Meine Drüsenschwellung war während meines Meraner Aufenthaltes erheblich zurückgegangen, aber keineswegs geschwunden; jedenfalls legte mein Vater, der schon meine Erkrankung so ungern gesehen, Wert darauf, mich an seinem Geburtstag zum 11. April wieder zu Hause zu haben, und seine Vorhersage, daß der Rückbildungsprozeß der Drüse auch in Wien fortschreiten werde, traf ein. Immerhin blieb ein Rest durch viele Jahre tastbar, der manche meiner Kollegen, mich aber nicht im geringsten mehr bedenklich machte.
Sofort nach meiner Rückkehr trat ich meinen Spitalsdienst wieder an, doch tat ich in meinem medizinischen Beruf auch weiterhin eben nur das Nötigste. Eine bisher völlig ungewohnte Sehnsucht nach Landleben, nach Umherstreifen im Grünen hatte mich überkommen, mehr als je zuvor empfand ich mich als Künstlernatur, und wenn ich mir auch nicht verhehlte, daß Leichtsinn, Unbeständigkeit, Lebesucht, unter der ich keineswegs eine banale Genußsucht verstanden haben wollte, und vor allem die Gabe, alles Künstlerische um mich herum tief und mit Lust aufzunehmen, stärker in mir entwickelt waren als das eigentliche Talent – ich bekam für eine Weile meiner Umgebung, insbesondere meinen tüchtigen Kollegen gegenüber, ein so zwingendes Gefühl der Überlegenheit, daß es mich auch den wiederholten Tadel meines Vaters, der mir nicht mit Unrecht Mangel an wissenschaftlichem Ernst vorwarf, minder schmerzlich empfinden ließ. Nach wie vor blieb ich dem Studium der Medizin dankbar dafür, daß es mir den Blick geschärft und die Anschauung geklärt hatte; – daß ich sie aber als Beruf gewählt, sah ich vor allem mit Rücksicht auf meine hypochondrischen Anlagen als eine arge und leider nicht wiedergutzumachende Dummheit an. Über die eigentliche Richtung meines Wesens glaubte ich nun klar zu sein; das Streben, das schon die Seele[227] des Achtzehnjährigen angerührt, durchdrang sie nun bewußter und entschiedener; – und wenn mir als verblassendes Symbol jener Knabenzeit das blonde Fännchen vorschwebte, so stand mir nun als das meiner Jünglingsjahre die wunderbare Frau vor Augen, mit der ich Arm in Arm an einem unvergeßlichen Frühlingsabend von Sankt Valentin aus gegen Meran heruntergewandert war.
Sie endlich leibhaftig wiederzusehen, – dieser Gedanke, diese Hoffnung, vorläufig durch keinen Brief, kein sonstiges Zeichen der Verständigung, nur durch das Vertrauen auf einen glücklichen Zufall aufrechterhalten, bildete in diesen Wochen meinen eigentlichen Lebensinhalt. Und ein Frühlingsfest, das Ende Mai im Prater stattfand, brachte mir endlich eine erste bescheidene Erfüllung. Mit Eltern und Geschwistern nahm ich am Blumenkorso teil, da begegneten wir im Gedränge der Wagen demjenigen, in dem Frau Olga mit ihrer jüngeren Schwester Gabriele saß. Sie hatte mich nicht einmal bemerkt, doch da Blumen ohne Unterlaß wahl- und ziellos von Gefährt zu Gefährt flogen, tauschten auch wir, sie unbewußt, ich bewußt, auf diese Art einen Gruß. Mich aber hielt es nicht länger bei den Meinen, ich stieg aus und ging zu Fuß dem Strom der Wagen entgegen, in der Richtung, von wo der ihre wiederkommen mußte. Und schon erblicke ich sie, – bleibe am Rand des Weges stehen; – da faßt mich eine plötzliche Angst vor dem ersten Wiedersehen nach den himmlischen Meraner Tagen, und ich senke den Blick zu Boden. Gabriele aber macht ihre Schwester auf mich aufmerksam, Olga wendet sich nach mir um, dunkel errötend, hastig winkt sie mir, ich eile in ihre Nähe; über eine Wagenreihe, die uns trennt, werfe ich ihr eine Blume in den Schoß, und mir zu Füßen, aus ihren Händen, flattert eine gelbe Rose. Wir danken einander wortlos, ohne Lächeln, mit dem ganzen heiligen Ernst einer jungen Liebe, ich folge, so lange es irgend angeht, ihrem Wagen, bis er mir im Gewühl entschwindet. Die gelbe Rose aber bewahrte ich bei ihren Briefen auf, bis sie zu Staub zerfiel, ein Schicksal, das der Spenderin noch um vieles früher bestimmt sein sollte.
Am nächsten Tag, wie ich gehofft und erwartet, begegnete ich ihr auf dem Rennplatz. Sie befand sich in Gesellschaft ihrer Schwester Gabriele, der ich bei dieser Gelegenheit vorgestellt wurde, und man tauschte freundliche, etwas befangene Worte.[228] Ihr Vater, untersetzt, martialisch und mit seinem weißen Schnurrbart nicht wie ein Gastwirt, sondern eher wie ein pensionierter General aussehend, trat herzu, ich wurde in die Loge eingeladen, nahm Platz hinter Olga, verfolgte die Rennen wohl zum erstenmal in meinem Leben ohne sonderliche Anteilnahme, redete nicht viel und gewiß nichts Kluges; Olga erwähnte einige Bücher, die ich ihr in Meran empfohlen und die sie seither gelesen hatte. Plötzlich, ohne daß ich recht zum Bewußtsein der Seligkeit gekommen war, die ich – wie es in einem meiner blasierten Gedichte aus früherer Zeit hieß – »hätte empfinden können«, war der »Zauber«, so lautete eines ihrer Lieblingsworte, zu Ende, man verließ die Loge, ich begleitete den Vater und seine zwei Töchter zum Wagen, der zu den berühmtesten Wiener »Zeugeln« gehörte, und hatte nur noch Gelegenheit, ein paar flüchtige Worte mit Olga zu wechseln. »Wieder ein neues Kapitel«, sagte sie, auf unsere scherzhafte Meraner Gewohnheit anspielend, nach der wir unser beginnendes Verhältnis novellistisch einzuteilen liebten. – »Rennen.« Ich darauf: »Und wann werden wir das rekapitulieren?« – Sie: »In Reichenau.« – Ich: »Sie nehmen also Ihr Verbot zurück, gnädige Frau, nach dem ich erst im Herbst hätte hinauskommen dürfen?« Sie nickte zustimmend und drückte innig meine Hand zum Abschied. Der Wagen fuhr davon, ich sah ihm nach, so lange ich vermochte, halb toll vor Verliebtheit.
Schon eine Woche darauf, am Pfingstsonntag, fand ich mich im Thalhof ein, und ohne mich zu melden, nahm ich im Speisesaal Platz. Olga erschien mit dem gleichen Hut, den sie in Meran getragen. Sie trat an meinen Tisch, ich erhob mich. »Ich wußte, daß Sie heute kommen werden«, sagte sie. Ein paar beiläufige Worte gingen hin und her, dann mußte Frau Olga andere Gäste begrüßen, und ich beendete mein Mittagmahl mit der berühmten Torte, die nun gewissermaßen offiziell den Namen der koketten Witwe vom vorigen Jahr trug. Am Nachmittag durfte ich der Wirtin in ihrem eigenen Heim einen Besuch abstatten, wo ich auch Verwandte antraf, die die Feiertage in Reichenau verbrachten und als gute Bekannte in den Privatgemächern der Wirtin-Hausfrau Karten spielten: meinen stets zum Hazardieren geneigten Onkel Edmund, seine dicke dumme Frau, deren zierliche, nicht unhübsche Schwester Dora mit ihrem Mann. Olgas Gatte, den sie, wie um ihn in eine andere, höhere Sphäre[229] zu heben, ein für allemal Charles nannte, welcher Name ihm, wenn man sich auch ein wenig darüber lustig machte, allgemein verblieben war, ließ sich nicht blicken; aber man fühlte nicht nur, daß er nicht da war, sondern auch, daß er nicht da sein wollte, da er das gesellschaftliche Gebaren seiner Frau aus mannigfachen Gründen durchaus mißbilligte. So waren wir, Olga und ich, da sich die anderen im Kartenspiel nicht stören ließen, ziemlich für uns. Aber es wollte uns doch beiden nicht recht wohl und sicher zumute werden. Erst als sie aus der Fülle von Photographien, die auf Tellern herumlagen, ein Bild hervorsuchte, es mir reichte und ich unser Sankt Valentin erkannte, da grüßten sich unsere Blicke im aufschimmernden Glänze der Erinnerung. Nach dem Abendessen, der alten Hausordnung gemäß, geradeso wie im Sommer vorher, promenierte man vor der Veranda auf und ab; ich meist an Olgas Seite; doch nun war auch der Mann zur Stelle oder vielmehr, was stets ein Gefühl der Unruhe verursachte, er war manchmal da, verschwand dann im Saal, in der Küche, im Keller, vielleicht auch nur im Schatten der Bäume, kam plötzlich wieder zum Vorschein, ließ sich für ein paar Sekunden oder Minuten ins Gespräch ziehen und war wieder davon. Nur in einer pantomimischen Handlung taten wir einander kund, daß sich seit Meran in unseren Gefühlen nichts geändert: ich reichte ihr jene Pelzquaste, die sie mir zum Andenken gelassen, sie weihte sie mit einem neuen Kuß, den ich mir geschwind von derselben Stelle wieder nahm.
Am nächsten Vormittag blieb sie unsichtbar; erst nach dem Essen, an der Tür des Speisesaals, erschien sie flüchtig, wir waren nicht allein, ein junges Mädchen namens Clara, von deren Existenz ich keine Ahnung mehr hätte, fände ich ihren Namen in meinem Tagebuch nicht verzeichnet, mischte sich in unser Gespräch; auch sie hatte in Meran ein Herzensabenteuer erlebt, und so schwebten allerlei Anspielungen durch unser Geplauder, die jeder verstehen konnte, wie er wollte. Als Olga wieder verschwunden war, gesellte sich ein junger Studiosus medicinae zu mir, Richard von Weiss, den ich vom vorigen Jahr her kannte. Ahnungslos, in der Quatsch- und Klatschlust junger und alter Leute, begann er sofort von der interessanten Hausfrau zu reden; zu meiner Qual auch von ihr zu erzählen, und weihte mich vor allem in die Geschichte ihrer Jugendliebe zu Richard[230] Engländer ein. Das war immerhin noch zu ertragen, da diese Liebe ja für mich kein Geheimnis war und ich sie aus Olgas Mund selbst erfahren hatte. Nun aber tauchte noch eine andere Gestalt aus Olgas Vergangenheit empor, viel bedenklicher als jene des Neurasthenikers und Poeten, der sich nach einem platonischen Kuß auf die Hand der Angebeteten für immer aus ihrem Leben davongestohlen hatte (wenn er auch später wieder darin oder wenigstens im Thalhof oft genug gastlich aufgenommen wurde); – dieser andere aber war ein Lebemann, ein Kavalleriefreiwilliger, ein Schuldenmacher, ein Elegant, ein Duellant, wenn er auch vielleicht noch nie ein Duell gehabt hatte, – ein Jäger, der sogar mit Olga gemeinschaftlich gejagt hatte auf den steilen Wänden des Schneebergs und der Rax, schlank, hager, schneidig, mit keiner Wimper zuckend, zwar ein Jude, aber die täuschend geratene Kopie eines österreichischen Aristokraten, sich von einem solchen nur durch Verstand und Witz vorteilhaft unterscheidend, ein junger Herr, den ich kannte, mit dem ich sogar entfernt verwandt war, Rudi Pick mit einem Wort, des berühmten Gustav, der ein Vetter meiner Mutter war, jüngerer Sohn. Und nicht nur Richard Engländer, den Dichter, sondern, so erzählte mir dieser fürchterliche Herr von Weiss, auch sein Widerspiel, den Mann der Tat, Rudi Pick, hatte Olga geliebt, und auch dieses Jünglings weitere Besuche im Thalhof hatte sich der Gatte verbeten und wahrscheinlich mit mehr Recht als die des Dichters; und was das Schlimmste war, – von diesem Menschen hatte Olga kein Sterbenswörtchen zu mir gesprochen. War es nicht in diesem Augenblick, da ein schwatzhafter Mediziner, mit dem ich vorher kaum je ausführlich gesprochen, nur um sich und mir eine Nachmittagsstunde zu verkürzen, von den zwei Erlebnissen der Thalhofwirtin berichtete, ohne zu ahnen, daß ich wünschte, ihr drittes, vielmehr ihr zweites, nein, eigentlich ihr erstes zu bedeuten, – war es nicht damals, daß in schimmernden Zukunftsnebeln Beatricens Bild zum erstenmal in meinen Sinnen aufschwebte, um deren Seele ewig vergeblich und um deren holden Leib nicht ebenso erfolglos der Dichter und der Herzog den großen sinnlosen Kampf immer von neuem zu bestehen haben? Und wenn ich auch dem Dichter, von dem damals noch keiner wußte, daß er einer war, den Rang abgelaufen hatte oder vielmehr an seine Stelle getreten war, – war ich nicht jedenfalls bestimmt, dem Herzog[231] zu unterliegen, der, wenn er auch in seiner Inkarnation als Kavalleriefreiwilliger dem Gatten, nicht mir, vorläufig das Feld hatte räumen müssen, – doch früher oder später in einer anderen Erscheinung wiederauftauchen würde? Denn daß Olgas Neigungen zwischen Geistigem und Sinnlichem, Künstlerischem und Mondänem, Romantischem und Sportlichem in beunruhigender Weise hin und her schwankten, daß diese feine, ja beinahe edle Frau den Lockungen des Snobismus zu widerstehen weder Kraft noch Lust besaß, darüber durfte ich mich keiner Täuschung hingeben; und auch die neugeweihte Pelzquaste, die ich krampfhaft zwischen den Fingern preßte, vermochte mir das verlorene Gefühl der Sicherheit nicht wiederzuverleihen. Abends aber, als ich mit Olga, Dora und Fräulein Clara zusammensaß und die Unterhaltung sich leichter, vieldeutiger, anspielungsreicher emporschwang und die kupplerische Sorgfalt, mit der Frauen jede im Entstehen begriffne Liebesbeziehung zu hegen und einzuhüllen lieben, auch die unsre zu umschmeicheln begann, ward mir wieder wohler und hoffnungsvoller zumute. Nun war jedenfalls ich und kein andrer da; – Olgas Blicke, was immer in dieser dunkeln Augen Tiefe für Erinnerungen und Möglichkeiten träumen mochten, – nun sanken sie mit dem Ausdruck völligen Hingegebenseins in die meinen. Daß der Gatte immer in unserer Nähe umherschlich, schüchterte mich keineswegs ein, sondern erhöhte meine Stimmung, und ich fühlte mit Befriedigung, daß ich, wenn schon nicht einen glücklichen, so doch einen guten Abend hatte. – Plötzlich aber naht irgendein dienstbarer Geist. Charles läßt seine Gattin zu sich bescheiden, sie geht, ich sehe sie mit ihm verschwinden, und sie kommt im Laufe des Abends nicht mehr zum Vorschein. Die Ketten rasseln wieder, dachte ich, er ist doch der Stärkere, und mit meiner guten Laune war es vorbei. Am nächsten Tag – ach, ich hatte es nicht anders erwartet – war Frau Olga nicht zu sehen. Man hörte, sie sei leidend, und vermutete, daß wieder einmal eine häusliche Szene vorgefallen sei. Ich rührte mich aus der Nähe des Hauses nicht fort, um nicht am Ende die Minute zu versäumen, in der Olga doch vielleicht sichtbar werden würde. Aber nur Charles hielt sich fast ununterbrochen in meiner Sehweite, als Wächter seines Hauses und seiner Ehre. Zeitweise streifte er mich mit einem bösen Blick, richtete aber, obwohl reichlich Gelegenheit dazu gewesen wäre,[232] kein einziges Mal das Wort an mich. Nachmittags, ohne Olga in Küche oder Saal oder an ihrem Fenster erspäht zu haben, tief bedrückt, reiste ich nach Wien zurück.
