Wie wir es vor genau zehn Jahren zum erstenmal getan, reisten wir auch im Sommer 1882 in die Schweiz; diesmal über Ragaz und Davos nach Pontresina, über Bernina- und Stilfser Joch nach Meran und endlich über Innsbruck ins heimatliche Salzkammergut, nach Gmunden, Ischl und Aussee. Die ganze Reise im gewohnten elterlichen Tempo nahm nicht mehr als drei Wochen in Anspruch, und bald nach unserer Rückkehr am ersten Oktober meldete ich mich im Garnisonsspital Nr. 1 als Einjährig-Freiwilliger zum Dienst an.
Das Corps der militärärztlichen Eleven, dem nun auch ich angehörte, stand rein soldatisch genommen nicht eben in sonderlichem Ansehen, wie ja die Militärärzte damals überhaupt nicht als Kombattanten, also gar nicht als rechte Soldaten betrachtet wurden, und ihnen nicht einmal ein direktes Strafrecht gegenüber ihren Untergebenen zustand, das von den Sanitätsoffizieren ausgeübt wurde. Mit einem ziemlich billigen Witz wurden die militärärztlichen Eleven »Mosesdragoner« genannt, und es läßt sich nicht leugnen, daß manche unter ihnen, besonders unter den ungarischen und polnischen Juden, in Hinsicht auf militärische Haltung und Aussehen einiges zu wünschen übrigließen. Andere hingegen – es gab solche auch unter den Juden aller Nationen – verstanden es, in ihrer schon an und für sich offiziersmäßig zugeschnittenen Uniform vom ersten Tag der Einrückung an so säbelschlenkernd und martialisch aufzutreten, als wären sie mindestens Kadetten oder gar altgediente Offiziere in einem Husarenregiment. Gehörte ich gerade auch nicht zu dieser glänzenden Kategorie, so machte ich in der neuen Tracht immerhin eine leidliche Figur, wie ich denn eigentlich erst von jetzt an eine Sorgfalt auf mein Äußeres zu verwenden begann, die zeitweise sogar in eine leichte Stutzerhaftigkeit auszuarten Neigung zeigte.[141]
Bis dahin hatte ich mich nämlich nicht ganz ohne Ostentation einigermaßen künstlerisch getragen: – die Haare ziemlich lang, breitkrempiger, sogenannter Rembrandthut, flatternde Krawatte; und wenn auch als Sohn aus bürgerlichem Hause anständig gekleidet, war ich doch keineswegs das, was man einen netten und soignierten jungen Herren nennen konnte. In dieser Hinsicht war in der häuslichen Erziehung von Anfang an mancherlei vernachlässigt worden, wie man ja zu jener Zeit der Körperpflege im engeren und weiteren Sinn überhaupt noch nicht so viel Aufmerksamkeit zuwandte, als dies heute geschieht. Wie in den meisten, selbst neueren und eleganten Stadtwohnungen fehlte es, zum Beispiel auch in der unseren, so lange an einem Badezimmer, bis wir uns selbst eines einrichten ließen. Vorher wurde, wie in den meisten Mittelstandsfamilien, jede Woche einmal in irgendeinem Nebenraum durch die Diener einer Badeanstalt eine ungefüge Holzwanne geschafft und aus Fässern mit heißem Wasser gefüllt, in dem sich's der Reihe nach Papa, Mama, die Kinder und endlich die Dienstboten, so gut es ging, behagen ließen. Noch weniger Wert legte man begreiflicherweise auf eine höhere Kosmetik, wie zum Beispiel auf eine richtige Behandlung der Fingernägel; und von der Kunst des Essens hatte man speziell an unserem Tisch so wenig eine Ahnung, daß ich selbst erst im Lauf der Jahre zu meiner Beschämung von wohlmeinenden Freunden auf manche Unarten hingewiesen wurde, die man mir und meinen Geschwistern daheim hatte hingehen lassen, weil sie überhaupt nicht bemerkt worden waren. Was nun gar die körperlichen Übungen und Fertigkeiten anbetrifft, so sah mein Vater mit einiger Geringschätzung auf sie herab. Und da der Sport in seiner hygienischen, gesellschaftlichen oder gar in seiner rein sportlichen Bedeutung damals überhaupt erst in engen Zirkeln richtig gewürdigt, – oder gar, wie später, teils aus Überzeugung, teils aus Snobismus auf Kosten geistigerer Zerstreuungen überschätzt und übertrieben wurde, so waren auch etwaige Anlagen auf diesen Gebieten oft zur Verkümmerung oder zu verspäteter und daher unvollkommener Entwicklung bestimmt. In weitesten Kreisen wurde damals eigentlich nur der wohlfeilste, der Ursport sozusagen, das Turnen geübt. Aber da dieser Gegenstand im Gymnasium nicht obligat war und meinem Vater jeder Sinn dafür fehlte, wurde ich niemals dazu angehalten, und wußte[142] ohne Bedauern darauf zu verzichten. Anders stand es mit dem Fechtunterricht. Auch mein Vater mußte einsehen, daß ein Freiwilliger und zukünftiger Reserveoffizier doch notdürftig mit dem Säbel sollte umgehen können, und so machte ich einen Kurs bei dem Fechtlehrer Domaschintzky mit, einem graubärtigen, gemütlich-wilden Hünen, – nicht ohne vorübergehendes Interesse, aber ohne mich im geringsten hervorzutun. Etwas später machte ich mir in der Schule von Tippelt die Anfangsgründe des Reitens zu eigen. Aber wenn ich auch gelegentlich Spazierritte in Gesellschaft geübterer Freunde in den Wienerwald unternahm und später sogar solche in die Umgebung von London wagte, so hatte ich selbst die nicht sehr ehrenvolle Bezeichnung eines Sonntagsreiters doch immer noch eher als Schmeichel- wie als Spottwort für mich in Anspruch nehmen dürfen. Das Eislaufen trieb ich, da es mir mit allzuviel Umständlichkeiten verbunden schien und mich mehr Zeit kostete als es mir Vergnügen bereitete, gleichfalls sehr lässig; und nur ein paar Winter hindurch, jungen Damen zuliebe, ließ ich mich öfters auf die glatte Bahn verlocken, um, als solche Gründe wegfielen, auch diesen Sport ein für allemal aufzugeben. Daß man als junger Mensch, der praktischer Arzt werden und womöglich eine vorteilhafte Heirat machen sollte, im Tanzen nicht ganz ungeschickt sein dürfe, war so selbstverständlich, daß es hier wenigstens keinen häuslichen Widerstand zu überwinden gab. Und im Grunde war und blieb der Tanz der einzige Sport, bei dem, auch ohne jeden Nebensinn verstanden, mein Herz beteiligt war.
