie« hören, als wäre es meine Schuld, als hätte er mich gewarnt.


Erziehung charakteristisch für liberales Regime: Guter Wille, Neigung zur Pose, Gerührtheit über sich selbst, Hochachtung vor allem Äußerlichen, kein eigentlicher Sinn für Wahrheit, kein rechtes Verständnis für Diskretion. Minderwertige Eigenschaften werden als Tugenden hingestellt.

Quelle:
Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Wien, München, Zürich 1968, S. 323-326.
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