Erst fünf Wochen später, am achtzehnten Juli, wiederholte ich meinen Besuch. In den wenigen ungestörten und unbelauschten Minuten, die uns vergönnt waren, mahnte mich Olga zur Vorsicht, da wir von allen Seiten beobachtet seien und, wie sie sagte, »alle es wüßten«. Der bäuerisch-frostige Gruß des Gatten ließ an Verständlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die Ahnungsvollste aber von allen schien Frau Dora Kohnberger zu sein, die mich mit den Worten begrüßt hatte: »Wir haben Sie erwartet«, und die damals wie später kein größeres Vergnügen kannte, als Liebesangelegenheiten, nicht etwa klatschhaft-böswillig, sondern sachlich und wohlwollend zu erforschen, zu bereden und, wo es anging, zu protegieren. Manchmal hätte man glauben können, daß sich in solchen Gesprächen, die sie mit Feinheit und Witz zu führen verstand, alles, was ihr Leben an Lebens- und Liebestrieben in sich barg, erschöpfte. Immerhin glaubten viele, daß mein Onkel Edmund, der große Verteidiger, dem graziösen, rothaarigen Geschöpf mit der etwas gespaltenen Oberlippe, die ihrem lebhaften Gesichtchen einen Reiz mehr verlieh, zur Zeit, da es als Mädchen bei ihm im Hause gewohnt, mehr als schwägerlich zugetan gewesen war. Sie selbst aber sprach gern von ihrer Tugendhaftigkeit, nicht so sehr mit Stolz als mit Verwunderung. Denn daß sie keine Prinzipien hatte, leugnete sie keineswegs; und unter den Herren, mit denen sie ihre zuweilen höchst equivoken Gespräche führte, fehlte es nicht an gewiegten Herzensbrechern und Verführern, denen wohl zuzumuten war, daß sie eine theoretische Unterhaltung über Liebesabenteuer und verwandte Themen im geeigneten Moment auch ins Praktische zu steigern verstanden hätten. Jedenfalls aber blieb Frau Dora – wenn sie es überhaupt jemals wurde – Liebende und Geliebte nur im Nebenfach, und ihrer wahren Anlage und Neigung nach war sie Ratgeberin und Vertraute, sogar die ihres humoristisch-phlegmatischen Ehegatten, der sich durch den ebenso unwahrscheinlichen als unverdienten Namen Innocenz auszeichnete und dem sie einmal, wie sie mir nicht ohne Genugtuung erzählte, ihre Pflege anläßlich einer Erkrankung angedeihen ließ, die Ehegatten vor ihren Frauen sonst lieber geheimhalten.[233]
Als ich endlich Anfang August in Reichenau zu längerem, nur immer wieder für Tage unterbrochenem Aufenthalt eintraf, fand ich Dora nicht nur als Ahnende, sondern, wie mir bald klar wurde, als Eingeweihte wieder. Ich hatte im Laufe der ersten Tage eben nur Gelegenheit gehabt, in geflüsterten Worten Olga meiner Liebe zu versichern und von ihr die gleiche Versicherung zu empfangen. Die Saison war auf ihrer Höhe angelangt, Olga nicht nur als Wirtin, sondern auch als Hausfrau vielfach in Anspruch genommen, denn immer gab es eine Anzahl von Gästen im Thalhof, zu denen sie auch in gesellschaftlichen und fast freundschaftlichen Beziehungen stand. Überdies hatte sie neue Gründe, sich gerade mit mir nicht auffallend zu beschäftigen, worüber mir Dora nähere Mitteilungen machte, während ich mit ihr abends vor dem Hotel auf und ab spazierte, – Arm in Arm, ein – freilich etwas schwächlicher – Versuch, der zur Irreführung des Gatten unternommen wurde. Olga hatte nämlich die Torheit begangen, Charles von allen ihren Meraner Bekanntschaften zu erzählen, nur von meiner Person keine oder allzu beiläufige Erwähnung zu tun, so wie sie wieder mir gerade ihre Beziehung zu Rudi Pick verschwiegen hatte. Nun hatte der Gatte von irgend jemandem erfahren, daß wir in Meran, natürlich mit noch anderen Leuten, aber immerhin zusammen bei einer Zigeunermusik gewesen waren (von der ich in meiner Erinnerung nichts wiederfinde). Er hatte ihrem Vater geschrieben, den er in solchen ehelichen Zwistigkeiten gern zu Hilfe rief; der gestrenge Mann war im Thalhof erschienen, und es war ein furchtbarer Skandal erfolgt, der in einer doppelten Drohung ausklang: der des Gatten, er würde die Frau aus dem Hause jagen, der des Vaters, daß die Tochter in einem solchen Falle auch in dem seinen keine Heimstatt finden würde. Es konnte mir immerhin schmeichelhaft sein, daß Olga unter solchen Umständen sich meine weiteren Besuche nicht lieber verbeten hatte, aber um so verzeihlicher durfte mir ihre Vorsicht erscheinen; und es mußte meinem Zärtlichkeitsbedürfnis genügen, als wir nachher im Klavierzimmer dem Gesang einer jungen Dame, einer Cousine Richard Engländers, lauschten, daß Olga mir gegenübersaß und mir still und unverwandt ins Auge sah. Und noch näher waren wir uns, – und sie fühlte, daß ich ihr auf diese Weise Leidenschaftlicheres als in Worten sagen konnte, – als ich mich dann selbst an den[234] Flügel setzte und, in meiner mehr stimmungs- als kunstvollen Art, zu phantasieren anfing, – vor allen anderen und doch nur für sie allein.
Am nächsten Morgen fuhr ich wieder nach Wien. Denn mein offizieller Urlaub hatte noch nicht begonnen, und am ersten Juli war ich zum provisorischen Sekundararzt auf der Abteilung Standthartner ernannt worden. Am gleichen Abend aber machte ich einen Besuch in Baden, wo die Familie Adler zur Sommerfrische wohnte und eine der zwölf Töchter, Gisela, mit der ich mich längst gut verstanden, die Frage an mich richtete, warum ich so kühl gegen sie geworden sei. Ich bewies ihr in den dunkeln Alleen des Gartens mit leidenschaftlichen Küssen, daß sie sich irrte. Sie küßte mich wieder und weinte bitterlich. Der Rest der schwülen Sommernacht bis zum Morgengrauen und Vogelgezwitscher wurde in Gesellschaft älterer Damen mit Pokerspiel hingebracht, in dem ich gerechterweise verlor.
Am nächsten Abend fuhr ich wieder nach Reichenau, zufällig in Frau Doras Gesellschaft, die mir nun in aller Muße erzählen konnte, was während meiner kurzen Abwesenheit im Thalhof vorgegangen war. Als Charles vernommen hatte, daß ich ein Zimmer zu längerem Aufenthalt bestellt, war er in Wut geraten, hatte mich einen Menschen genannt, der durch sein Klavierspiel den Weibern die Köpfe verdrehe, und dringend gefordert, daß mir sofort abtelegraphiert werde. Daraufhin hatte Olga Morphium genommen, allerdings nicht so viel, daß der rasch herbeigerufene Arzt sie nicht außer Gefahr hätte bringen können. Nun war Dora für sie eingetreten, es war ihr gelungen, den Gatten zu beruhigen oder wenigstens einigermaßen zur Vernunft zu bringen, wovon ich mich noch am Abend meiner Ankunft überzeugen konnte; denn während ich beim Nachtmahl saß, kam er in Person an meinen Tisch und begrüßte mich höflich, ja mit leidlicher Freundlichkeit. Auch der nächste Tag hob unter den günstigsten Zeichen an. Schon des Morgens, freilich ganz flüchtig, sprach ich die Geliebte, Gerettete, die durch ihren Selbstmordversuch, ob er nun ernst gemeint gewesen war oder nicht, für eine Weile die Oberhand gewonnen und mir so mit heiterer Unbefangenheit entgegentreten konnte. Am Nachmittag trafen wir uns auf neutralem Boden, in Frau Doras Salon, und ich erhielt von Olga ein[235] kleines Medaillon mit einem vierblättrigen Kleeblatt, das sie selbst gepflückt hatte. Und dann gab es einen kleinen Spaziergang, wohin, weiß ich nicht mehr – und habe es damals wahrscheinlich auch nicht gewußt. Frau Dora hielt sich mit Fräulein Mizi, der Sängerin von neulich, die ob ihres nüchtern-klugen Wesens die »Weise von Reichenau« genannt wurde, in gemessener Entfernung, so daß wir, Olga und ich, endlich, endlich wieder ganz ungestört miteinander plaudern, in Meraner Erinnerungen schwelgen und von unserer Liebe reden konnten. Auch vom Morphium und von der Szene mit ihrem Mann erzählte sie, nichts von der Versöhnung, die wohl auch, nach seiner Beruhigung zu schließen, erfolgt sein dürfte. Ich weiß nicht, ob eine solche Versöhnung eine schlimmere Treulosigkeit bedeutet hätte oder hat als meine Küsse im Badener Garten; jedenfalls machte ich mir über Olgas Beziehungen zu ihrem Gatten, die doch zu dieser Zeit gewiß keine platonischen waren, keinerlei Skrupel oder eifersüchtige Gedanken; hingegen war es mit meiner guten Laune, mit meinem ganzen Glücksgefühl zu Ende, als ich, in den Thalhof zurückkehrend, als neuesten Besucher Rudi Pick erblickte. Soeben war er mit seinem Vater eingetroffen. Aber ich gehörte zu denjenigen, die nicht mit der Wimper zuckten, und verstand, ebenso höflich-kühl und undurchdringlich zu sein wie er, sogar an Eleganz vermochte ich es mit ihm aufzunehmen, wenn es auch eine andere Art von Eleganz war, mit einem ganz leichten Stich ins Künstlerische; nur freilich so schlank, so heiter und so beiläufig zu sein, das war mir versagt. Am selben Abend noch begleiteten wir alle Rudis Bruder, den Gerichtsadjunkten Alfred, zur Bahn. Auf dem dunkeln Perron schwebte die ganze Gesellschaft hin und her, und Olga hatte sogar die Kühnheit, mit mir Arm in Arm auf und ab zu spazieren. »Was war das heute für ein glücklicher Tag, Arthur«, sagte sie; worauf ich sie unverzüglich wegen Rudi zur Rede stellte. Sie schüttelte den Kopf, gekränkt, aber gütig. Es war nämlich kein Wort wahr. Wie mir nur so etwas einfallen könnte, und ob ich denn nicht wüßte, daß sie niemanden geliebt habe als mich? »Wenn wir nur immer so weiterwandern könnten«, sagte ich, als wir vom Perron aus auf der Bahnstrecke weiter ins Dunkel schritten, ohne uns um die andern zu kümmern. Und sie: »Warum reden Sie von einem solchen Glück, das uns ja doch niemals werden[236] kann.« So sprach sie, während hinter uns auf dem Bahnsteig die andern den Zug erwarteten, der uns Alfred entführen sollte. Rudi, schlank, heiser, blond und undurchdringlich, plauderte mit Frau Dora und Mizi, der Weisen von Reichenau. Es war Olga offenbar vollkommen gleichgültig, was er sich von uns beiden dachte. In diesem Augenblick, darüber gab es keinen Zweifel, war ich der Sieger über alle. Und als die ganze Gesellschaft unter einem dunkelblauen Nachthimmel im Hotelwagen nach dem Thalhof zurückfuhr, saß Olga an meiner Seite. – Welch ein Tag! Und nun war er zu Ende.
Am nächsten, zum schwarzen Kaffee, war man im Salon der Hausfrau versammelt. Anwesend waren, außer mir, Frau Dora, Pick-Vater und Pick-Sohn, die Weise von Reichenau, und es gab ein tiefsinnig-geistreiches Gespräch über die Liebe. Ich weiß nicht mehr, wie sich die andern zu dem Thema geäußert haben, Gustav Pick war es, der das große Wort führte, und ich erinnere mich noch, wie er in einem pathetisch-sentimentalen, etwa an Sonnenthal gemahnenden Ton bemerkte: »Wenn ich gewollt hätte, ich hätte mehr Glück bei Frauen haben können als ein Husarenleutnant.« Aber an solchen Leutnantseroberungen war ihm nichts gelegen.
Nicht auf die Quantität, auf die Qualität kam es ihm an. Auf das Seelische vor allem. Kurz, er gab sich als eine Art Frauenlob zu erkennen, und die Damen waren hingerissen. Er war damals ein großer, stattlicher Mann in der Mitte der Fünfzig, mit edlem, grauem Bart, noch immer schön, und sah im ganzen sehr aristokratisch und dazu ein ganz klein wenig wie ein jüdischer Patriarch aus. Er war auch, obwohl Jude und so etwas wie Agent höheren Stils, in der Aristokratie nicht nur gern gesehen, sondern auch gesellschaftlich von ihr aufgenommen; insbesondere mit dem Grafen Wilczek verkehrte er auf vertrautem Fuß. Nach ihrem Aussehen hätte man sie beinahe für Stiefbrüder halten können. Schon als Dreißiger verwitwet, lebte er mit seinen beiden Söhnen, Rudi und Alfred, als Geschäfts- und Lebemann und Musikdilettant. Als guter Klavierspieler und Vetter meiner Mutter war er in frühesten Jahren auch in unser Haus gekommen, bis mein Vater, dem dieses Vierhändigspielen des Ritters Frauenlob mit meiner Mama nicht paßte, die weiteren Besuche des gefährlichen Vetters abzustellen für gut befand, was die Mama, die sich gewiß nie was Böses dabei[237] gedacht hatte, uns oft mit Stolz erzählte. Gustav Pick verfaßte auch Couplets in wienerischer Art, zu denen er hübsche Tanzmelodien komponierte; am berühmtesten wurde sein Fiakerlied, das Girardi bei irgendeinem Wohltätigkeitsfest zuerst in die Öffentlichkeit brachte und das dem geschickten Verleger Hunderttausende, dem Dichterkomponisten aber gar nichts eintrug, worüber er sich noch als Achtziger, nicht mit Unrecht, immer wieder bitter zu beklagen pflegte. Daß er das Urbild des alten Eißler in meinem Roman »Der Weg ins Freie« vorstellt, wie sein Sohn das des Willy, werden Kenner jenes Werks schon bemerkt haben. Er hat meine Kühnheit zu ihrer Zeit mit mehr Humor aufgenommen, als es manche seiner Schicksalsgenossen getan haben. – Doch in wie ferner Zukunft lag noch mit manch anderen Wegen auch der ins Freie an jenem Augustnachmittag in Frau Olgas bürgerlich-vornehmem Salon, während man von der Liebe im allgemeinen und insbesondere von der der alternden Männer sprach! Gustav Pick erzählte von irgendeinem Franzosen, zu dem eine junge Frau gesagt hatte: »Sie sind ja verliebt wie ein Dreißigjähriger.« Dieser hätte darauf erwidert: »Nein, gnädige Frau, wie einer von fünfzig, et vous savez, Madame, c'est pire«, ein Satz, der seither in unserem Reichenauer Kreise bei allen passenden und unpassenden Anlässen zitiert wurde. So klingt mir von jenem Nachmittag heute kaum mehr etwas anderes nach als eben dieser Satz, der von der sonoren Stimme des alten Pick gleichsam über die Jahrzehnte getragen wurde, und was ich vor mir sehe, ist Frau Doras kennerisch-schlürfender Blick, mit dem sie an des alternden Frauenlob Lippen hing. Aber was ging mich und Frau Olga die Liebe der Fünfzigjährigen an – und was Fünfzigjährige darüber dachten? Hatte sie mir nicht eben ein rotgebundenes Büchelchen mit Paul Heyses »Meraner Novellen« übergeben, in denen ein paar Stellen zwei- und dreimal unterstrichen waren, die ich rasch gelesen und die mir schmerzlich-beseligend auch während jener theoretischen Unterhaltung durch den Sinn schwebten? »O Schwesterherz«, lautete die eine dieser Stellen, »was ich ihm für weise Dinge gesagt habe, an die ich selbst nicht glaubte, was für rechtschaffene Gemeinplätze, während das arme gequälte Herz in mir stöhnte und schrie und alle diese tapferen Sprüche Lügen strafte.« Und dann eine andere Stelle: »Er war so liebenswürdig. Warum darf ich ihn nicht[238] lieben? So unglücklich. Warum darf ich ihn nicht glücklich machen? Ich habe dann meine heißgeweinten Augen an den Blumen gekühlt, die sind nun alles, was ich von ihm bewahren darf.«
Die Novelle hieß »Der gute Kamerad«. Solch ein Kamerad, nichts anderes, nicht mehr durfte, wollte Olga mir sein. Hatte sie mir es nicht schon in Meran gesagt, und war ich nicht darauf eingegangen? Und war ich nicht damit zufrieden gewesen, daß unsere Blicke, wenn wir fern voneinander weilten, sich oben auf dem Sternbild der Kassiopeia zu gleicher Stunde treffen sollten?