Kaum war ich in die Uniform geschlüpft – als hätte ich oder mein Schicksal nur ein banales Stichwort abgewartet –, fing ich bewußter an, auf das auszugehen, was man mit einem allzu heroischen Wort Eroberungen zu nennen pflegt. Schon im vorigen Jahr hatten meine Beziehungen zum weiblichen Geschlecht einen immer lebhafteren, aber zugleich unpersönlicheren Charakter angenommen, und nur eine hübsche sechzehnjährige Blondine tritt aus der Reihe der trivialsten Viertelstundenabenteuer mit etwas zarteren Zügen hervor.
Sie hieß Helene, war Norddeutsche, Berlinerin glaube ich, hielt sich, angeblich auf einer Vergnügungsreise mit ihrem Liebhaber begriffen, in Wien auf, – und die Kosten für das gemeinsame Abendessen, das wir zu viert bei einer freundlichen[143] Vermittlerin zu uns nahmen, sowie für alles Folgende trug einer meiner Bekannten, der, etwas älter, etwas erfahrener und etwas wohlhabender als ich, das bescheidene Fest arrangiert hatte. Am Tage drauf fuhr eine junge Dame, die Helenen zum mindesten sehr ähnlich sah, im Fiaker an der Seite eines eleganten Herrn an mir vorüber; und da die im ganzen doch etwas mittelmäßige Angelegenheit durch einen novellistischen Abschluß nur gewinnen konnte, entschied ich mich endgültig dafür, daß das vorbeisausende Paar meine Blondine von gestern nacht und ihr betrogener Liebhaber gewesen sein müßten.
Auch bei dem ersten Abenteuer, das mir als Freiwilliger beschieden war, fehlte das zweite Pärchen nicht. Unter meinen Kameraden befand sich ein gewisser Hiero Stössel, ein kleiner, dicker, überaus häßlicher und finniger, nicht gerade dummer Bursche, der sich überdies durch eine ans Unglaubliche grenzende Lügenhaftigkeit so weit als problematisch kennzeichnete, daß dieser Umstand als Grund oder Entschuldigung für meinen Verkehr mit ihm ausreichen mag. Er hatte augenblicklich eine Liebschaft mit der Tochter eines pensionierten Majors aus ungarischem Adel, die sich – es gibt Spezialismen aller Art – ausschließlich mit militärärztlichen Eleven in Beziehungen einließ. Mit jedem allerdings nur auf kurze Zeit. Und so erschien sie denn eines Abends vor dem Tor des Krankenhauses, wo Hiero und ich ihrer warteten, mit einer ganz unhübschen Genossin, die Freund Hiero in dieser Stunde geradeso zum erstenmal von Angesicht erblickte wie ich die Majorstochter. Diese, trotz ihrer fast ärmlich zu nennenden Kleidung eine nicht unedle Erscheinung mit angenehmen, doch blassen und verlebten Zügen, wandte sich verabredetermaßen sofort mir zu, und ohne weitere Förmlichkeiten nahm man den Weg in einen jener trübseligen, kleinen Gasthöfe, wo die Gäste mehrmals des Tages zu wechseln pflegen. Trotzdem Irma und ich lebhaftes Gefallen aneinander gefunden hatten, kam es zu keiner weiteren Zusammenkunft, und nach den ziemlich erschreckenden Mitteilungen, die ich bald darauf über ihren Lebenswandel und ihren Gesundheitszustand erhielt, von dem übrigens Hiero zweifellos unterrichtet gewesen war, durfte ich mir gratulieren, bei dieser ersten und letzten Liebesstunde mit der Majorstochter glimpflich davongekommen zu sein.[144]
Ein liebenswürdigerer Genosse als jener unerbauliche Hiero wurde mir in diesem Militärjahr mein Kollege und Vetter im zweiten Grad, Louis Mandl, in dessen Hause ich schon auf Grund der nahen Verwandtschaft von Kindheit auf gelegentlich verkehrt hatte. So war mir auch sein Vater längst bekannt, Dr. Ferdinand Mandl, der, aus Rumänien eingewandert und reich verheiratet, sich als noch junger Arzt bei einer gynäkologischen Untersuchung mit einer blennorrhoeischen Bindehautentzündung infiziert hatte und binnen weniger Tage völlig erblindet war. Als über die Unheilbarkeit des Übels kein Zweifel mehr bestehen konnte, auch für den Kranken selbst, hatte der berühmte Okulist Arlt am Krankenbett wie zufällig das nun nutzlos gewordene Atropinfläschchen zurückgelassen, in der später eingestandenen Erwartung, sein unglücklicher Patient und ehemaliger Schüler würde die Gifttropfen nun auch zu einem andern als dem nun abgetanen Heilzweck zu verwenden wissen. Doch der erblindete Arzt, als