Das sommerliche Treiben im Thalhof wurde immer lebhafter und erreichte seinen Höhepunkt in einer Art von Ball. Während ich mit Olga eine Quadrille tanzte, sagte sie zu mir: »Nun erst beginne ich zu verstehen, was Eifersucht heißt. Ich kann's nicht ausdenken, daß Sie einmal heiraten sollten. Haben Sie denn gar nicht bemerkt, wie ich mir neulich die Lippen blutig biß, als man von einem jungen Mädchen sprach, dem Sie im vorigen Winter den Hof gemacht haben sollen?« Freilich hatte ich es bemerkt. Aber hatten diese Blutstropfen, die ich auf ihren Lippen schimmern gesehen, – oh, ich hütete mich wohl, diesen Zweifel auszusprechen – hatten diese Blutstropfen nicht doch einen allzu großen Aufwand bedeutet im Verhältnis zu dem, was Olga empfand? Es mag wohl sein, daß mir im gleichen Moment das Morphiumfläschchen wieder einfiel. Ich trank an diesem Ballabend etwas zuviel, was im Grunde auch ein bißchen Pose war, und befand mich in übler Verfassung, als Olga mich am nächsten Morgen an meinem Frühstückstisch begrüßte, an dem Frau Dora mir Gesellschaft leistete. Sie schien von meiner Art, die ihr neu sein mußte, befremdet, verschwand bald und erklärte mir abends, es sei die unglücklichste Stunde ihres Lebens gewesen, als sie mich so verstimmt gesehen. Und am Morgen darauf, als ich Reichenau wieder für ein paar Tage verließ, um in Wien die Ordination für meinen Vater abzuhalten, klagte Olga bitter: »Ist es denn möglich, daß Sie fortgehen? Ich kann es nicht glauben.«
Aber die Seele war schon damals ein weites Land, und so flog ich gleich am ersten Abend meines Wiener Aufenthaltes nach Baden, um in den dunkeln Gartenalleen mit Gisela und ihrer noch hübscheren Schwester Emma Zärtlichkeiten zu tauschen.[239] Tränen gab es diesmal von keiner Seite. Am nächsten Abend besuchte ich die Meinigen, die in Vöslau zum Sommeraufenthalt wohnten, am dritten war ich wieder in Reichenau, und nach dem Souper gab es den üblichen Spaziergang, an dem diesmal mit Frau Dora und anderen auch Charles teilnahm. Olga und ich waren eben daran, eine Korrespondenz zu verabreden, als Charles plötzlich verschwunden war. Olga war hievon unverhältnismäßig erregt; da er nicht wieder erschien, entschloß sie sich nach einiger Zeit, auf ihr Zimmer zu gehen, gleich darauf stürzte ihr Gemahl an mir vorbei ihr nach. Dora und ich waren sehr beunruhigt, aber am Ende blieb auch uns nichts anderes übrig, als gleichfalls unsere Zimmer aufzusuchen. Am nächsten Morgen erfuhren wir – Dora von Olga, ich von Dora –, daß es wieder eine furchtbare Szene gegeben, Charles wollte gehört haben, wie ich mit Dora schon über Scheidung (natürlich zwischen ihm und Olga) geflüstert, flehte die Gattin an, ihn nicht zu verlassen, sank wie ein Toter zusammen, was uns als offenbare Komödie nicht sonderlich rührte und uns kaum gerührt hätte, wenn es eine wirkliche Ohnmacht gewesen wäre. Denn Liebende sind im allgemeinen nur gut, soweit es den Gegenstand ihrer Liebe betrifft; in Hinsicht auf alles andere und gar auf Menschen, von denen sich ihre Liebe irgendeiner Störung versehen muß, hart bis zur Grausamkeit. Und unbekümmert um den Komödianten, wie ich es für meinen Teil auch um den Toten gewesen wäre, spazierten wir abends im Mondenschein wieder auf und ab, Olga und ich; zu Dora und Mizi aber hatte sich wieder eine Neuerscheinung gesellt, die schöne Eveline Brandeis-Weikersheim, eine Engländerin, bereit wie die andern, meiner ach nicht allzu sündigen Liebe für die anmutige Thalhofwirtin ihren Schutz angedeihen zu lassen. Dora aber war doch die Gefälligste von allen. Am nächsten Tage ließ sie Olga und mich, von denen sie unbegreiflicherweise zu gleicher Stunde Besuch erhielt, eine Weile allein, um im Nebenzimmer einen Brief zu schreiben. Wir aber fanden uns in einem minutenlangen Kuß um so leidenschaftlicher, als meine Abreise nach Ischl für den nächsten Tag bevorstand. »Wenn ich glaube«, sagte sie, »daß ich mich werde beherrschen können, komme ich morgen herunter.« Sie kam, beherrschte sich, schenkte mir eine Rose, ihr Gatte stand daneben, und beide gaben mir eine Strecke weit das Geleite; einem harmlosen Hotelgast, der abreiste und[240] von den Wirtsleuten mit Höflichkeit behandelt wurde. Sie war nicht am Morphium gestorben, er war nicht toll geworden vor Eifersucht, und auch ich befand mich am Ende für einen glücklich-unglücklichen Liebhaber nicht so übel, als man hätte denken sollen.
Von Ischl aus sandte ich einen humoristisch-sentimentalen Brief in Versen an Frau Dora ab, den ich in seiner fast tagebuchartigen Genauigkeit hier einschalten will.
Verehrte würdige Freundin,
Geschätzte gnädige Frau,
Da sitz' ich einsam in Ischl
Und träume von Reichenau.
An schwülem Sonntagsabend
Empfing mich das Rauschen der Traun,
Es lag ein Dunst und Nebel
Rings über den grünen Au'n.
Der erste, der mich begrüßte,
Dieweil im Café ich saß,
Ein Mann war's mit falschem Barte –
Von Alfred Pick ein Spaß.
Heut' büßt er seine Witze
Und tut, was ihn nicht freut:
In Wolfgang geigen die Schrammeln, –
Und er – weilt in Bayreuth.
Im Kurhaus auf der Terrasse
Da spielten Zigeuner auf, –
Die Geigen jauchzten und lachten,
Das Cymbal klagte drauf.
Ich saß vor meinem Weine
– Somlauer war es nicht –,
Ich lauschte und hielt die Hände
Vor Augen und Gesicht.
[241]
Das Cymbal und die Geigen
Erzählten einen Roman; –
Ich hört' ihn an bis zu Ende –
So war der Abend vertan.
Am nächsten Tag, einem Montag,
– Nie sah einen blauern ich je –
Fuhr ich zum Männergesange
Hinüber nach Ebensee.
Mit zweien guten Kumpanen
Lauscht' ich dem Liederklang
Und trank ein gräßlich Gebräue,
Bis wieder der Tag versank.
Nach Montag kam Dienstag wie immer
– Die Wochen sind so trivial –,
Da fuhr ich nach Kammer hinüber
Mit Mutter und Schwester zumal.
Cousinen und Tanten erschienen
Und Vettern, – ja Onkeln beinah',
Nichts war zu erspäh'n als Familie,
So weit das Auge sah.
Die Frauen spielten Angehn,
Ich freilich nur Klavier;
Viel Töne waren zerschlagen,
Nur wenige blieben mir.
Jetzt sind auch die vernichtet,
O herrliche Villeggiatur!
Nun birgst du, glückseliges Kammer,
Eine stumme Klaviatur.
Nun kam des Kaisers Geburtstag,
In Gmunden verbracht' ich den;
Da hab' ich manch holde Frouwe
Und Magedin gesehn.
[242]
Des Abends stand ich am Ufer,
Da wogten in bunter Reih'
Viel festlich leuchtende Kähne
Rotschimmernd an mir vorbei.
Und in dem mächtigen Nebel
Raketen stiegen hinan,
Die flirrten und knallten und starben, –
Wie Menschenglück und Wahn.
Sie sprühten so überlustig,
Schier jubelnd ertönte ihr Knall,
Dann stoben die Funken gen unten, –
Versanken ins Wasser all.
Da kam die Melancholia
Wie einem Fünfziger mir; –
Doch nein: wie einem Jüngling,
Vous savez, Madame, c'est pire.
So klagt der Träumer in Ischl,
Dieweil in Reichenau
Gewiß schon zum Feste sich rüstet
Gar manche schöne Frau.
Doch kommt zum Fest nicht der Träumer,
So kommt er später bestimmt;
Und längstens kommenden Dienstag
Schneedörfl er wieder erklimmt.
Das Leben ist wie ein Kreuzzug
In das gelobte Land –
Und bis ich es wieder erschaue
Grüß' alles ich, was mir bekannt.
Sie, reizende Dora, vor allen
Die liebenswürdigste Frau;
Dann Minnie, die Kleine, und Mitzka,
Die Weise von Reichenau.
[243]
Der schönen Frau Eveline
Ergeben mein Grüßen gilt,
Ich küsse die Hände Frau Olga,
Der Wirtin wundermild.
Herrn Charles empfehl' ich mich bestens,
Auch Rettinger sei gegrüßt,
Von einem, der all seine Sünden
Im öden Ischl büßt.
Ich schließe somit, denn in kurzem
Bin ich ja wieder retour –
Und mündlich sinkt Ihnen zu Füßen
Ihr treuer Freund Arthur.
Von Herrn Rettinger, dessen Name in dem vorstehenden Brief zum erstenmal erscheint, wäre nun ein Wort zu sagen. Das war der Buchhalter, Geschäftsführer, Vizedirektor des Thalhofs; ein kleiner, dicker, beweglicher Mann in den Dreißigern, meist städtisch gekleidet oder mit einem grünen Jagdrock angetan, aber jederzeit ohne Kragen und Halsbinde. Er hatte eine spaßige, geschwinde Art zu reden, war das Faktotum, der Vertraute und mehr oder weniger auch der Spion des Gatten, was ihn nicht hinderte oder vielleicht erst recht dazu veranlaßte, mit Frau Olga auf freundschaftlichem Fuß zu stehen, die ihm keineswegs traute, aber eine gewisse Sympathie für ihn hegte. Er war der Unentbehrliche des Hauses, in dessen Kanzlei alle Fäden zusammenliefen, geschäftliche und private; er erledigte die Korrespondenz, wies die Zimmer an, stellte die Rechnungen aus, hatte immer alle Hände voll zu tun, war für die Intimen des Thalhofs jederzeit zu sprechen, zuvorkommend gegen jedermann, immer gut aufgelegt und nicht gerade viel falscher, als bei den verwickelten Verhältnissen dieses sonderbaren Wirtshauses unumgänglich nötig schien, dessen Wirtin zugleich Hausfrau, Köchin, Dame von Welt, und dessen Wirt zugleich eine Art von kleinem Gutsherrn, Hotelier, Bauer und eifersüchtigem Ehemann war. So gleichmäßig sich Rettinger in seinem Benehmen gegenüber den Gästen gab, es war nicht zu verkennen, wo er eine Vorliebe hegte und wo er sich veranlaßt sah, seine Vorbehalte zu machen; und daß er zum Beispiel den oft witzigen[244] und stets gemütlichen Gerichtspraktikanten Alfred Pick höher schätzte als mich, der irgendwie ein störendes Element bedeutete, konnte ich ihm um so weniger übelnehmen, als er mich's im Grunde kaum merken ließ. Zu jener Zeit schien er in keiner Weise auf seinen materiellen Vorteil bedacht. Erst später wurde es üblich, insbesondere wenn in der Saison die Zimmer knapp wurden, sich durch kleine Geldgeschenke oder große Trinkgelder mit ihm gutzustellen.
Das kleine Fräulein Minnie, dem ich gleichfalls in jenem Briefe einen Gruß übermittelte, die jüngere Tochter einer Frau Marianne Benedict, war damals ein bildhübsches, dunkeläugiges Kind von fünfzehn Jahren, von zigeunerisch-zierlichem Aussehen, ein bißchen altklug und witzig vor der Zeit und jedenfalls viel reizvoller als ihre ältere Schwester, die gerade auch nicht übel, aber ein wenig verwachsen war. Rufe ich mir das erste Bild zurück, in dessen Rahmen Minnie sich mir zeigt, so ist es der besonnte Tennisplatz hinter dem Thalhof, wo sie mir die Anfangsgründe des Spiels beizubringen sucht, von dem auch sie noch wenig verstand; ihre noch jugendliche, hübsche Mama, die aber in ihrem früh ergrauten Haar mir Vierundzwanzigjährigem wie eine Matrone erschien, schaut gelassen zu. Im Hintergrunde aber, dem Schneeberg zu, steigt dunkler Tannenwald hügelan.
Das Fest, zu dem man mich erwartet, hatte ich also versäumen müssen. Und so waren fast acht Tage vergangen, als ich endlich wieder – nicht etwa Schneedörfl erklomm, wie es in jenem Gedicht hieß, sondern – nach elegantem Reichenauer Brauch vom Payerbacher Bahnhof aus in einem feschen Fiaker nach dem Thalhof fuhr, wo nach verrauschtem Festjubel alles wieder beim alten war und ich allerseits mehr oder minder aufrichtig willkommen geheißen wurde. Das erste, was mir Frau Dora zu erzählen wußte, war, daß Olga nach meiner Absage in Wut einen Teller zerbrochen hatte. Immerhin nur einen Teller, aber wäre es ein ganzes Porzellanservice gewesen, so hätte logischerweise auch eine gewisse Morphiumlösung stärker sein müssen, als sie nun einmal gewesen war; und da Olga über meine Wiederkunft so glücklich schien, als hätte sie aus Ärger über mein Fernbleiben mindestens einen Suppentopf zertrümmert, so konnte ich mich am Ende nicht beklagen. Doch das Mißtrauen des Gatten war während meines Fernseins offenbar[245] noch gewachsen; und da ich meine Gefühle immer weniger zu verbergen vermochte, und da auch Olga es zuweilen, sooft sie mir auch, wenn Gefahr in der Nähe war, ein hastiges »take care« zuflüsterte, an dauernder Vorsicht und Verstellungskunst fehlen ließ, so wurde die Atmosphäre immer schwüler und bedrohlicher; und wenn der Gatte und ich einander begegneten und mit stummen Blicken maßen, drängte sich mir das vielleicht etwas zu großartige Bild auf, daß sich zwei Tiger auf dem Sprung gegenüberlägen.
Der Bekannten-, Freundes- und Besucherkreis erweiterte sich immer mehr, und so kam es, daß Olga und ich niemals auch nur eine Minute lang wirklich allein waren. Um so mehr mußte jede Gelegenheit wahrgenommen werden, auch unter ungünstigen Umständen in größerer, gleichgültiger, anödender Gesellschaft einander doch wenigstens nahe zu sein; und man ließ sich am Ende auch von einem gutmütigen Dilettanten, wie dem alten Baron Erlanger, eine läppische Novelle vorlesen, oder von einem kleinen, dummen Leutnant Klavier vorspielen, wenn damit nur eine Stunde gewonnen war, in der man sich durch einen Blick, durch ein Lächeln schweigend miteinander verständigen konnte. Immer neue Erscheinungen tauchten auf, auch interessantere und bedeutungsvollere. So kam nach der jüngsten Schwester Fanny, einem freundlichen, bürgerlich-netten, ziemlich reizlosen Geschöpf, einem von jenen, die zur alten Jungfer geboren scheinen und manchmal zwischen dreißig und vierzig heiraten – wie es endlich auch ihr geschah –, die mittlere zu Besuch, Gabriele, die zwar nicht so schön wie Olga selbst war, aber noch um einiges mondäner, dabei lebhaft, entschieden, hochmütig und fest entschlossen, nicht unter einem Grafen zu heiraten, – der denn auch nach wenigen Jahren ganz nach Wunsch in Gestalt eines preußischen, stockkonservativen, sechs Fuß hohen Junkers sich einstellte. Da gab es denn wieder Spaziergänge zu fünf, sechs, acht Personen, und hatte man Glück, so standen wir beide wohl auch ein paar Sekunden lang, losgelöst von den andern, auf einem Bergabhang mit der Aussicht gegen das abendliche Tal; Olga zeichnete mit der Schirmspitze Linien in die Luft, als erläuterte sie mir die Gegend und flüsterte dazu: »Sagen Sie mir noch einmal, daß Sie mich lieben, – ich kann es tausendmal hören, – wenn Sie wüßten, wie ich Sie anbete.« War es die Rax oder der Schneeberg, der da vor mir[246] in den rötlichen Himmel ragte? Ich hab' es damals und noch Jahre lang nicht gewußt und verwechselte sie immer wieder, wie ich mich überhaupt kaum je eine Viertelstunde weit von dem Haus entfernte, an dessen Türe, auf dessen Veranda, in dessen Hof oder Garten die Angebetete jeden Augenblick erscheinen konnte. Rax, Schneeberg, die Waldwege, die Wiesenplätze, der Himmel darüber, all das war damals kaum Landschaft für mich; Kulissen waren es, Hintergründe, – ja, statt meine Sehnsuchtsqual im Freien spazierenzuführen, lag ich manche Stunde in meinem Hotelzimmer auf dem Bett mit schmerzender Stirn, in Verzweiflung, daß die Geliebte heute morgen, wenn auch gezwungenermaßen, in kühlem Ton zu mir gesprochen; – in peinlicher Spannung vor allfälligen, feindseligen Unternehmungen des Gatten, – entnervt von dem ewigen Komödienspiel, zu dem ich nicht einmal geschickt genug war; und manchmal auch so zerbrochen und müde, daß sogar die Tränen versagten.