Gatte und Vater von mehreren Söhnen, entschied sich nach schwerem innerem Kampf dafür, seiner Familie und seinem Berufe weiterzuleben. Sein Gebrechen aber, fern davon, ihm in der Praxis Abbruch zu tun, verschaffte ihm vielmehr allmälig, besonders unter seinen Landsleuten und Glaubensgenossen, den Ruf eines Wundermannes. Das an Anbetung grenzende Vertrauen, das ihm von den Hilfesuchenden, die zärtliche Liebe, die ihm von den Seinen, die Ehrfurcht, die ihm auch von Fernerstehenden entgegengebracht wurde, half gewiß mit, ihn sein Schicksal mit Ergebung und Würde, ja vielleicht wie ein gottgesandtes tragen zu lassen, dazu bestimmt, im unergründlichen Zusammenhang der Dinge andern Leidenden zum Heile zu gereichen. Jedenfalls ging von seinem edlen Antlitz, über dessen einem Auge er stets eine schwarze Binde trug, mit dem wallenden grauen Haupthaar und dem langen Patriarchenbart ein so milder, gleichsam priesterlicher Schein aus, daß auch Schwerkranke hoffen durften, in seiner Nähe, wenn auch nicht gerade Heilung der Leiden, so doch ein nachahmungswürdig hohes Beispiel seelischer Gefaßtheit zu finden.
Von seinen drei Brüdern waren zwei Kaufleute, die auf der Börse mit Getreide handelten. Von dem einen, Ludwig, der mit einer jüngeren Schwester meiner Mutter vermählt war, habe ich schon erzählt, dem anderen, Bernhard, bin ich immer nur flüchtig[145] begegnet; merkwürdiger als diese beiden war mir der jüngste Bruder Ignaz, der sich, nach etwas unsteter und erfolgloser Lebensführung als Hofmeister und später Doktor der Medizin, der Politik zugewandt hatte und damals als Wiener Gemeinderat eine mehr laute als gedeihliche Tätigkeit entwickelte. Er trat, ohne tiefere innere Berechtigung, als Antikorruptionist auf und bildete anfangs mit Dr. Lueger zusammen gewissermaßen eine Partei für sich. Bald schlossen sich andere fragwürdige Ethiker an, und aus dem antikorruptionistisch-demokratischen entstand allmälig der antisemitische Flügel des Gemeinderates, natürlich nicht, weil sich etwa unter den Juden mehr korrupte Elemente befunden hätten als unter den Andersgläubigen, sondern weil es der großen Masse viel einleuchtender erschien und daher raschere politische Erfolge versprach, wenn man eine streng umschriebene Menschengruppe, und nun gar die hiefür auch ohne gelben Fleck vorbestimmte Judenschaft, kurzerhand als die korrupte denunzierte, – als wenn man sich erst hätte die Mühe geben sollen, aus den verschiedenen Ständen und Konfessionen von Fall zu Fall irgendein verdächtiges Subjekt herauszuholen und der sittlichen Entrüstung auszuliefern. Sobald sich der Antisemitismus in seiner vollen Deutlichkeit erklärt und durchgesetzt hatte, mußte Ignaz Mandl als eines seiner ersten Opfer fallen, und sein einstiger, sein erster Kampfgenosse, Lueger, schritt bald, ohne sich mit einem Blick nach dem gestürzten Freunde umzuwenden, auf dem zükunftsträchtigen Wege vorwärts, an dessen Ende ihm das ersehnte Ziel seines Ehrgeizes, die bürgermeisterliche Würde, winkte. So unbedenklich er die niedrigsten Instinkte der Menge und die allgemeine politische Atmosphäre für seine Zwecke zu nützen wußte, im Herzen war er, auch auf der Höhe seiner Popularität, sowenig Antisemit als zu der Zeit, da er im Hause des Dr. Ferdinand Mandl mit dessen Bruder Ignaz und anderen Juden Tarock spielte. Es gab und gibt Leute, die es ihm als Vorzug anrechnen, daß er auch in seiner stärksten Antisemitenzeit persönlich für viele Juden eine gewisse Vorliebe beibehalten und daraus gar kein Hehl gemacht hatte: Mir galt gerade das immer als der stärkste Beweis seiner moralischen Fragwürdigkeit. Oder sind die sogenannten reinlichen Scheidungen zwischen den Forderungen der politischen Parteistellung einerseits und den privat menschlichen Überzeugungen, Erfahrungen und Sympathien[146] auf der anderen Seite wirklich etwas so Reinliches, als mit dieser Bezeichnung ausgesagt wird? Ich glaube ganz im Gegenteil, daß es gerade dem Menschen von seelischem Reinlichkeitsgefühl nicht gegeben ist, solche Scheidungen durchzuführen oder gar ihrer froh zu werden.
Übrigens waren es damals, im Dezember 1882, weder Lueger noch die anderen Tarockspieler, um die ich mich sonderlich bekümmerte: Was mich ins Haus meines Kollegen Louis zog, war, außer seinen, insbesondere an Sonn- und Feiertagen zahlreich auftretenden, hübschen Cousinen, vor allem eine junge Dame, die als Stütze der Hausfrau und als Gesellschafterin des Fräulein Nancy, einer wie eine Ziehtochter in der Familie aufgenommenen Verwandten, ganz wie eine Gleichgestellte im Hause lebte. Else von Kolsch stammte aus einer verarmten polnischen Adelsfamilie, war eben noch hübsch und schien bei einigem Verstand und leidlicher Bildung von ernstem, beinahe verschlossenem Wesen. Eines Abends, – wir hatten uns bis dahin noch nicht gar oft und kaum je ohne Zeugen miteinander unterhalten – begegnete sie mir zufällig auf der Stiege, und nach ein paar belanglosen, durchaus konventionellen Redensarten, lagen wir uns ganz plötzlich in den Armen, ein stummes, gegenseitiges Versprechen, das wenige Tage später, ohne weitere Mahnung im vollen Umfang eingelöst wurde. Zum erstenmal ward mir nun das immer wieder reizvolle Erlebnis, ein Geschöpf, das ein paar Stunden vorher rückhaltlos hingegeben mir am Herzen geruht, in Gesellschaft, unter Leuten, denen unser Verhältnis ein Geheimnis war und bleiben mußte, mir unschuldig-damenhaft gegenübertreten zu sehen. Und hatte man am Nachmittag auf zerknüllten Polstern gemeinsam Schokoladekastanien und andere Süßigkeiten genascht, so saß man einander vielleicht am selben Abend noch an der Familientafel wohlanständig und zugeknöpft gegenüber, tauschte gleichgültige Worte von übertriebener Harmlosigkeit, denen es doch an versteckten Beziehungen nicht fehlte, die einen unmerklich erröten und lächeln machten, trank einander mit Blicken zu, die keiner merken sollte, und zum Abschied küßte man das geliebte Händchen, als hätte man, oder wie es in jenem Gedicht heißt, das ich diesem Erlebnis widmete: »Als hätt' ich deinen Nacken nie geküßt.« Aber diese Blicke, die niemand merken sollte, und andere leise Zeichen geheimen Einverständnisses, sie waren vielleicht[147] den Sehenden, doch dem blinden Doktor waren sie nicht entgangen. Ob es nun freundschaftlich-väterliche Besorgnis oder auch ein wenig die hilflose vage Eifersucht des Alternden war, die ihn sehend gemacht und zu andeutungsvollen milden Mahnungen an Else veranlaßt, – ob sie selbst ihm, reuevoll oder unbewußt grausam, mehr gebeichtet als er vermutet oder erraten hatte, das waren Erwägungen, die mich damals nicht sonderlich kümmerten. Else für ihren Teil, von den fürsorglich-salbungsvollen Worten des ehrwürdigen Blinden tief berührt, gab mir den Entschluß kund, von nun an mir nur noch Freundin sein zu wollen, ein Entschluß, den ich, nachdem ich ihn einige Male mit viel Erfolg ins Wanken gebracht hatte, mit einem Gedicht quittierte, das sie nie zu Gesichte bekam und das mit den etwas geckischen Versen schloß: »Auch dieses Strumpfband schick' ich dir zurück, ich fand es heute früh in meinem Bette.« So nahm ich vorläufig Abschied von ihr, um so leichteren Herzens, als ich nie wirklich in sie verliebt gewesen war und mich ein neues, heitereres Glück erwartete, ja, sogar schon gefangenhielt.