Eines Tages kamen wir, Olga und ich, ich weiß nicht wie, auf den Einfall, Schach zu spielen. Und nun saßen wir jeden Abend von fünf Uhr an im sogenannten Hof, der übrigens gegen die eine Seite ganz offen war, an einem kleinen Tischchen gleich neben dem rückwärtigen Hoteleingang. Hier war ein ununterbrochenes, wenn auch nicht allzu lebhaftes Hin und Her; Wagen fuhren aus und ein; Gäste kamen und gingen, Bedienstete des Hotels, der emsige Herr Rettinger, auch Charles' wortkarger Vater, der alte Waissnix, mit dem weißen Kaiserbart und dem bäuerisch-spöttischen Zug um die Lippen, – und natürlich Charles selbst, auf dem Weg zu oder von den Wirtschaftsgebäuden oder Ställen, wurden immer wieder auf Minuten sichtbar; Frau Dora, Fräulein Mitzka, die kleine Minnie, der Leutnant Latinovics, Baron Erlanger und wer immer wollte, blieb für kürzere oder längere Zeit neben unserem Tischchen stehen und warf einen flüchtigen, zuweilen etwas lächelnden Blick auf das Schachbrett, auf dem übrigens die Figuren in kürzeren und langen Pausen wirklich, gelegentlich sogar ganz der Regel nach, hin und her zogen. Konnte es etwas Harmloseres geben als solch ein Spiel? Im Freien, im Hof, am Hoteleingang, angesichts der ganzen Welt gewissermaßen? Und wenn beim Rücken der Figuren die Finger der beiden Spieler flüchtig sich berührten, konnte das überhaupt irgendwem auffällig vorkommen?[247] Und wenn dann ein Zittern durch unsere Glieder lief, unsere Wangen sich röteten, unsere Blicke feucht schimmerten, war das durch die Erregung des Spiels nicht ausreichend erklärt? Und wenn man etwa von weitem, von einem der Fenster im ersten oder zweiten Stock gewahrte, daß unsere Lippen sich leise bewegten, konnte ein gutwilliger Mensch ahnen, daß dieses Lippenbeben nicht bedeutete »Schach dem König«, sondern vielleicht: Ein Augenblick neben Ihnen, Arthur, wiegt mir alle Schmerzen auf, die ich Ihretwegen zu leiden habe. Nicht »Schach der Königin«, sondern: Ich möchte Ihnen zu Füßen sinken, Olga, und weinen. – Nein, niemand ahnte dergleichen, denn sie waren ja alle harmlos, soweit sie nicht etwas boshaft waren ... der geschäftige Rettinger, die gefällige Dora, der spöttische alte Waissnix und Onkel Minnie, wie wir das kleine Zigeunermädel aus unbekannten Gründen nannten; und was Charles anbelangt, er mochte noch so sehr Tyrann sein, er konnte doch seiner Gattin nicht verbieten, nach der Tage Mühen mit einem jungen Herrn aus gutem Hause, der hier im Hotel wohnte und pünktlich seine Zeche zahlte, vor aller Leute Augen eine Partie Schach zu spielen.
Eines Tages, mitten in unserem Spiel, während ich eben nicht von der Gegenwart, sondern von der Vergangenheit, natürlich nicht von meiner, sondern von ihrer, und nicht von dem längst erledigten Neurastheniker Richard Engländer, sondern von dem Kavallerieleutnant in der Reserve Rudi Pick sprach, rollte, wie es öfters geschah, ein offener Fiaker in den Hof herein. Und ihm entstieg liebenswürdig, aber darum nicht minder undurchdringlich, der, von dem ich eben nicht allzu heiter und vertrauensvoll gesprochen, – Rudi Pick, in dem elegantesten Sommeranzug, der sich erträumen ließ; nahm gleich neben uns Platz, war amüsant, bezwingend, blond, schlank und heiser; – und obwohl er von ganz anderen Dingen redete und insbesondere das Schachbrett nur eines sehr flüchtigen Blickes würdigte, wußte ich doch, daß er weder an das Schachspiel glaubte, noch an die Treue der Frauen, ganz gewiß aber nicht daran, daß Olga mich wirklich liebte, oder gar mehr liebte, als sie ihn zu jener Zeit geliebt, da sie mit ihm auf die Gamsjagd gegangen war. Und die Gamsjagd in den einsamen Bergen – der Gedanke lag in diesem Moment besonders nah, sowohl mir als ihm – hatte allerlei Vorteile gegenüber dem Schachspiel in einem offenen,[248] umfensterten Hof. Aber wir waren Männer von Welt, beide, und keiner ließ den andern merken, was ihm durch den Kopf ging, und Olga war nicht nur eine Dame von Welt, sondern sogar eine Frau von Herz; und in den ziemlich unglückseligen zwei Tagen, während deren Rudi im Thalhof verblieb, tat sie das Menschenmögliche, um mich zu beruhigen und in Ruhe zu halten. Ihre Blicke waren verheißender, ihre Worte leidenschaftlicher als je, und da ihr Gatte gerade in diesen zwei Tagen viel unbekümmerter, ja aufgeräumter schien, als wenn er mir die Anwesenheit Rudis von Herzen gönnte, so brauchte sie sich auch weniger Zwang aufzuerlegen als sonst und weniger oft jenes warnende »take care« zu flüstern, das mir die heißesten Worte auf den Lippen ersterben ließ. »Ich könnte weinen, wenn ich Sie traurig sehe«, sagte sie. »Wissen Sie denn, wie wahnsinnig ich Sie liebe? Jede Minute meines Lebens, meines Denkens gehört ja Ihnen nur allein.« Rudi aber schien während dieser zwei Tage jedenfalls der bestgelaunte und war gewiß der amüsanteste von sämtlichen Beteiligten und Unbeteiligten. Er erzählte allerlei Anekdoten, trug auch selbstverfaßte Schnurren vor, wie zum Beispiel einen jüdischen »Wilhelm Tell«, aus dem ich mich noch eines Ausrufs des entrüsteten Landvogts Geßler erinnere: »Bin ich e Ritter« – und war auch der witzigste Kopf bei Gesellschaftsspielen, zum Beispiel beim Sekretär, das nach den Mahlzeiten die allgemeine Zerstreuung bildete. Dieses Spiel besteht bekanntlich darin, daß jemand einen Namen aufschreibt (meist den eines der Anwesenden), der nächste Spieler, ohne zu wissen, welchen Namen sein Vorgänger aufgeschrieben, eine Eigenschaft hinzusetzt, der nächste den Namen einer Frau, die zu dem noch immer Unbekannten in Beziehung gebracht werden soll, der nächste den Charakter dieser Beziehung, wieder der nächste die Meinung der Welt, worauf noch allerlei Rubriken ausgefüllt werden, ohne daß jemand etwas anderes zu sehen bekommt, als was er selbst niedergeschrieben. Endlich wird das Papier entrollt, das Ganze verlesen, wobei sich manchmal lustige, zweideutige oder bedenklich zutreffende Steckbriefe und Verdächtigungen ergeben. »Ich kann mir sehr gut denken«, bemerkte Rudi Pick einmal am Schluß des Spiels mit heiserer Düsterkeit, »sehr gut kann ich mir denken, daß man von so einem Sekretärspiel mit ein paar Pistolenforderungen nach Hause geht.« – Hm, dachte ich,[249] gleich mit ein paar! und fand ihn ein klein wenig übertrieben. Aber so war er nun einmal. Ein Duell, was wollte das weiter sagen? Er hatte übrigens noch immer keines gehabt. Aber er wäre selbstverständlich jeden Augenblick bereit gewesen. Wer zweifelte daran? Und wie er den Frauen gefiel! Da war zum Beispiel die schöne Frau Eveline, seine Tante, eine etwas zu junge Tante und eine Engländerin noch dazu, mit der er eines Abends auf einer Bank saß, kaum hundert Schritt weit vom Hotel; aber die Bank stand am Waldrand und verschwamm im Dunkel. Evelinens Mann war früher Dragonerleutnant gewesen, vielleicht nur in der Reserve, aber immerhin Dragonerleutnant, ein großer, dicker Mensch, vielleicht hatte er einen Beruf, man merkte aber nichts davon, jedenfalls galt er als Nichtstuer und Spieler. Sein Lieblingspartner war ein Vetter unseres Charles, der berüchtigtste Lump von Reichenau, ein schöner Kerl, sah etwa aus, wie man sich einen Wilderer vorstellt, was er unter anderem auch gewesen sein dürfte, hieß Romanus, hatte drei Jahre beim Militär gedient und war später Fiakerkutscher in Wien. Ich erinnere mich einer Pokerpartie bis tief in die Nacht hinein in Rettingers Kanzlei, an der Evelinens Gatte, Innocenz, Romanus und ich beteiligt waren, kurz, es war eine nette Gesellschaft; und es ist nicht weiter verwunderlich, daß ich bei diesem Spiel nicht der Gewinner war. An jenem Abend aber, da jene Bank mit Eveline und Rudi im Dunkel verschwamm, saß ich allein mit Herrn Weikersheim vor dem Hotel, er rauchte eine riesige Zigarre, hatte das eine, kürzlich gebrochene und noch etwas steife Bein auf einem Sessel ausgestreckt, und wir plauderten weiß Gott wovon, als er plötzlich wie beiläufig fragte: »Wo ist denn eigentlich meine Frau?« Höflich und ohne böse Absicht erwiderte ich, daß sie mit Rudi dort auf der Bank säße. Dort – jawohl – ich deutete hin, – man konnte freilich nicht genau sehen, wo. Herr Weikersheim plauderte weiter, als kümmere ihn das nicht besonders, aber es dauerte keine zwei Minuten, als er beiläufig äußerte: »Na, gehen wir auch hin« und in meiner Begleitung, steif, auf seinen Stock gestützt, auf die Bank zuging, wo seine Gattin mit dem Neffen plauderte, uns, aus dem Dunkel auftauchend, lächelnd empfing, worauf sich ein allgemeines, natürlich ganz harmloses Gespräch entwickelte. Eine Pointe hatte die Geschichte leider oder Gott sei Dank nicht, – außer in meinem verstehenden Herzen. Doch[250] wenn auch die Herzen nach den uralten Gesetzen der Liebe und Eifersucht zucken mochten, die Wimpern rührten sich nicht. Das gehörte mit zur Eleganz.
Einen eigentlichen Beruf übte Rudi Pick damals nicht aus. Er dilettierte wohl schon als Maler, kam aber erst viel später, insbesondere als Sport- und Karikaturenmaler, zu einem ansehnlichen Ruf. Zu jener Zeit zog er auch die Möglichkeit einer militärischen Laufbahn in Betracht. An einem dieser Tage – was fiel in diesen zweimal vierundzwanzig Stunden nicht alles vor – so viel ganz Unwichtiges, was mich nebstbei gar nichts anging, und wie hat es sich mir eingeprägt! – an einem dieser Tage also war des alten Baron Erlanger Sohn, ein Ulanenleutnant, zu Besuch im Thalhof, ein getaufter Jude, schneidig, ja etwas frech, mit einer riesigen Säbelnarbe auf der Stirn. Diesen Fachmann fragte Rudi in meiner Gegenwart um Rat, ob er sich »aktivieren« lassen solle. Der Baron schüttelte bedenklich den Kopf. Die Sache sei nicht so einfach. Im Offiziersstand, besonders bei Kavallerieregimentern, wäre es schwer (– als Jude, auch als getaufter, denn ungetauft hätte man ja überhaupt keine Aussicht –), Konflikten mit den Kameraden auszuweichen. Er selbst habe ja leider öfter als einmal Gelegenheit gehabt ... Er brauchte wirklich nicht mehr zu sagen. Die Narbe auf seiner Stirn glänzte blutrot und beweiskräftig genug. Rudi Pick nickte nur, er hätte es wohl an Schneidigkeit mit jedem aufnehmen können, hätte sich vielleicht damals sogar zum Übertritt verstanden, aber ihm fehlte, um sich als getaufter Jude unter seinen kavalleristischen Kameraden zu behaupten, was der Baron Erlanger eben vor ihm voraus hatte – die Million. So entschloß er sich denn, Zivilist zu bleiben, und hat es wohl um so weniger bedauert, als er um seiner übrigen Eigenschaften und allmälig auch um seiner Künstlerschaft willen in den aristokratischen und Sportkreisen Aufnahme fand, in die es ihn von Jugend auf gezogen hatte. Er wurde auf Magnatenschlösser geladen, reiste mit einem Fürsten nach Afrika zur Löwenjagd und machte sich in witzig-feschen Aquarellen über Fürsten, Löwen, Pferde, Jockeys, diese ganze Welt, die er so liebte, und wohl auch ein wenig über sich selbst, lustig.
Am Abend nach Rudis Abreise wurde Olga nicht, wie es sonst regelmäßig der Fall war, für ihren Bekanntenkreis im Speisesaal oder auf der Veranda oder im Freien sichtbar, und[251] man erfuhr, daß sie sich nicht ganz wohl befinde. Am nächsten Morgen erschien sie blaß, winkte mich in ihre Nähe, flüsterte mir zu »Kommen Sie in fünf Minuten in meinen Salon« und entfernte sich sofort. Mich schwindelte. Was hatte das zu bedeuten? Schlimmes? Gutes? Nach abgelaufener Frist folge ich ihr. Sie steht, ans Klavier gelehnt, noch bleicher als vorher, ich rasch auf sie zu, sie sinkt in meine Arme, küßt mich mit Inbrunst. »Sie müssen fort«, sagt sie dann. »Er will Sie töten. Gestern abend, wie Sie meinem Stubenmädchen nachgegangen sind (das ich nach ihrer Herrin gefragt hatte), wollte er hinunter, Sie erschlagen. ›Erschlag mich lieber selbst‹, hab' ich ihm gesagt.« Ich sinke ihr zu Füßen. Ich kann mich nicht entschließen, zu gehen, vielmehr zu fliehen. Mit einer allzu bewußten Großartigkeit erkläre ich, daß ich es als ein hohes Glück empfände, für sie zu sterben. Immerhin suchen wir nach einer anderen Lösung. Und in einer hastigen, immer wieder durch die zärtlichsten Küsse unterbrochenen Unterredung entwickle ich ihr einen Plan, der ihre Billigung findet und den ich unverzüglich zur Ausführung bringe. Ich lasse mich bei Herrn Charles melden und stelle ihn zur Rede, warum er seine edle Frau mit unbegründeter Eifersucht quäle, ihre unschuldigen freundschaftlichen Unterhaltungen durch Mißtrauen störe und vergälle, und ersuche ihn, auf einer verfrühten Abreise meinerseits, die ohnedies programmgemäß in einigen Tagen erfolgen müßte, wie ihm ja bekannt sei, als peinlich und auffallend, schon um seinetwillen, nicht zu bestehen. Er erwiderte mir ziemlich ruhig, und nur seine zermarterten Züge, die schmalgewordnen Wangen, die rotgeränderten Augen mit den lefzenartig heruntersinkenden Mundwinkeln – Jagdhundgesichter pflegte später einer meiner Freunde solche eifersuchtverzerrte Physiognomien zu nennen – verrieten seine, mir freilich sehr gleichgültige oder gar lächerliche innere Pein. Er sei fern davon, sagte er, seine Frau ernstlich zu verdächtigen, und was ihr »G'speanzel« mit mir anbelange, so solle ich ja nicht glauben, daß ihm das etwas Neues sei. »Mit dem Richard Engländer und mit dem Rudi Pick«, setzte er mit einem wohlgezielten Nebensatz hinzu, »hat sie's genauso getrieben wie mit Ihnen.« Es ist wohl denkbar, daß nun auch meine Züge ins Jagdhündische zu spielen anfingen. »Aber«, setzte er hinzu, »ich lasse mir's nicht gefallen. Es paßt mir nicht, daß die Leut' reden. Sie haben's damals getan und tun's jetzt[252] wieder.« Immerhin nahm nun unser Gespräch eine Wendung ins Leichtere, fast Gemütliche. Durch die Bemerkung über die früheren Anbeter seiner Frau hatte er mich gewissermaßen zu seinem Schicksalsgenossen gemacht. Es war klar, erschlagen wollte er mich nicht, dann doch noch eher, dachte ich bei mir, den Rudi Pick; und meine Abreise brauchte ich nicht für einen Tag früher anzusetzen, und gegen anständige Unterhaltungen von seiner Frau in Gesellschaft habe er auch nichts einzuwenden. Kurz, ich hatte so ziemlich alles erreicht, was ich wollte – aber, daß ich mich als Sieger fühlte, kann ich nicht behaupten. Nicht als ich mit einem kordialen Händedruck von ihm Abschied nahm und nicht einmal am Abend bei einem improvisierten Tänzchen im Klubzimmer, als Olgas Wangen sich mit den meinen berührten und sie mir Liebesworte ins Ohr flüsterte. Ich vergalt es ihr, indem ich sie am nächsten Tag beim, Schachspiel mit den hämischen Bemerkungen ihres Gatten quälte, die sie nur als seine Rache wollte gelten lassen.