Es ging gegen Ende des Faschings, als ich meinen Freund Louis auf ein Vorstadtkränzchen begleitete, wo ihn eine hübsche Cafetiersgattin hinbeschieden hatte, um deren Gunst er sich – wie ich in dem Kaffeehaus, wo die Sache sich entsponnen, zu beobachten glaubte – minder stürmisch bewarb, als sie um die seine. Die Drei-Engel-Säle, in denen der Hausball stattfand (wie derlei Veranstaltungen hießen, auch wenn jeder Fremde für geringes Entgelt an der Kasse ein Billet lösen konnte), zeichneten sich nicht so sehr durch Glanz und Vornehmheit als durch eine gewisse altväterische Gemütlichkeit aus. Im Hauptlokal wurde getanzt, in den angrenzenden Wirtshausräumen saßen bei Speis und Trank die Honoratioren, sonntäglich angetan, Ballväter, -mütter und sonstige Verwandte, größtenteils einem mittleren, wohlhäbigen Bürgerstand angehörig, und überall mischte sich Bier- und Zigarrenduft mit dem Geruch von Blumen und bescheidenen Parfums, den die tanzenden Töchter in ihren hellen oder bunten Sommerkleidern um sich verbreiteten. Fehlte es auch unter den Tänzern keineswegs an Hausherrnsöhnen vom Grund und anderen Vorstadtelegants, so traten wir zwei Einjährig-Freiwilligen in offiziersmäßiger Uniform, denen hier das Odium des Mosesdragonertums kaum[148] anhaftete, in diese Gesellschaft – ich will nicht gerade behaupten wie Prinzen aus dem Märchenland – aber doch meinem Gefühl nach wie Erscheinungen aus einer anderen, etwas höheren Welt; und ob wir nun um dieses Umstandes willen von den eingesessenen und eingetanzten Herren mit Hochachtung oder mit Mißvergnügen betrachtet wurden, – keineswegs konnten wir was Klügeres tun, als uns mit einer in solchen Fällen höchst ratsamen Leutseligkeit unters Volk zu mischen und darin unterzutauchen. Ich für meinen Teil beeilte mich, eine sehr hübsche, kleine Blondine zum Tanz aufzufordern; und als wir in einer Pause, hin und her spazierend, zufällig in einen Nebenraum gerieten, der eigentlich einer riesigen Rumpelkammer glich, mit einem langen ungedeckten Tisch, umgestürzten Sesseln, unbeleuchtet, an anderen Tagen offenbar als eine Art Klublokal in Anspruch genommen, wurde unsere Unterhaltung so lebhaft, daß wir den Raum nach einigen Minuten schon um vieles vertrauter verließen, als wir ihn betreten hatten. Wir wiederholten den Besuch in jeder Tanzpause, verweilten gelegentlich aber auch an dem Wirtshaustisch, wo Annis Vater, ein kleiner, graubärtiger Herr im Bratenrock, der ernsthaft ein Glas Bier nach dem andern trank und seine Zigarre aus einem langen weißen Spitz rauchte, und Annis Mutter, deren Erscheinung mir nicht im Gedächtnis verblieben ist, dem Treiben der Jugend zusahen; – ohne sich im geringsten zu beunruhigen, wenn das Töchterchen mit seinem Tänzer, der nun immer der gleiche war, auf kürzere oder längere Zeit aus ihrem Gesichtskreis oder auch aus dem Ballsaal verschwand. Ob sich mein Freund Louis mit der Cafetiersgattin ebenso gut unterhielt, wie ich mit meiner neuen Zufallsbekanntschaft, weiß ich nicht zu berichten, ja, ich erinnere mich nicht einmal, ob die Cafetiersgattin überhaupt auf dem Ball erschienen war. Alle Gestalten dieser holden Karnevalsnacht sind mir wie Schatten, unter denen ich mich und die blonde Anni als die einzig Lebendigen im Tanz dahinschweben oder in einer halbdunkeln Ecke einander küssen und herzen sehe, während ernsthaft und verschlafen, mit kaltgewordener Zigarre, das Glas Bier vor sich auf dem Tisch, der graubärtige Vater in seiner gleichgültigen und entrückten Episodenrolle sich bescheidet.
Daß Anni trotz ihres unschuldsvollen Gesichtchens und ihrer kindhaften Gestalt schon manches erlebt hatte, darüber durfte[149] ich mich nach der Unbedenklichkeit, mit der sie in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft meine Zärtlichkeiten erwidert, und der glühenden Erfahrenheit ihrer Küsse keiner Täuschung hingeben, und auf dem ersten abendlichen Spaziergang, wenige Tage später, vertraute sie mir mit der halben Aufrichtigkeit, die bei der Einleitung solcher Beziehungen nicht wohl zu umgehen ist und die zugleich einen Reiz mehr bedeutet, daß sie zwar schon einigen Männern sehr nahegestanden, aber nur einen wahrhaft geliebt habe und eigentlich noch immer liebe: einen zu jener Zeit ziemlich populären, übrigens verheirateten Kapellmeister eines kleinen Orchesters, das in Wirtshäusern zum Tanz oder auch nur zur Unterhaltung aufzuspielen pflegte. Von diesem Vorstadt-Don-Juan war sie in die Hoffnung gekommen, hatte es aber vorgezogen, ihrem Zustand ein gewaltsam-vorzeitiges Ende zu bereiten; und so gehörte sie, in der mahnenden Erinnerung jenes peinlichen Zwischenfalls und durch ihr Temperament doch immer wieder in neue Liebesabenteuer getrieben, zu den fast bedauernswerten weiblichen Geschöpfen, die von einem Monat zum andern in einem steten Wechsel von Leichtsinn und Angst dahinzuleben verdammt sind. Doch war in ihrer Seele Leichtsinn das stärkere Element; und so verlief auch unser, nur kurz währendes Verhältnis, abgesehen von wenigen unruhvollen Tagen, in deren