Da ich mich durch meinen Ischler Brief als begabter junger Dichter ausgewiesen hatte, war mir auch die ehrenvolle Aufgabe zugefallen, zum Geburtstag der Frau Eveline, Rudis schöner englischer Tante, ein Gelegenheitsstück zu verfassen. Und ich tat es um so lieber, als Olga sich bereit erklärte, eine Rolle, und zwar die des Thalhof-Genius, zu übernehmen, die ich unter anderen Umständen gar nicht geschrieben hätte. Die kleine Minnie war für den Genius der Schönheit wie geschaffen, – wer England darstellte, habe ich vergessen, vielleicht war es Minnies ältere Schwester Emmi; – mir selbst, dem einzigen mitwirkenden Herrn, teilte ich den Genius von Wien zu. Daß alle diese Genien ihr Anrecht an Eveline geltend machten und die Schönheit endlich über alle triumphierte, versteht sich von selbst. Geprobt wurde zum erstenmal am Vortag der Aufführung, an dem das Stück eben fertig geworden war, ebenso am nächsten Vormittag; und am Nachmittag schrieb ich die Verse in der Kanzlei für den Souffleur ins Reine. Diese sonst etwas langweilige Beschäftigung wurde mir dadurch versüßt, daß Olga von Zeit zu Zeit hereinkam, sich über die Blätter beugte und ich ihr die Hände küßte. Abends endlich, nur vor den nächsten Bekannten, fand die Vorstellung statt. Wir sahen alle nicht übel aus, die Damen in hübschen Kostümen, ich ersetzte durch ein übertriebenes Wienerisch und eine Verkleidung ins Strizihafte[253] – das Virginiastroh hinter dem Ohr fehlte nicht – was mir an schauspielerischem Genie mangelte. Olga sprach ihre Verse damenhaft mit dunkler Stimme und ohne Talent, der fünfzehnjährigen Minnie Worte aber: »Ich komme aus entfernten Gau'n – Nach meinem lieben Kind zu schau'n – Gemach, ich ford're nichts zurück – Wir nicht, die Erde braucht das Glück« – diese Worte klingen mir heute noch in dem kindlich-bewußten, wohllautenden Tonfall der Sprecherin im Gedächtnis nach.
Dann kam das Geburtstagssouper und endlich der Tanz, von dessen Lust und Qual ich mich immer wieder zu meinem Weinglas rettete; denn heute, heute war ja der letzte Abend meines Reichenauer Aufenthaltes, das Ende dieser wunderbaren glückselig-unglückseligen, sehnsucht- und leidenschafterfüllten Sommertage, in denen, wenn auch die letzten und heißesten Wünsche nicht gestillt waren, ich an Liebeserfahrung und Wissen um die Seele von Männern und Frauen und vor allem an Wissen um mich selbst weiter vorgeschritten war als in irgendeiner früheren Epoche meines Daseins. Wenn ich auch fühlte, daß es zwischen Olga und mir keineswegs für immer vorbei war, daß wir uns bald und vielleicht oft wiedersehen würden, und wenn sogar kühnste Hoffnungen für spätere Zeit in mir lebendig waren und lange blieben, – die Ahnung, daß das Schönste, das in einem tieferen Sinn Schönste, das Unwiederbringliche und Einzige dieser Beziehung mit dem heutigen Abend erledigt war, diese Ahnung umschattete meine Seele düsterer, als es irgendeine banale Abschiedsstimmung getan hätte; – und in dieser letzten Thalhof-Nacht weinte ich Tränen, die zu den bittersten, verzweiflungsvollsten meiner Jugend gehörten.
Und am nächsten Morgen fuhr ich nach Wien; Olga zugleich mit mir, was weiter nicht auffiel, da sie ja öfters ihren Vater, den Besitzer der Südbahnhofrestauration, besuchte und bei ihm auf einige Tage Wohnung nahm; überdies fuhr im gleichen Coupé mit uns Innocenz, der sein ganzes Einverständnis und seine ganze Gutmütigkeit bewies, indem er sich von Gloggnitz an schlafend stellte. Da sonst niemand im Coupé war und man bei jemandem, der sich schlafend stellt, nicht fürchten muß, daß er zur Unzeit erwacht, war unsere Reise bis Meidling nichts als ein einziger, inbrünstiger, langer Kuß. In dieser Station aber schlug Innocenz so geräuschvoll als möglich die Augen[254] auf und entschuldigte sich, ohne mit der Wimper zu zucken, wegen seines unhöflichen Betragens.
Schon am nächsten Sonntag war ich wieder in Reichenau. Aber ich hatte nicht viel Glück. Dora empfing mich mit der Kunde, daß Olga krank sei und sich weinend in ihrem Zimmer aufhalte. Ohne sie zu Gesicht bekommen zu haben, fuhr ich abends wieder nach Wien und ließ einen Zettel für sie zurück mit verzweifelten, vielleicht sogar bitteren Worten, da Rudi Pick gleich mir im Thalhof verweilt hatte; – aber nicht zugleich mit mir abreiste. In Wien war ich indes wieder jener Lolotte begegnet, die ich im Sommer vorher flüchtig kennengelernt hatte, und die eine Liebesstunde, die ich mit ihr verbrachte, kostete mich nicht mehr und nicht weniger als eine Perle, die gewiß ohne Lolottens Schuld aus der Fassung des einzigen je von mir getragenen Rings auf Nimmerwiedersehen in den Fugen eines schlechten Hotelbetts verschwunden war. Vor wenigen Wochen erst, mit Beziehung auf allerlei Lolotten-Möglichkeiten, hatte Olga geseufzt: »Was für Rechte hat denn eine Frau wie ich?« Sie hätte mir also wahrscheinlich nichts übelgenommen, aber über den Verlust der Perle hätte sie sich gewiß gefreut.
Am nächsten Samstag schon fuhr ich wieder hinaus, diesmal mit meinem Bruder zum Besuch unserer Mutter, die sich für ein paar Tage, vielleicht nicht ohne mein Dazutun, im Thalhof eingemietet hatte. Den Meinigen war es natürlich nicht unbekannt geblieben, was mich immer wieder nach Reichenau hinausgezogen und im eben verflossenen Sommer so lange draußen festgehalten hatte, und aus halben Andeutungen meines Vaters konnte ich entnehmen, daß man, mit Rücksicht auf die bekannte Brutalität des Gatten, noch mehr um mein leibliches als um mein seelisches Wohl besorgt war. Während meiner diesmaligen Anwesenheit ereignete sich übrigens nichts, das meiner Mutter hätte auffallen oder sie gar beunruhigen können. Frau Olga, die auf einer Hochzeit in Wien gewesen war, zeigte sich erst, als unsere ganze Gesellschaft nach dem Souper im Klavierzimmer versammelt war, und ich hatte gerade nur die Möglichkeit, sie in einem unbelauschten Moment zu fragen, ob sie mich liebe. »Sie wissen es ja«, erwiderte sie, doch es klang herb, heiser; sie gab vor, sich nicht wohl zu fühlen, und zog sich zurück. Am nächsten Tag erzählte mir Dora, daß in der verflossenen[255] Woche Olgas Vater wieder dagewesen und es neuerdings meinetwegen zu einer bösen Szene gekommen sei; doch schlimmer als diese Nachricht empfand ich, was mir Dora aus eigenen Beobachtungen mitzuteilen nötig fand: daß Olga kein Temperament besitze, daß sie mich wohl so liebe, wie sie überhaupt einen Menschen lieben könne, aber zu einer großen Leidenschaft nicht geschaffen sei. Ich versuchte, mich damit zu trösten, daß Olga ihrer Freundin natürlich nicht alles berichtet hatte, was zwischen uns beiden vorgegangen war; und am Abend, während eines Gesellschaftsspieles, ergriff ich die Gelegenheit, Olga einen Zettel mit liebestollen Worten zuzustecken. Am Morgen drauf, vor meiner Abreise, erschien sie am Fenster, den weißen Spitzenschleier um den Kopf, so wie ich sie an jenem Meraner Regen- und Abschiedsmorgen gesehen. Lange starrte sie mich an, ihre Blicke verschleierten sich, sie strich mit dem Spitzentuch über ihre tränenden Augen und verschwand.
Nun hob unser Briefwechsel an. »Ich werde im October Wien wenig besuchen«, schrieb sie mir im ersten Brief, »daher auch nicht das Vergnügen haben, Sie zu sehen. Frau Kohnberger ist so gütig, Ihnen alles Nähere mitzuteilen. Bewahren Sie, lieber Herr Doctor, mir Ihre freundschaftlichen Gesinnungen und nehmen Sie herzlichen Dank für gar manche genußreiche Stunde, die mir Ihre liebe Gesellschaft im Laufe des Sommers bereitet hat. Ich hoffe, wir sehen uns im Winter als gute Freunde wieder. Erlauben Sie mir noch eine Bitte: quälen Sie sich und andere nicht mit unnötigen, unwahren Ideen, ich selbst weiß nur zu gut, daß vieles im Leben häßlich eingerichtet ist, und das, was man für das größte Glück hielt, nichts als eine lange Reihe der Qualen bedeutet. Ich habe es aber immer für den größten Triumph gehalten, mit mir selber fertig geworden zu sein. Hoffentlich sprechen Sie mir noch über dieses und jenes und sind Sie mir nicht zu böse. Ich sage Ihnen nicht adieu, sondern auf Wiedersehen. Herzliche Grüße von Olga Waissnix. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich von Ihnen hie und da ein schriftliches Lebenszeichen erhielte (das Wort »schriftliches« war nachträglich dazugefügt). Darf ich Sie darum bitten?«
Ein Abschied also, dachte ich, und in höchster Unruhe eilte ich zu Dora, die mich anfangs zwar zu überreden versuchte, daß[256] ich Olgas Brief in meiner Aufregung mißverstanden, die mir aber sonst nicht viel Trostreiches zu sagen wußte. Olga würde mir nie etwas anderes sein als eine Freundin; – wenn ihr Vater – vom Gatten war weniger die Rede – von ihr kategorisch den Abbruch jeglicher Beziehung zu mir fordern würde, oder schon gefordert hätte, so müßte ich mich eben darein ergeben. Verzweifelter als ich gekommen, verließ ich Dora, und es half mir nicht viel, daß ich mir all die innigen und leidenschaftlichen Worte, die verheißungsvollen Blicke und Küsse in die Erinnerung zurückzurufen versuchte, die mir den Glauben an Olgas Liebe wiedergeben und mich mit schönen Hoffnungen erfüllen sollten. Auf ihren Brief antwortete ich mit der gebotenen Zurückhaltung und Vorsicht, da ich gefaßt sein mußte, daß sehr unberufene Augen darin Einblick erhalten könnten; immerhin ließ ich durchschimmern, daß ich ihre tugendhaften Vorsätze nicht als unwiderruflich ansähe.
Ihre nächsten Briefe schlugen einen leichteren, wärmeren Ton an und waren nicht arm an Anspielungen, die ich zu meinen Gunsten deuten konnte. Insbesondere kehrte ein Zitat aus jener Heyse'schen Novelle »Gute Kameraden« unter Anführungszeichen immer wieder: »Wenn ich könnte, wie ich wollte.« Sie berichtete mir von einsamen Spaziergängen und Jagdpartien, auch von ihren Kindern, die ich draußen fast nie gesehen und mit deren Erziehung und Unterricht sie sich in dieser Zeit angeblich viel beschäftigte; und gepreßte Herbstblumen, die sie selbst gepflückt, zierten arabeskenhaft die geliebten Blätter, die ich mit Sehnsucht erwartete und mit Entzücken empfing. Meine Erwiderungen waren in sentimental-humoristischem Ton gehalten. Ich erzählte nicht mit unbedingter Aufrichtigkeit von meiner einförmigen Existenz innerhalb und außerhalb der Spitalsmauern, entwarf eine Schilderung des Zimmers im Allgemeinen Krankenhaus, wo ich am ersten November als wirklicher zweiter Sekundararzt der psychiatrischen Klinik Einzug gehalten, und ließ es an ironischen Bemerkungen über Olgas bekannte Vorliebe für den Jockeyklub und die mit dieser Institution zusammenhängenden Eleganzen nicht fehlen. Aber obwohl sie öfters nach Wien fuhr, wo sie in der väterlichen Wohnung in ihrem alten Mädchenzimmer hauste, Einkäufe besorgte und gesellschaftliche Beziehungen pflegte, blieb unser Verkehr vorläufig ausschließlich aufs Schriftliche beschränkt,[257] und bestenfalls fand ich mit einiger Phantasie in Frau Doras Salon den Parfum wieder, den Olga bei ihrem letzten Besuch dort zurückgelassen hatte. Dieser Duft aber war ein um so geringerer Trost, als Dora immer von neuem mit meinen Hoffnungen aufs grausamste verfuhr und mir endlich, wie eine für mich bestimmte Botschaft, das furchtbare Wort Olgas hinterbrachte, sie wolle mich überhaupt niemals mehr sehen, ihr einziges Ziel sei, eine anständige Frau zu bleiben. »Und da sie kein Herz hat«, setzte die Freundin hinzu, »wird ihr das auch nicht sonderlich schwerfallen.«
Da lief Anfang Dezember folgende Depesche bei mir ein: »Mittwoch kleine Schlittenpartie. Abfahrt Wien, Mittwoch früh, sieben Uhr, eventuell Dienstag nachmittag. Wären erfreut, wenn Sie kämen. Bitte Antwort. Waissnix.« (Ohne Vornamen.) Meine Antwort fiel nicht abschlägig aus. An einem schönen Mondscheinabend kam ich in Reichenau an und fuhr den winterlich weißen Weg nach dem Thalhof. Das Ehepaar begrüßte mich freundlich, man begab sich in die wohlgeheizte Kanzleistube, wo ich von Rettinger bewillkommt wurde, der mir in der Erinnerung zuweilen wie die »lustige Person« aus einer Altwiener Posse erscheint; bald aber war ich mit Olga allein. Sie saß mit verschlungenen Händen auf einem Schemel zu meinen Füßen, und mich drängte es natürlich vor allem, ihr von meinen, durch Doras Äußerungen wachgehaltenen, ja eigentlich verursachten Zweifelsqualen zu berichten. Sie schien verwundert. Wie ich solche Dinge nur glauben könne? Selbstverständlich erzähle sie Dora und Eveline nicht alles; ganz im Gegenteil, sie lege es darauf an, die andern irrezuführen, und nun sei sie froh, zu hören, daß ihr die Komödie, die sie den Leuten vorspiele, so trefflich geglückt sei. Auch dem Gatten gegenüber, wie es den Anschein hatte, denn das gemeinsame Nachtmahl in der einsamen Wirtsstube verlief so heiter und harmlos als möglich.
Am nächsten Tag führte uns ein Schlitten durch die klirrblanke Winterlandschaft ins Höllental. Ich saß mit Olga im Wagen, wie Prinz und Prinzessin, der Gatte beim Kutscher auf dem Bock, als wäre er der Lakai. Gesprochen wurde nicht gar viel, ja wir sahen einander kaum recht an, da Charles, lauschend aufgerichtet, nicht gewillt schien, sich nur ein Wort entgehen zu lassen, sich manchmal auch umwandte, um irgendwelche überflüssige Bemerkung über Wetter oder Landschaft[258] zum besten zu geben. In einem Wirtshaus am Taleingang wurde eine Weile gerastet. Dann fuhren wir zurück in sinkender Dämmerung durch den leuchtenden Schnee. Zum Abendessen war ich in die Privatwohnung geladen. Die Hausfrau empfing mich im Salon, und wir blieben vorerst eine Weile allein. Ich spielte Klavier oder schlug wenigstens ein paar Töne und Akkorde an, sie stand mir gegenüber, wir sprachen nicht viel, aber endlich wieder – unbelauscht und ungesehen, wie wir wenigstens dachten, von Angesicht zu Angesicht, im Widerschein unserer Blicke – die Worte, die auszusprechen, die vom andern zu hören, jeder sich in den langen Monaten des Getrenntseins so sehr gesehnt hatte. Dann gab es ein Souper von besonderer Köstlichkeit, dem Fräulein Hann beiwohnte, ein gutmütiges, etwas dürftiges Ding, Erzieherin, Hausdame, fast Freundin, eines von jenen Geschöpfen, die, zum alternden Mädchen vorbestimmt, den Sinn ihres Lebens in der Verehrung für eine andere, vom Schicksal des Lebens begnadete Frau zu finden verstehen und meist ein glücklicheres, weil verantwortungsloseres und bescheideneres Dasein führen als die bewunderte oder insgeheim beneidete Freundin. Auch die englische Sprachlehrerin, die während des Winters im Hause wohnte, nahm an dem Mahl teil, das kaum zu Ende war, als das Wirtspaar unerwartet und plötzlich verschwand. In erheblich herabgeminderter Laune versuchte ich, die Unterhaltung mit den beiden zurückgebliebenen Damen weiterzuführen, bis Olga nach endlosen zehn Minuten wieder erschien, meinen fragenden Blicken vorerst die Antwort schuldig blieb und mit offenbarer Absicht, in einer rätselhaften, wie resigniert-verzweifelten Stimmung, sich ein Glas Wein nach dem andern einschenkte und hinunterstürzte. Auch Charles hatte sich wieder an den Tisch gesetzt mit einem unverkennbaren Jagdhundgesicht, das Gespräch nahm einen gezwungenen Fortgang, riß jeden Augenblick ab, knüpfte mühselig wieder an. Plötzlich erhob sich Charles so unerwartet wie früher, verließ das Zimmer, auch Fräulein Hann und die Engländerin verschwanden, rasch raunte Olga mir zu: »Er hat alles gehört, il sait, que je vous aime, jetzt ist alles aus.« Ehe sie mehr sagen konnte, war er wieder da, nahm zwischen uns Platz, bot mir eine Zigarre an, als wenn er eben nur die aus dem Nebenzimmer geholt hätte, plauderte und war von einer ganz merkwürdigen Freundlichkeit, an deren Echtheit zu zweifeln[259] ich alle Ursache hatte. Der Wagen wartete, es war höchste Zeit zum Wegfahren, wenn ich meinen Zug erreichen wollte; Olgas Stummheit, die Starrheit, mit der sie in der Sofaecke lehnte, fast lag, Charles tückische Beflissenheit, die Unklarheit der ganzen Situation war so beklemmend, so unerträglich, daß ich, um der Pein so oder so ein Ende zu machen, mit einer verlegenen, jedenfalls sehr ungeschickten Bemerkung über sein mißtrauisches Wesen, ihn schlankweg aufforderte, mich auf die Bahn zu begleiten. Er lehnte höflich ab, forderte mich endlich, von seiner Frau unterstützt, kühl aber liebenswürdig zum Wiederkommen auf, und in der nächsten Minute, wie ein zum besten Gehaltener, ja wie einer, mit dem ein zur Rache Entschlossener vorerst ein höhnisches Spiel treibt, saß ich allein im Schlitten, der mich durch die sternbeglänzte, kalte, weiße Nacht zum Bahnhof brachte.
Am nächsten Tag hatte ich Journaldienst im Krankenhaus, und während ich mit der Aufnahme der Kranken, ihrer flüchtigen Untersuchung und ihrer Zuweisung an die einzelnen Abteilungen beschäftigt war, erwartete ich von Stunde zu Stunde entweder den beleidigten Gatten selbst oder seine Kartellträger eintreten zu sehen. Doch ich wartete vergebens. Der ganze und auch der nächste Tag verging ohne einen solchen Zwischenfall oder sonst eine Kunde aus dem Thalhof, bis endlich am dritten Morgen ein Brief von Olga eintraf, in dem sie mir mitteilte, sie sei etwas unwohl gewesen und hoffe zuversichtlich, wie schon früher besprochen, mir im Hause Benedict an einem Abend zu begegnen, zu dem wir beide schon seit längerer Zeit geladen waren.
So geschah es auch. – Wir hatten alle Muße, uns miteinander auszusprechen, und sie erzählte mir nun, daß ihr Gatte wie er bald hatte zugeben müssen, zwar nichts von dem gehört, was wir neulich im Salon am Klavier miteinander geredet, doch daß er während dieser Unterredung von einem Dach gegenüber, auf dem er sich wahrscheinlich öfter aufhielt, als man bisher geahnt, in das erleuchtete Zimmer gespäht und unsere lebhaften Gebärden beobachtet hatte. Da diese Gebärden im ganzen doch unverfänglich gewesen waren, schien es der Gattin gelungen zu sein, ihn zu beruhigen; und sie getraute sich sogar, mir im Laufe des Winters einige kurze Begegnungen zu bewilligen, wie sie am Ende auch der Zufall hätte herbeiführen können:[260] Ich durfte auf dem Ring eine Viertelstunde mit ihr promenieren oder sie nach dem philharmonischen Konzert durch die Heugasse bis in die Nähe ihrer Wiener Wohnung zum Südbahnhof begleiten.
Am Abend meiner Heimkehr von jener Reichenauer Schlittenpartie war mein Vater zu einem Konsilium an die Riviera gereist, ich übernahm, wie immer in solchen Fällen, seine Klientel und machte auf diese Weise in der Hausordination die Bekanntschaft eines ungarischen Judenmädchens, das mit seiner Mutter nach Wien gekommen war, um sich zur Sängerin auszubilden und nun ohne Mutter in Wien verblieben war. Sie zog meine Behandlung offenbar der meines Vaters vor, und nachdem dieser zurückgekehrt war und seine Patientin wieder übernommen hatte, ordinierte ich ihr in meiner behaglichen, ungestörten Spitalsstube weiter, besuchte sie auch zuweilen (wie ich nur mehr aus ihren noch vorhandenen Briefen entnehme) in dem kleinen Kabinett, das sie bei irgendwelchen gleichgültigen Leuten bewohnte. Sie war leidlich hübsch, kokett, hysterisch, affektiert, verlogen, aber dabei ziemlich gutmütig und warf sich mir an den Hals, wie sie sich jedem jungen Mann unter den gleichen Umständen, wahrscheinlich auch einem Juristen oder Theologen, an den Hals geworfen hätte, und erfreute mich eines Tages mit der Mitteilung, daß sie von mir in der Hoffnung sei. Ihr Bruder, der angeblich Oberleutnant, vielleicht aber auch nur Handlungsgehilfe in einem Modewarenhaus war, würde sie nun wahrscheinlich töten, wie sie behauptete, – und mit tragikomischer Wirkung, wozu der ungarische Akzent das Seinige beitrug, wiederholte sie ein ums andere Mal: »Ein Duell ist unvermeidlich.« Schon vorher hatte ich sie schlecht genug behandelt, da mir ihr Wesen im Grunde unleidlich war, hatte sie beschimpft, von mir gestoßen, sie hatte mir zahlreiche Abschiedsbriefe geschrieben und in ihnen die Hoffnung geäußert, daß sie in der Kunst Ersatz für den treulosen Liebhaber finden werde; – war aber immer wieder gekommen und mit himmelnden Augen vor mir auf den Knien gelegen. Ihre neuesten Lügen und Drohungen aber, beide vielleicht halb unbewußt und ohne böse Absicht ausgesprochen, ließen es ratsam erscheinen, nun ein entschiedenes Ende zu machen. Es gelang nicht sofort. Zwar reiste sie im Frühjahr nach Budapest, schrieb mir von dort und von Gödöllö, wo sie Sommeraufenthalt nahm,[261] verzweifelte, verliebte, resignierte, sehnsüchtige Briefe, die ich selten beantwortete; sechs Wochen nach ihrem Scheiden aber erschien sie plötzlich wieder in meinem Spitalszimmer. Ich empfing sie so ungnädig, daß ich sie nun endlich ein für allemal los zu sein hoffte. Um Mitternacht desselben Tages spazierte ich durch den Krankenhausgarten meiner Behausung zu, als mich der Nachtwächter anrief und mir mitteilte, daß mich seit zwei Stunden eine junge Dame erwarte. Und richtig, unter meinem Fenster, auf einem Mauervorsprung, sitzt Helene, erhebt sich bei meinem Kommen und offenbart ein so sanftes, schmerzlich hinschmelzendes Wesen, daß ich mich nicht imstande fühle, sie in die Nacht hinauszuweisen, und sie mit mir auf meine Stube nehme.
Des Morgens erst erfolgte der Abschied, auf ewig, wie gewöhnlich. Am nächsten Tag flehte sie meinen Freund, Fritz Kapper, um Fürsprache bei mir an, am Morgen darauf, ich lag noch zu Bett, war sie wieder bei mir, wies Zeugnisse von Gesangslehrern vor, für ihre Verwandten bestimmt, die die materielle Sorge für ihre Ausbildung tragen sollten, warf sich auf mein Bett und jammerte: »Seien Sie barmherzig«, was ich in diesem Augenblick möglicherweise nicht nur auf die kärglichen Almosen meiner Zärtlichkeit beziehen sollte.
An diesem Morgen sah ich sie zum letztenmal für lange Zeit und hörte auch lange nichts mehr von ihr. Sechs Jahre später, im Jahre dreiundneunzig, traf ich mit ihrem Onkel (woher kannt' ich ihn wohl?) in einem Praterwirtshaus, der sogenannten Czarda, zusammen und erfuhr von ihm, daß seine Nichte vor fünf Jahren im Wahnsinn gestorben sei. So hatte ich einigen Anlaß, zu staunen, als ich, wieder zwei Jahre später, einen Brief von ihr erhielt, in dem sie mich um meine Fürsprache beim Direktor des Carltheaters, Jauner, ersuchte. Bald darauf erschien sie persönlich bei mir, ärmlich, verblüht und immer noch auf der vergeblichen Suche nach einem Engagement begriffen. Und wieder nach einigen Jahren wandte sie sich, angeblich im Auftrage eines Budapester Verlages, wegen Überlassung eines Manuskripts an mich und schloß ihren Brief mit den Worten: »Wir Budapester sind in steter Bewunderung für Sie und Ihre schätzenswerten Werke ...«
Auf Frauenlippen verlischt das Lächeln der Erinnerung niemals völlig. Sie sind rachsüchtiger, aber auch dankbarer, als[262] Männer zu sein pflegen. Sie rächen sich manchmal für die Zärtlichkeiten und für die Opfer, die man ihnen dargebracht, und sind – auch nach Jahrzehnten noch – dankbar für die Enttäuschungen und Beleidigungen, die sie erlitten haben.
Wenn dies ein Satz ist, der auch im »Anatol« stehen könnte, so mag dafür als Rechtfertigung gelten, daß dieser Bericht mitten durch diejenige Epoche meines Lebens läuft, aus der jenes, vielleicht stellenweise unangenehme, aber doch in vieler Hinsicht charakteristische Buch hervorgegangen ist, und es müßte verwunderlich erscheinen, wenn nicht auch in dieser Nacherzählung etwas von der Atmosphäre jener verklungenen Zeit zu spüren wäre. Daß diese Atmosphäre nicht sehr rein und erquicklich war, erkenne ich nicht einmal so sehr an einzelnen Erlebnissen, ja an meiner ganzen Lebensführung in jener Periode, als vielmehr aus dem Ton meiner damaligen Tagebücher, der von Affektation und sogar von einer gewissen Geckerei sich keineswegs freizuhalten vermag. Als die schlimmste Stelle erscheint mir heute diejenige, wo ich flüchtig »der langweiligen Verliebtheit meiner Schwester in einen jungen Doktor« gedenke als einer Mitursache an der üblen Stimmung in unserem Haus, die übrigens hauptsächlich durch die Unzufriedenheit meines Vaters mit mir und durch seinen berechtigten Ärger über die finanzielle Inanspruchnahme von seiten defraudierender und bankerotter Verwandter erzeugt war, denen er immer wieder beistehen mußte.
Am ungetrübtesten finde ich mein Wesen immer noch in meinen Briefen an Olga wieder, gewissermaßen auch in den ihren. Nicht etwa, als ob ich mich ihr gegenüber aufgespielt hätte, wenn es auch nicht gänzlich ohne Pose abging, – sondern weil ich, nach dem immanenten Gesetz solcher Beziehungen, gar nicht anders konnte, als im Verkehr mit ihr meine eigentliche Natur in ihrer angeborenen Richtung, aber ins Edlere und Höhere zu steigern.
Im Frühjahr hatte ich Gelegenheit, Olga öfter zu sehen als vorher, doch selten für mehr als für Viertelstunden; – auf dem Ring, in Gemäldeausstellungen, wo wir einander immer wieder unserer Liebe versicherten und uns, zum mindesten beim Abschied, mit dem vertraulichen Du anredeten. Zu Beginn des Sommers ward mir sogar das Glück eines zufälligen Zusammentreffens in einem Eisenbahncoupé, wo wir zwischen Wien und[263] Baden allein blieben und ich mir in ihren Küssen wieder einmal einbilden wollte, daß wir für alle Ewigkeit verbunden wären. Doch zu einer wirklichen Zusammenkunft, wie ich sie immer dringender forderte, wollte sie sich erst recht nicht verstehen. »Ich habe Angst vor Ihnen und vor mir«, sagte sie. Und so überließ sie mich weiterhin – wissend natürlich, aber ohne sich Gedanken zu machen – den unbekannten Helenen, Malvinen, Lolotten und gänzlich Namenlosen, mit denen ich mich mehr oder minder platonisch vergnügte und langweilte. Meinem Herzen war ja bisher keine gefährlich geworden, auch unter den jungen Damen der Gesellschaft nicht, von denen mir einige um so mehr Freundlichkeiten erwiesen, als ich ja als Heiratskandidat immer ernsthafter in Betracht zu kommen anfing. Helene Herz, jungmädchenhaft und herb, war mir nach wie vor die Sympathischeste. Ein lebhafter Verkehr entwickelte sich auch mit Fräulein Rosa Sternlicht, die in einer Dilettantenaufführung des Winters meine Partnerin gewesen war. Das Stück war, wie nicht anders möglich, von Emil Limé-Brüll und hieß »Der grollende Löwe«. Die Mitwirkenden traten als Hofschauspieler auf, ich exzellierte in meiner berühmten Hartmann-Kopie, Fräulein Rosa war damals ein nettes, nicht gerade dummes, mäßig hübsches, höchst affektiertes Geschöpf und verschwendete, wie sie mir natürlich erst viel später eingestand, ihr halbes Taschengeld auf Zuckerbäckereien, die sie mir bei meinen Besuchen anbot, um mich günstig zu stimmen. Aber unsere Beziehung gedieh trotzdem nicht weiter als bis zu einer Kahlenbergpartie in Familienbegleitung, mit Naturschwärmerei, Souper im Freien, Momentphotographieaufnahmen und insgeheim, während eines Tanzes, zu einem flüchtigen Kuß, von dem wir beide sozusagen nichts bemerkt hatten.
Das Haus Benedict war mir vor allem wert durch die freilich selten sich verwirklichende Möglichkeit, dort mit Olga zusammenzutreffen; aber auch die beiden Haustöchter gefielen mir nicht übel. Emmy, die als gescheit galt, aber nur altklug und vorlaut war, ganz besonders aber Minnie, der ich sogar eine Mazur unter dem Titel »Onkel Minnie« widmete, während ein Walzer »Die Reichenauer« derjenigen, der er rechtens zugehörte, nicht erst namentlich zugeeignet werden mußte.