Sorgenbann sie sich mit einem rasch wieder gebrochenen Eid verschwor, mir jemals wieder anzugehören, beinahe ungetrübt; und da ich für meine Person mich völlig ohne Verantwortung fühlte, und überdies trotz einiger Verliebtheit noch nicht, wie bei späteren Gelegenheiten, von Eifersucht auf Vergangenheit und Zukunft gepeinigt wurde, so zählen die spärlichen Stunden, die mir in Annis Armen vergönnt waren, zwar nicht zu den leidenschaftlichsten und tiefsten, doch zu den angenehmsten und heitersten Erinnerungen meiner Jugendzeit. Und wäre ich etwa in einem bösen Prüfungstraum verpflichtet, einem pedantischen Literaturprofessor unter den Mädchen, die ich gekannt, eines als das eigentliche Urbild des süßen Mädels zu bezeichnen, so könnte es nur die kleine, blonde Anni sein, mit der ich mich auf einem Familienball in den Drei-Engel-Sälen im ersten Walzer fand und verstand, die verdorben war ohne Sündhaftigkeit, unschuldsvoll ohne Jungfräulichkeit, ziemlich aufrichtig und ein bißchen verlogen, meistens sehr gut gelaunt und doch manchmal[150] mit flüchtigen Sorgenschatten über der hellen Stirn, als Bürgertöchterchen immerhin nicht ganz wohl geraten, aber als Liebchen das bürgerlichste und uneigennützigste Geschöpf, das sich denken läßt. Und war sie eben noch in dem behaglichen, wohlgeheizten Kämmerchen, in das sie mir immer erst nach einigem Zögern folgte, im Zauber der Stunde selig verloren, die ausgelassen-zärtliche Geliebte gewesen, so mußte sie nur über die schwach beleuchtete Treppe, durch den halbdunklen Hausflur, aus der verschwiegen-dämmerigen Nebengasse in den nüchtern-grellen Laternenschein der Hauptstraße treten, um sich, ein unauffälliges, kleines Bürgerfräulein unter vielen anderen, mit unbefangen hellem Aug, in das Gewimmel der abendlichen Geschäfts-, Spazier- und Heimwärtsgänger zu schicken; und eine Viertelstunde darauf erschien sie gewiß, zwar etwas verspätet, aber harmlos lustig und Lustigkeit um sich verbreitend, als das brave, schlimme Töchterchen am Familientisch und brachte, ob man's nun glauben wollte oder nicht, eine schöne Empfehlung von dem Kaufmann, wo sie irgend was besorgt, oder einen Gruß von der Freundin, mit der sie sich wie gewöhnlich ein bißchen verplaudert hatte. Und merkte die Mutter vielleicht, während das anmutige Kind mit Appetit ihr aufgewärmtes Nachtmahl verzehrte, daß die Zöpfe nicht genauso gesteckt waren wie am Nachmittag, da man sich nach dem Kaffee so eilig davongemacht hatte, so unterließ sie lieber naheliegende Bemerkungen und Fragen, warf einen Seitenblick auf den seit jeher so vertrauensvollen Vater, der eben die Zigarre in den weißen Papierspitz steckte, und dachte, möglicherweise nicht ohne Wehmut, aber kaum besonders reuevoll, an eine Zeit zurück, da sie selbst noch ein junges und möglicherweise sogar ein süßes Mädel gewesen war.
Eines schönen Nachmittags im Vorfrühling ereignete es sich, daß ich Anni an der gewohnten Straßenecke zu der verabredeten Stunde vergeblich erwartete, – und damit war die Geschichte aus. Als ich ihr im Herbst desselben Jahres zufällig begegnete, behauptete sie, sie habe sich damals nur verspätet, und ich wäre nur zu früh fortgegangen. Warum weder sie mir noch ich ihr nach diesem verunglückten Stelldichein ein Wort geschrieben, blieb unerörtert. Jedenfalls aber gab sie mir zu verstehen – mit jener Dreiviertelaufrichtigkeit, die nach Abschluß solcher Liebesbeziehungen vorzukommen pflegt, aber dann nicht[151] immer einen Reiz mehr bedeutet, – daß sie schon seit geraumer Zeit einem andern angehöre. Ich habe sie nicht wiedergesehen und erst zehn oder zwölf Jahre später wieder von ihr gehört, als ein Freund, dem ich von allerlei verflossenen Jugenderlebnissen erzählte, in Anni nach Namen und Adresse eine junge Dame erkannte, mit der einer seiner Bekannten ein sehr ernsthaftes, damals noch bestehendes Verhältnis unterhielt.
Die paar Gedichte, die ich an oder vielmehr über sie geschrieben, – denn auch in diesem Fall legte ich keinen Wert darauf, von der Angebeteten als Poet geschätzt zu werden – wären weiter nicht der Rede wert, wenn ich nicht dieses einzige Mal mich auch im Volkston versucht hätte. Aber das Künstliche meines Unternehmens verriet sich schon darin, daß ich das süße Wiener Mädel im Refrain statt Anni – Annerl wäre noch besser gewesen – Ännchen zu titulieren mich verpflichtet glaubte, als wäre sie nicht auf der Wieden, Kettenbrücken- oder Schleifmühlgasse, sondern in Tharau oder Berlin zu Hause gewesen. Einen Brief hatte ich niemals von ihr erhalten, aber eine Photographie bewahre ich noch auf, wo ein weißer Spitzenschleier ihr ein etwas theatralisches, ihrem Wesen durchaus nicht gemäßes Aussehen verleiht, und man sich versucht fühlte, sie weder als Anni noch als Ännchen, sondern als Annette, wenn nicht gar als Beatrice anzusprechen. Aber was sind Bilder?! Was sind Briefe, wenn man sie hätte? Was sind Schilderungen und Berichte? Nun, da ich zu Ende bin – und wie oft wird's mir noch so ergehen – weiß ich, daß ich im Grunde nichts von ihr erzählt habe.
Die ihr folgte, hieß Therese und war die vielumworbene Kassierin meines Stammcafés, in dem ich vormittags Billard, nachmittags Karten, abends Billard und Karten, nachts Karten und Billard zu spielen pflegte. Ich hatte sie wahrscheinlich mit Recht im Verdacht, mit dem Zahlkellner sehr liiert zu sein, der übrigens ein Lebemann war und beträchtlich eleganter aussah als die meisten Stammgäste, die er bediente und von denen er sich Geld auslieh. Eines Nachmittags, auf dem Weg ins Café, traf ich zufällig Therese, die es eben verließ, wir verstanden und verständigten uns rasch, und nach einer Praterfahrt im geschlossenen Fiaker verbrachten wir den Abend sehr vergnügt in einem noch abgeschlosseneren Raum. Sie war sehr hübsch und trällerte öfter als notwendig einen damals sehr beliebten[152] Operettenrefrain: »Die Lieb' erfordert Studium, und wer nur einmal liebt, bleibt dumm, dumm, dumm.« Das nächste Mal, es war ein heller Frühlingstag, aus dem wir uns in die Dämmerung herabgelassener Vorhänge geflüchtet hatten, war sie sentimental und seufzte an meinem Hals: »Endlich hat man einen gefunden, den man wirklich gern haben könnte, und da muß man fort.« Denn sie war aus ihrer Stellung geschieden, reiste wenige Tage später in ihre Heimat ab, und bald nach ihr verschwand auch der elegante Zahlkellner aus dem Café, der sich in der letzten Zeit öfters mit ihr an der Kasse auffallend und in düsterem Flüsterton unterhalten hatte. Er ließ zahlreiche Gläubiger zurück; aber bei der Geringfügigkeit meines Taschengeldes, das mich verhindert hatte, seinen Wünschen zu entsprechen, hatte gerade ich keinen Anlaß, ihm nachzuweinen. Theresen aber zollte ich meinen Dank in einem jener heinesierenden Gedichte, zu denen ich mich damals, nicht so sehr meinen Angebeteten als mir selbst gegenüber, offenbar verpflichtet glaubte.
Alle diese kleinen Liebschaften beschäftigten mich innerlich nicht allzusehr und kosteten mich nicht einmal beträchtlichen Aufwand an Zeit. Mehr und nutzlosere Stunden forderten Billard und Karten, so daß für den Besuch von Vorlesungen und für das Studium nur wenige übrigblieben. Auch der Dienst im Garnisonsspital war kaum dazu angetan, meine medizinische Weiterbildung zu fördern. In den ersten Monaten war ich dem Leichenhof zugeteilt, wo ich den Sektionen beizuwohnen und, wenn die Reihe an mich kam, das Protokoll zu führen hatte. Der Abteilungschef, ein zur pathologischen Anatomie kommandierter Regimentsarzt, tat nichts dazu, die wissenschaftliche Teilnahme seiner Untergebenen anzuregen. Jede zweite Woche war die eine Hälfte der dem Leichenhof zugeteilten Eleven gänzlich dienstfrei und mußte nur, wie die übrigen, täglich im Spital erscheinen, – zur Entgegennahme des »Befehls«, der die üblichen Belanglosigkeiten enthielt. Nach zwei Monaten wurde ich auf die Abteilung des Stabsarztes Professor Chvostek versetzt, eines sehr tüchtigen Praktikers, der auch wissenschaftlich tätig und in hohem Maß dem Trunk ergeben war. Damals arbeitete er speziell über Entzündung der Pfortader und war daher bemüht, unter den seiner Behandlung anvertrauten Soldaten möglichst viel Fälle dieser außerordentlich seltenen[153] Krankheitsform zu entdecken. Ich weiß mich nicht zu erinnern, ob je eine Sektion seine Diagnose bestätigt hat. Jedenfalls sah ich mich hier zum erstenmal einer jener Monomanien gegenüber, die man fast als Berufskrankheit wissenschaftlich beflissener und zugleich ehrgeiziger Mediziner zweiten oder dritten Ranges bezeichnen könnte. Nach dem Tode des berühmten Internisten Bamberger hatte sich Chvostek mit der Hoffnung geschmeichelt, dessen Nachfolger zu werden. Als nun Nothnagel von Jena auf die verwaiste Lehrkanzel berufen wurde, machte unser Stabsarzt kein Hehl aus seiner Geringschätzung des neuen Klinikers und hörte es gern, wenn man ihn von dessen angeblichen Fehldiagnosen und ähnlichem mehr oder minder verbürgten Spitalsklatsch unterhielt. Einige meiner Kameraden wußten sich durch solche Zuträgereien bei ihm in Gunst zu setzen, und auch ich, sonst wahrlich nicht liebedienerisch veranlagt, glaubte einmal, meinen Chef mit der Mitteilung erfreuen zu sollen, daß Nothnagel neulich eine Pleuritis konstantiert und die Leichenschau einen Hydrothorax ergeben habe. »Das ist ja ein Teufel«, erwiderte Chvostek leichthin, was freilich nicht völlig stimmte, mich aber doch rascher, als es nach einem Erfolg der Fall gewesen wäre, die Kläglichkeit meines Beginnens in heilsamer, vielleicht für mein Leben nachwirkender Beschämung empfinden ließ.