Indes war ich fünfundzwanzig Jahre alt geworden, ein Einschnitt, der zu Rückblick und Vorschau manchen Anlaß bot.[264] »Was habe ich mir als Achtzehnjähriger alles eingebildet«, schrieb ich in mein Tagebuch, »was würde ich in diesem Alter schon geleistet haben« und zog flüchtig die Bilanz. »Ruf eines gescheiten, aber arroganten Menschen bei Fernerstehenden, eines Lebemanns bei einigen, was Papa ärgert, – bei guten Bekannten eines geistreichen, sehr veranlagten, aber sich zu nichts aufraffenden Menschen. Und doch ist's nur die Phantasie allein«, so schloß ich, »die mich vielleicht noch zu etwas bringt. Gewiß nicht die Medizin, wenn ich mich zuzeiten auch merkwürdig hineinlebe.«
Tat ich das wirklich? Ich hatte auf der psychiatrischen Abteilung des Professor Meynert dem sogenannten Beobachtungszimmer, ein halbes Jahr als Sekundararzt verbracht und war auch dort kaum fleißiger gewesen, als es der Dienst eben forderte. Es gab natürlich immer wieder Fälle, die mich interessierten; ich führte meine Krankengeschichten in anständiger Weise, nahm an den Visiten teil, las allerlei Einschlägiges, von eigentlicher wissenschaftlicher Arbeit aber war keine Rede. Von meinem Chef, dem berühmten Professor Meynert, hatte ich wenig Anregung, was vielleicht nicht ausschließlich meine Schuld war. Er war ein großer Gelehrter, ein vorzüglicher Diagnostiker, als Arzt im engeren Sinn, im persönlichen Verkehr mit den Kranken, zum mindesten auf der Klinik – in der Privatpraxis habe ich ihn nie gesehen –, rang er mir keine Bewunderung ab. So überlegen er immer dem Krankheitsfall gegenüberstehen mochte, – vor dem kranken Menschen erschien mir seine Haltung manchmal kühl, unsicher, wenn nicht gar ängstlich, und am meisten befremdete mich sein Vorgehen, wenn er, wie es manchmal geschah, einem unheilbaren Patienten eine fixe Idee mittelst Vernunftgründen auszureden versuchte. Heute frage ich mich allerdings, ob es den naseweisen Jünger mit seiner billigen Skepsis nicht eher hätte ergreifen sollen, wenn er einen alten, weltberühmten Irrenarzt den tausendmal als aussichtslos erkannten Kampf gegen eine Wahnidee mit solcher Verbissenheit immer wieder aufnehmen sah, als müßte sich doch endlich einmal das Naturgesetz vor der Energie eines menschlichen Willens beugen.
In Doktor von Pfungen besaß die psychiatrische Klinik einen tüchtigen, liebenswürdigen, aber nicht sehr bedeutenden Assistenten, der übrigens selbst, wie so viele Ärzte – ich hatte schon[265] früher Gelegenheit, es zu erwähnen – in kleinen, in diesem Fall unschuldigen, therapeutischen Monomanien befangen war. Zu jener Zeit war es das Problem der Peristaltik, von dem er erfüllt war; später glaubte er, in der leidigen Gewohnheit der Rückenwaschungen die eigentliche Ursache des Bronchialkatarrhs entdeckt zu haben und ging so weit, daß er allen Ernstes die rechte Seite seltener erkrankt zu finden behauptete, weil die linke, schwächere und trägere Hand die rechte Rückenhälfte nicht so schonungslos zu behandeln pflege, als dies auf der linken durch die stärkere rechte Hand der Fall sei.
Von der Klinik Meynert wurde ich am ersten April eintausendachthundertsiebenundachtzig auf die Abteilung für Hautkrankheiten und Syphilis versetzt. Sie wurde von Professor Isidor Neumann geleitet, der wissenschaftlich kaum Hervorragendes geleistet hatte, aber sich als Praktiker, beonders als Diagnostiker, eines nicht unbegründeten Rufes erfreute. Daß an manchen Arbeiten, die in späterer Zeit unter seinem Namen erschienen, der eine oder andere seiner Schüler stärker beteiligt war als er selbst, wurde von niemandem bestritten. Er sah weniger einem Gelehrten als einem Börsenmann gleich, fast einem, wie ihn die Witzblätter mit antisemitischer Tendenz darzustellen lieben, und hatte auch im Jargon, Wesen und Gebaren mehr von einem Angehörigen dieser Menschengruppe an sich, als einem Arzt und gar einem klinischen Professor wohl anstehen mochte. Jovial, zuvorkommend, wenn man will, sogar gutmütig, war er doch, soweit es sein Mangel an innrer Sicherheit und Courage zuließ und soweit nicht Geschäft, Ruf oder zufällige persönliche Anteilnahme in Frage standen, rücksichtslos egoistisch und von einer grenzenlosen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal seiner Kranken. Auf der Abteilung stand er, zum Glück für die Patienten, unter einer gewissen Kontrolle von Seiten seines vortrefflichen Assistenten Ehrmann und der anderen Abteilungsärzte, aber auch da ließ er sich oft genug gehen, und ein Augenblickserfolg bei seinen Hörern, ob dieser nun einer kleinen Operation oder einem schlechten Witze galt, war ihm wichtiger als das Wohl seiner Schutzbefohlenen. Er untersuchte oberflächlich und erschien mir stets weit mehr besorgt, eine persönliche Ansteckung als die Übertragung einer Infektion von Patienten zu Patienten zu verhüten. Aus seiner Privatpraxis wurden die unglaublichsten Geschichten, nicht[266] etwa klatschhaft, sondern mit Beweiseskraft erzählt, unter denen die von der monatelang fortgesetzten operativen Behandlung gummöser (syphilitischer) Hautgeschwülste, die er bei einem Balkanfürsten vornahm, als Standardgeschichte aufbewahrt zu werden verdient. Dabei ausgezeichneter Gatte und Familienvater, gehörte er im ganzen doch zu jener Sorte von Juden, die nach einer oberflächlich typischen Redensart den Antisemitismus begreiflich erscheinen lassen, und sein Bild wäre nicht vollständig, wenn nicht gerade er immer wieder behauptet hätte, daß er vom Antisemitismus, überhaupt für seine Person, niemals das geringste zu bemerken oder gar zu spüren bekommen habe; und als Beweis dafür, welcher Achtung er sich auch in katholischen Kreisen erfreue, führte er gerne an, daß ihn Aristokraten zur Jagd zu laden pflegten. Mir, als dem Sohn eines befreundeten Professors, kam er mit besonderer Freundlichkeit entgegen, ohne sich ernstlich um meine hilfsärztliche oder wissenschaftliche Tätigkeit zu kümmern, die ich hier in zweckbewußterer Weise auszuüben gedachte, als ich es bisher getan. Auf Vorschlag meines Vaters lenkte ich mein Hauptaugenmerk auf die luetischen Erkrankungen des Rachens und des Kehlkopfes, indem ich eine gewisse Zeit hindurch alle unsere Kranken mit dem Kehlkopfspiegel untersuchte. Aber mein Eifer hielt auch diesmal nicht lang genug vor, um eine, wenn auch nur statistisch verwertbare Leistung zustande zu bringen. In einem Atlas über die Erkrankungen der Nase, des Rachens und des Kehlkopfes, dessen Herausgabe mein Vater vorbereitete, sollte mir das Syphiliskapitel zufallen. Es war nur zum Vorteil des Werkes, daß die endgültige Ausführung auch dieses Abschnittes von dem anderen Mitherausgeber übernommen wurde, meinem Schwager Hajek, neben dem ich, höchst unverdienterweise, wie ein Gleichberechtigter auf dem Titelblatt genannt stand und noch immer stehe.
Seit dem 1. Januar 1887 zeichnete ich übrigens auch als Redakteur der von meinem Vater gegründeten »Internationalen Klinischen Rundschau«, der die Leitung der »Medizinischen Presse«, und zwar aus einem ziemlich lächerlichen Grunde, in andere Hände hatte übergeben müssen. Die Verleger dieser Zeitung, Urban & Schwarzenberg, hatten bei dem Festmahl anläßlich des Jubiläums meines Vaters am 6. Januar 1886 nicht an der Haupttafel, sondern an einem der zwei großen Nebentische[267] ihre Plätze erhalten, was natürlich keine Zurücksetzung bedeuten sollte, aber von ihnen, besonders von dem eitlen und empfindlichen Herrn Schwarzenberg, als solche aufgefaßt wurde; und sie übten Vergeltung, indem sie den eben abgelaufenen Vertrag mit meinem Vater nicht mehr erneuerten und einen neuen Leiter für ihr Blatt engagierten. Sie waren zu einer Abfindungssumme verpflichtet, wohingegen mein Vater gebunden war, eine Reihe von Jahren nicht als Herausgeber einer anderen medizinischen Fachzeitung zu zeichnen. Doch mein Vater, der weder auf seine journalistische Tätigkeit, noch auf den damit verbundenen Einfluß zu verzichten gesonnen war, dessen er weniger für sich als für die Poliklinik bedurfte, umging die Vertragsbestimmung, indem er eine neue Zeitung, eben die »Internationale Klinische Rundschau«, ins Leben rief und mich veranlaßte oder nötigte, neben einem anderen braven, aber gänzlich indifferenten Herrn, Dr. Bela Weiss, einem praktischen Arzt aus Mariahilf, der aussah wie ein Zigeunerprimas, meinen Namen als den des Redakteurs unter den Titel zu setzen. Jedermann wußte, daß Bela Weiss und ich im Grunde nur Strohmänner waren und das neue Blatt durchaus im Geist und im Sinn meines Vaters geführt und größtenteils von ihm gemacht werden sollte. Ich freute mich wohl, daß so der boshafte Racheakt des Herrn Schwarzenberg fürs erste pariert schien – um so mehr, als unter den Gründen für die Unzufriedenheit mit der Redaktionsführung meines Vaters auch angeführt war, daß dieser einen Gymnasiasten an seinem Blatt hatte mitarbeiten lassen (nämlich mich, der vor acht Jahren einen Bericht über den Amsterdamer medizinischen Kongreß verfaßt hatte), trotzdem empfand ich das Vorgehen meines Vaters, wenn auch juridisch nicht faßbar, ethisch doch nicht ganz einwandfrei und machte ihm auch kein Hehl aus meiner Ansicht, die er aber sehr übel aufnahm und nur als Zeichen von mangelndem Mut wollte gelten lassen. Die öffentlichen Angriffe allerdings, auf die ich gefaßt gewesen war, blieben aus, aber man unterließ doch nicht, besonders in gewissen, von vornherein nicht günstig gestimmten Kreisen, ärgerliche Vergleiche zu ziehen zwischen dem Vorgehen meines Vaters und dem des politischen Journalisten Szeps, der kürzlich in ganz analoger Weise, einen Vertrag umgehend, das »Wiener Tagblatt« als Konkurrenzunternehmen des »Neuen Wiener Tagblattes« gegründet hatte. Meiner Rolle in der ganzen[268] Angelegenheit wurde ich um so weniger froh, als die kleinen medizinisch-journalistischen Alltagsarbeiten, die ich nun in noch höherem Maß als früher zu leisten hatte, mir gerade auch nicht besonderen Spaß verursachten. Hauptsächlich war ich kompilatorisch tätig, verfertigte Auszüge aus Artikeln, die in anderen Fachblättern erschienen waren, aus in- und ausländischen Sitzungsberichten, las Korrekturen, schrieb hie und da ein kleineres oder größeres Referat, für das mir gelegentlich wohl ein Lob meines Vaters zuteil wurde, zeichnete mich im ganzen aber auch auf medizinisch-journalistischem Gebiet so wenig aus wie auf allen anderen, die ich bisher betreten, und schien so immer noch, und mehr denn je, verdammt, als der »Sohn meines Vaters« meine Erdenbahn durchlaufen zu müssen.
Immerhin hatte ich indes auch als Belletrist einen neuen Schritt in die Öffentlichkeit unternommen. Ende 86 hatte die »Deutsche Wochenschrift« ein paar Aphorismen sowie eine Skizze von mir abgedruckt, die den Titel führte: »Er wartet auf den vazierenden Gott«. Der Herausgeber, Dr. Neisser, bat mich zu sich und äußerte sich hoffnungsvoll über die Weiterentwicklung meiner Beziehungen zu seinem Blatt, die aber mit den eben genannten Beiträgen ein für allemal abgeschlossen waren; – um so unwiderruflicher, als die »Deutsche Wochenschrift« bald darauf zu erscheinen aufhörte.
Mit größeren Arbeiten wollte es noch immer nichts Rechtes werden. »Das Mysterium der Ehe«, jener Komödienstoff, mit dem ich mich schon vor sechs Jahren beschäftigt hatte, trat nun unter neuer Beleuchtung in meinen Gesichtskreis, doch kam ich über einen skizzenhaften ersten Akt und den Beginn des zweiten nicht hinaus. »Gabrielens Reue« oder »Reue der Unschuld« war der Titel einer Novelle, in der ich eine junge Frau für jahrelang geübte Tugend in den Armen eines Geliebten Sühne tun ließ; doch in der Kunst des Erzählens war ich noch weniger gewandt als in der Führung des Dialogs, und so geriet mir auch hier nur ein sentimentales, hie und da geistreichelndes, trotz des starken Erlebnisses, unter dessen Zeichen es empfangen war, und mir vielleicht gerade darum nahezu widerwärtiges, jedenfalls völlig dilettantisches Produkt.
Mein Vertrauter in Sachen der Poesie und des Herzens war in jener Zeit nach längerer Pause wieder Fritz Kapper. Er erschien mir als ein warmer, mitempfindender Mensch, in Reden[269] und Stimmungen fand ich ihn angenehm extravagant und war geneigt, auch seine Intelligenz zu überschätzen, wie es einem mit Stichwortbringern manchmal, und wie es mir gerade in jener Zeit auch mit anderen Leuten, z.B. mit dem eben wieder für eine Weile auftauchenden Jugendgenossen Adolf Weizmann erging. An schönen Sommerabenden, da mir als Vertreter meines auf Urlaub befindlichen Vaters der Wagen zur Verfügung stand, nahm ich Fritz zuweilen mit mir aufs Land, und wir beschlossen unsere Spazierfahrten am liebsten in der »Rohrerhütte« bei panierten Schnitzeln und Gurkensalat. Damals bemühte sich Fritz eben, sein Verhältnis mit Fräulein Amy zu lösen, worin ich ihm dialektischen Beistand leistete, etwa so wie er es mir bei Helene Kanitz getan. Sie liebte ihn sehr, schwor, sich umzubringen, wenn er sie verließe; er verließ sie trotzdem, – und tatsächlich entdeckte ich schon zwei Jahre darauf bei einem guten Bekannten, einem Amateurphotographen, ein wohlgetroffenes Bild von ihr, auf dem sie so ziemlich allen irdischen Tand von sich geworfen hatte, im übrigen aber beinahe so fidel aussah wie der Leutnant, in dessen Gesellschaft sie sich hatte abkonterfeien lassen.
Unter den sonstigen Freunden stand mir immer noch Richard Tausenau am nächsten, der mir wie durch sein Wesen so auch durch seine Erlebnisse der merkwürdigste blieb. Vor kurzem war ihm eine Geliebte gestorben, die Maitresse eines polnischen Abgeordneten, mit dem er um dieser Frau willen beinahe ein Duell oder, wie er sich elegant und beiläufig ausdrückte, eine Schießerei gehabt hätte. Vom Begräbnis aus kam er geradenwegs ins Arkadencafé, setzte sich zu uns an den Spieltisch und nahm ohneweiters an unserer Pokerpartie teil, was wir mit mißbilligendem Schauer, aber respektvoll geschehen ließen. Übrigens war er aus früher genannten Ursachen ein höchst unwillkommener Spielpartner, wie er sich auch allerlei andere kleine Unkorrektheiten und Schmutzereien zuschulden kommen ließ, z.B. scherzweises Einstecken von Banknoten, die nicht ihm gehörten, Entleihen von Lackstiefeln, die gleichfalls nie zurückgegeben wurden, – ohne daß es darum irgendeinem der Geschädigten eingefallen wäre, den Verkehr mit ihm endgültig aufzugeben. Jetzt stand er vor dem letzten Rigorosum, das er nach zweimaliger Reprobation immer wieder hinausschob, hatte sich mit seinen Eltern überworfen, wohnte in einer Art Studentenquartier[270] oder Absteigbude in der Wickenburggasse und erhielt von Louis Friedmann eine monatliche Unterstützung von hundert Gulden, die natürlich nicht für alle seine Bedürfnisse ausreichen konnte.
Durch Louis Friedmann waren Richard und kurz darauf ich bei einem jungen Paar eingeführt worden, das damals in einer glücklichen, bereits mit zwei Kindern gesegneten Ehe lebte. Herr Kniep, Prokurist eines großen Hauses, war ein gutaussehender, leidlich eleganter Herr mit geschäftlichen und gesellschaftlichen Ambitionen, die eines snobistischen Charakters nicht ganz entbehrten, seine Gattin eine hübsche, angenehme, ganz kluge, im Benehmen eher zurückhaltende Frau. Sie sahen gerne Gäste bei sich, vorzugsweise aus industriellen Kreisen mit besonderer Bevorzugung des christlichen Elements, wie denn über ihre durch kaufmännische und soziale Erwägungen gemilderte antisemitische Gesinnung ein Zweifel kaum bestehen konnte. Mit den Brüdern Friedmann und ihrem Anhang war in das bis dahin immer noch bürgerlich stille Familienleben ein lebemännischfreieres Junggesellentum eingezogen, ja eingebrochen, das bald genug seine zersetzende Wirkung auszuüben begann. Derjenige, der sich vor allem um die junge Frau zu bemühen anfing, – die ihren Gatten zu lieben schien und jedenfalls keinen zwingenden Grund hatte, ihn zu hintergehen – war, wie natürlich, unser Freund Richard, und nach dem nicht nur in der Physik, sondern auch in menschlichen Beziehungen geltenden Gesetz des beschleunigten Falles konnte bei der zunehmenden freundschaftlichen Intimität zwischen dem jungen Mann und der jungen Frau der natürliche Abschluß nicht lange auf sich warten lassen. Die Freunde sahen der allmäligen Entwicklung des Verhältnisses mit Spannung und Vergnügen zu und erwiesen sich, als Richard sich dem Ziele seiner Wünsche nahe sah, als seine treuen Verbündeten und Helfer. Auf einer kleinen Reise, an der ich nicht teilnahm, geschah es, daß das junge Ehepaar und die fröhlichen Junggesellen, von denen es begleitet war, in einem Hotel am Fuß eines Berges übernachteten, der am nächsten Morgen bestiegen werden sollte. Der Gatte mit zwei Herren der Gesellschaft, die in ihm, wie manche andere sportliche Neigung, wohl auch den Touristenehrgeiz erweckt hatten, brachen in aller Frühe auf, die Gattin und zwei andere Herren zogen es vor, im Tal zu verweilen. Der eine von den Herren[271] aber begleitete die Wanderer ein Stück Wegs in den Sommermorgen, blieb dann zurück, sah den Emporschreitenden eine Weile nach, und als die Möglichkeit einer Umkehr ausgeschlossen schien, gab er dem andern Zurückgebliebenen – es war Richard, der bei einem Fenster danach ausspähte – ein verabredetes Zeichen, worauf dieser sich unverzüglich aus seinem Zimmer in das der jungen Frau begab, die ihre Türe nach dem Fortgehen des Gatten nicht wieder zugeschlossen hatte. Diese Geschichte mag einen Begriff geben, vielleicht nicht so sehr von der Frivolität und Indiskretion, als von der außerordentlichen Leichtigkeit, mit der in diesem Kreise dergleichen Abenteuer behandelt und beurteilt wurden, – und erwägt man weiter, daß an dieser Intrige auch ein so durchaus ehrenhafter und ernster Mensch wie der brave Geologe Geyer beteiligt war, und daß die bis dahin tugendhafte junge Frau nicht nur selbst einverstanden war, sondern auch alle ihre Hausfreunde eingeweiht wußte, so mag man ermessen, was für unwiderstehliche Macht die eigentümliche Atmosphäre eines Kreises, ganz unabhängig von den Eigenschaften seiner Mitglieder, vorzustellen und auszuüben vermag. Diese Atmosphäre, mag man sie nun als unmoralisch, unbeschwert oder einfach nur als wahr empfinden, ist es, in der sich die Vorgänge meiner Tragikomödie »Das weite Land« abspielen, wie auch manche Figuren dieses Kreises umgestaltet, vielleicht auch erhöht, und manche Situationen, die im Hin- und Widerspiel der Figuren sich ergaben, verändert oder stilisiert in jenem Stück wiederkehren. Manche Bemerkung, die ich dem Helden, Friedrich Hofreiter, in den Mund legte, habe ich fast wörtlich zu verschiedenen Epochen von den Lippen seines Urbilds vernommen, und wenn Hofreiter den Liebhaber seiner Frau über eine Wiese in den Garten seiner Villa huschen und durch das Schlafzimmerfenster verschwinden sieht, so habe ich dabei Richards gedacht, der, als das Ehepaar Kniep im Sommer auf dem Lande wohnte, den Weg zu der Geliebten in gleicher Weise zu finden wußte. Übrigens war es weder diese noch manche andere im Beisein des Gatten verübte Unvorsichtigkeit, welche die bei dem Leichtsinn Richards, der Mitwisserschaft so vieler Unbeteiligter und der allmälig einsetzenden Eifersucht des Ehemanns unausbleibliche Entdeckung zur Folge hatte; – diese geschah vielmehr dadurch, daß Herr Kniep, dessen Verdacht immer neue Nahrung erhalten hatte, den Schreibtisch[272] seiner Gattin erbrach und die Briefe des Liebhabers vorfand.
Es war an einem Herbstmorgen des selben Jahres, ich lag noch zu Bett, als Richard oder Kuwazl, wie er in unserem Kreis genannt wurde, in mein Krankenhauszimmer trat und mir mit dem kurzen, galgenhumoristischen Lachen, das ich nun schon so gut kannte, mitteilte, daß er eben den höchst unerwünschten Besuch des betrogenen Ehegatten erhalten habe. Vorläufig war die Sache zwar noch glimpflich genug ausgefallen. Herr Kniep hatte ihn weder tätlich insultiert noch ritterliche Rechenschaft von ihm gefordert, sondern ihm nur, allerdings unter sehr ehrenrührigen Beschimpfungen, das Ehrenwort abverlangt, daß er niemals wieder versuchen werde, sich seiner Frau zu nähern. Denn mit Rücksicht auf die Kinder hatte Herr Kniep den Entschluß gefaßt, die treulose Gattin nicht aus dem Haus zu jagen, sondern vor der Welt in äußerlicher Gemeinschaft mit ihr weiterzuleben. Ihm war es leichter, diesen Entschluß auszuführen, als meinem Freund Richard, das gegebene Wort nicht zu brechen. Schon wenige Wochen nach der Entdeckung war das Verhältnis zwischen Richard und Frau Kniep wieder in vollster Blüte und dauerte noch geraume Zeit fort. Es blieb nicht das letzte der schönen Frau, vielleicht nicht einmal das letzte, das ihr Gatte entdeckte. Jedenfalls fand er sich mit Anstand darein und begnügte sich damit, seine Revanche zu nehmen. Nach außen hin blieb es eine gutbürgerliche Ehe, und im Laufe der Jahre, als die Leidenschaften dahin waren, wurde es vielleicht wirklich eine. Das Haus wurde in musterhafter Weise geführt, die Kinder wurden vortrefflich erzogen, Herr Kniep machte eine große Carriere, erhielt später sogar den Adel, und Frau Kniep zeichnete sich nach Verabschiedung ihres letzten Liebhabers nicht nur durch einen tadellosen Lebenswandel, sondern durch eine sichtbare, von politischen Seitenblicken nicht ganz freie Frömmigkeit aus. Mit Beziehung auf sie sagte mir Louis Friedmann, der ihr zweiter Liebhaber wurde: »Ich halte es überhaupt für sehr einseitig, die Frauen nur aufs Erotische hin zu beurteilen. Wir vergessen immer wieder, daß es im Leben jeder Frau, auch wenn sie Liebhaber hat, eine Menge Stunden gibt, in denen sie an ganz andere Dinge zu denken hat als an die Liebe. Sie liest Bücher, musiziert, veranstaltet Wohltätigkeitsakademien, sie kocht, erzieht ihre Kinder, sie kann sogar eine sehr gute[273] Mutter sein, ja manchmal auch eine vortreffliche Gattin und hundertmal wertvoller als eine sogenannte anständige Frau.«
Es sind die Worte, die Friedrich Hofreiter im vierten Akt des »Weiten Lands« ausspricht, was ihn bekanntlich nicht davon abhält, im fünften den Liebhaber seiner Frau totzuschießen, um nicht der Hopf zu sein, wie er sich ausdrückt. Ein Widerspruch? Keineswegs! Gefühl und Verstand schlafen wohl unter einem Dach, aber im übrigen führen sie in der menschlichen Seele ihren völlig getrennten Haushalt.
Ich selbst war zu dem Hause Kniep, wenn auch häufig dort geladen, im Verhältnis eines Außenseiters geblieben; und ebenso oberflächlich-flüchtigen Charakters war mancher andere Verkehr, der sich in diesem Sommer, besonders während meines kurzen Ischler Sommer- und Ferienaufenthaltes anknüpfte und in der Stadt weiterspann. Sehr gut war ich in der Familie Cohn aufgenommen, bei der Freund Fritz, als Bräutigam der hübschen älteren Tochter Adele, mich eingeführt hatte. Dem Vater, einem beinahe noch jungen Mann, der sich an der Seite seiner stillen, dummen und reizlosen Frau als Junggeselle, fescher Kerl und Don Juan fühlte und gebärdete, schloß ich mich in Ischl gelegentlich auf abendlichen Pirschgängen an, die für mich meist harm- und resultatlos endeten, abgesehen von einer angenehmen halben Stunde, in der ich mir von einem netten kleinen, gefälligen Ding gerne weismachen ließ, daß es eine Schauspielerin sei, als wenn durch eine solche Vorspiegelung gewisse, stets von mir gefürchtete Gefahren erheblich vermindert wären. Meist aber befand ich mich in gesitteter Gesellschaft, die sich in ferneren oder näheren Kreisen um das Brautpaar gruppierte. Da war vor allem Frau Koritschoner und ihre drei hübschen Töchter; die Älteste, damals schon seit zwei Jahren verheiratet, Frau Glogau, die anmutige Lili und die schnippische, backfischhafte Leonore. Ein paar junge Ärzte, wie Otto Zuckerkandl und Oskar Krauss, nahmen an Ausflügen und Spaziergängen teil. Kleine Pokerpartien, die, wie im Hause Szeps, sich manchmal bis zum Morgen ausdehnten, wurden auch nicht verschmäht; ein charmantes junges Frauchen Hirsch schwebt und schwimmt heute noch mit lachendem Gesicht in ihrem schwarzen, aber nicht sehr düsteren Badeanzug durch meine Erinnerung. Eine ungarische Malerin, Vilma Parlaghy, galt trotz Schönheit und Künstlerschaft für unnahbar, ihr herbes, etwas rätselhaftes[274] Wesen zog mich an, mir ahnte, daß es mit ihrer Tugend nicht allzu streng bestellt sei, mir gegenüber blieb sie verschlossen, doch um ihre Lippen sah ich es manchmal wie leisen Spott zucken, der meiner möglicherweise unangebrachten Schüchternheit gelten mochte. Eine junge Amerikanerin, Cora Cahn, erst sechzehn Jahre alt, die mit ihren Verwandten in Ischl weilte, zog mich durch ihren Akzent, ihre Laune, ihre Koketterie lebhaft an. In einem Tunell zwischen Gmunden und Ebensee wurde es beinahe bedenklich, aber Tunelle sind kurz und ein Ischler Aufenthalt kaum viel länger, besonders, wenn gar zu vieles darin unterzubringen ist; und so verschwebte auch dies Abenteuer in nichts dahin. Die eindrucksvollste Erscheinung aber war ein Fräulein Nelly, die jüngere Schwester der schönen Frau R., die, wie jeder wußte, ihren kleinen unansehnlichen Mann mit eleganten Aristokraten zu betrügen pflegte. An einem schönen Sommernachmittag spazierten wir in größerer Gesellschaft an den Nussensee. Nelly und ich liefen den anderen voran, küßten uns, wo immer wir den Blicken verschwanden, sie plauderte mir allerlei vor, wovon junge Mädchen sonst nicht zu plaudern pflegen, – von ihrer schönen weißen Haut, von ihren Nachthemden, wir küßten uns noch feuriger, hundert- und hundertmal, und ich prophezeite dem mehr aufreizenden als reizenden Geschöpf, dankbar wie Psychologen zu sein pflegen, eine große Kokottenlaufbahn, was sie geschmeichelt entgegennahm. Ich sah Nelly nach diesem Sommer – vielleicht nach diesem Tage – niemals wieder, erfuhr aber nach Jahren, daß meine Prophezeiung sich aufs glänzendste erfüllt hatte. Das Nachbild Nellys schwebt unter dem Namen Judith durch eines meiner Dramen, das im Augenblick, da ich diese Zeilen schreibe, noch nicht vollendet ist.
Dora Kohnberger, die sich während dieses Sommers in Ischl aufhielt, begleitete ich auf einem peinlichen Gang ins Hotel Bauer, wo wir bei einem guten Freunde für meinen Onkel Edmund Markbreiter, Doras Schwager, der wieder einmal vor dem Ruin, wenn nicht gar vor dem Kriminal stand, als Bittsteller vorsprachen. Es handelte sich um ein paar tausend Gulden, die durch eine Sammlung aufgebracht werden sollten, an der sich hauptsächlich Verwandte beteiligten, soweit sie nicht schon müde geworden waren, dem unverbesserlichen Verschwender und Börsenspieler, der zugleich ein so großer[275] Advokat war, aber persönlich allen Kredit verloren hatte, beizustehen. Herr Cz., ein reicher Kunsthändler, Junggeselle, Freund der Familie und – ohne Erfolg natürlich – ein Kurmacher der Frau Dora, entschloß sich nach einer längeren Unterredung, die von ihm nicht durchaus mit Geschmack, von Dora nicht ohne Würde geführt wurde, während ich mich ziemlich schweigend verhielt, zu einer Spende von fünfhundert Gulden. Ich weiß nicht, ob es gerade diese Summe war, die meinen Onkel für diesmal noch rettete, jedenfalls war die Katastrophe nun hinausgeschoben.
Und schaute in dieses hundertfach zerstreute Dasein eines jungen Arztes, Dichters und Lebemanns, der in Medizin, Poesie und Leben in bösen Stunden stümperte, in guten bestenfalls dilettierte, dessen Wesen von niemandem gekannt, von ihm selbst kaum geahnt wurde, – der, umgeben von Dutzenden von Freunden, deren keinem er ganz, zwischen vielen Mädchen und Frauen, deren keine ihm völlig gehörte, der, zwar zweifellos unzufrieden, aber nicht ohne selbstgefällige Regungen, sich fast ausschließlich mit sich selber beschäftigte, – fiel in dieses innerlich von so vielen flackernden Lichtern unsicher erhellte Dasein kein mächtiger Schein von draußen, vor dem jene kleinen Lichterchen wenigstens für Minuten verlöschten? Rührten ihn die großen, die ewigen Fragen nicht an? Und wenn es schon keinen Gott gab, in dem man sich beruhigt und beschlossen fühlte, gab es nicht eine Heimat, aus deren Boden man Kraft und Leben sog, kein Vaterland, als dessen Bürger man sich, ob nun mit oder ohne Stolz, fühlen durfte, gab es nicht Geschichte, Weltgeschichte, die ja niemals stillestand und die um unsere Ohren bläst, während wir durch die Zeit rasen? Freilich gab es all das, aber die Heimat war eben nur Tummelplatz und Kulisse des eigenen Schicksals; das Vaterland, ein Gebild des Zufalls, – eine völlig gleichgültige, administrative Angelegenheit, – und das Weben und Walten der Geschichte drang doch nur, wie es uns Gegenwärtigen meist passiert, in der mißtönigen Melodie der Politik ans Ohr, der man nur ungern lauschte, wenn man nicht gerade zu denjenigen gehörte, die beruflich oder geschäftlich an den politischen Ereignissen interessiert waren. Und doch war es, wenn mir recht ist, gerade in jenen Sommertagen 1887, daß es nur an einem Haare hing, und wir jungen Leute wären in den Wirbel der Politik und[276] Geschichte hineingerissen worden. Die Gefahr eines Krieges mit Rußland lag nahe, Mobilisierungsgerüchte schwirrten durch die Luft, es gab ein paar Tage, da man als Reserveoffizier der Einberufung innerhalb vierundzwanzig Stunden gewärtig sein mußte. Heute, da wir wieder einmal wissen, was ein Krieg bedeutet, erscheint es kaum faßbar, daß man sich über solche Möglichkeiten keineswegs aufregte, kaum sonderliche Gedanken darüber machte. Immerhin erhielten die Reserveoffiziere hektographierte Rundschreiben, in denen ihnen der Ankauf eines bestimmten, für Feldzwecke sehr geeigneten Felleisens angeraten und ihnen nahegelegt wurde, beim Ergänzungsbezirkskommando rechtzeitig die Bestellung aufzugeben. Ich für meinen Teil besorgte das in formloser Weise auf einem Briefpapier, wurde daraufhin in die Kaserne befohlen, erhielt von dem diensttuenden Oberleutnant einen freundschaftlichen Rüffel und zugleich den außerdienstlichen Rat, jenes angeblich geeignete Felleisen als weder preiswert noch praktisch nicht anzuschaffen, sondern lieber ein anderes, das da und dort käuflich zu erwerben sei. Ich dankte gehorsamst und dachte, was man sich heiter und traurig so oft bei kleinen und großen Gelegenheiten in unserem schönen Vaterland denken mußte, – o du mein Österreich! Jedenfalls beschloß ich, den Ankauf des Koffers bis zur Kriegserklärung aufzuschieben, die sich bekanntlich noch geraume Zeit verzögerte, aber dann zu um so gründlicheren Resultaten führte.
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