Die eigentlichen Universitätsvorlesungen konnte man als Einjährig-Freiwilliger Mediziner nur unregelmäßig besuchen. Aber selbst die Stunden von zwölf bis zwei, in denen fleißigere Kameraden Geburtshilfe bei Späth hörten, benützte ich mit einigen anderen meist dazu, mein Mittagmahl einzunehmen, so daß nichts mich abhielt, schon um zwei den Billardqueue zu schwingen. Im Riedhof hatten wir einen Stammtisch, an dem Louis Mandl und ich selten fehlten; auch Armin Petschek, ein braver, tüchtiger Kollege, heute Bezirksarzt in Wien, sowie der fleißige und gefällige Sigmund Dynes, der es, in Militärdienst verbleibend, allerdings bis zum Oberstabsarzt brachte, nahmen meist an dem gemeinsamen Mittagessen teil; und als einziger Zivilist Theodor Friedmann, der vom Schicksal als Urbild des Doktor Friedrich Witte im »Märchen« vorbestimmt war, was wir beide damals nicht ahnten. Gleich Louis Mandl und mir war er Arztenssohn (sein Vater leitete die Wasserheilanstalt in Gainfarn), ein hübscher, recht eleganter, liebenswürdiger, nicht sonderlich[154] strebsamer und nur mäßig begabter junger Mann, von dem mir aus der damaligen Zeit eine Äußerung, nicht so sehr durch ihre Bedeutung als durch den Eindruck, in Erinnerung geblieben ist, den sie auf uns Tischgenossen hervorbrachte. Es war vom Duell die Rede, und wir alle, ohne uns gerade als prinzipielle Anhänger dieser Sitte zu fühlen, betonten aus unserem Studententum heraus und mehr noch als Einjährig-Freiwillige und künftige Reserveoffiziere unsere Bereitschaft, erforderlichenfalls ritterliche Satisfaktion zu geben. Nur Theodor erklärte, daß er sich unter keiner Bedingung schlagen würde, und zwar einfach darum, wie er auf unsere Frage lächelnd erwiderte, weil er feige sei. Nicht so sehr die keineswegs feststehende Tatsache seiner Feigheit, als der Mut seines Bekenntnisses war es, der uns verblüffte; was wir damals freilich weder ihm noch uns selber zugestanden hätten. Wir waren zwar alle weder Raufbolde noch besonders tüchtige Fechter, und keiner von uns lechzte daher nach einem Waffenhandel, aber ebensowenig hätte es einer versucht, sich einer studentischen Mensur oder selbst einem Duell zu entziehen, wenn es den geltenden Regeln nach als unausweichlich gegolten hätte. Die Frage war damals für uns junge Leute, namentlich für uns Juden, sehr aktuell, da der Antisemitismus in den studentischen Kreisen immer mächtiger emporblühte. Die deutschnationalen Verbindungen hatten damit begonnen, Juden und Judenstämmlinge aus ihrer Mitte zu entfernen; gruppenweise Zusammenstöße während des sogenannten »Bummels« an den Samstagvormittagen, auch an den Kneipabenden, auf offener Straße zwischen den antisemitischen Burschenschaften und den freisinnigen Landsmannschaften und Corps, deren einige zum großen Teil aus Juden bestanden (rein jüdische schlagende Verbindungen gab es damals noch nicht), waren keine Seltenheit; Herausforderungen zwischen Einzelpersonen in Hörsälen, Gängen, Laboratorien an der Tagesordnung. Nicht allein unter dem Zwang dieser Umstände hatten sich viele unter den jüdischen Studenten zu besonders tüchtigen und gefährlichen Fechtern entwickelt; müde, die Unverschämtheit und die Beleidigungen der Gegenseite erst abzuwarten, traten sie ihrerseits nicht selten provozierend auf, und ihre immer peinlicher zutage tretende Überlegenheit auf der Mensur war gewiß die Hauptursache des famosen Waidhofener Beschlusses, mittels dessen die[155] deutsch-österreichische Studentenschaft die Juden ein für allemal als satisfaktionsunfähig erklärte. Der Wortlaut dieses Dekretes soll an dieser Stelle nicht übergangen werden. Er lautete folgendermaßen: »Jeder Sohn einer jüdischen Mutter, jeder Mensch, in dessen Adern jüdisches Blut rollt, ist von Geburt aus ehrlos, jeder feineren Regung bar. Er kann nicht unterscheiden zwischen Schmutzigem und Reinem. Er ist ein ethisch tiefstehendes Subjekt. Der Verkehr mit einem Juden ist daher entehrend; man muß jede Gemeinschaft mit Juden vermeiden. Einen Juden kann man nicht beleidigen, ein Jude kann daher keine Genugtuung für erlittene Beleidigungen verlangen.« Dieser sozusagen offizielle Beschluß wurde allerdings erst einige Jahre später verkündigt; die Geistesverfassung, aus der er entstand, die Gesinnung, die er zum Ausdruck bringt, bestanden schon zu der Zeit, von der hier die Rede ist, Anfang der achtziger Jahre, wie auch die praktischen Folgerungen von beiden Seiten daraus gezogen wurden. Nicht immer, wenn es zu tätlichen Insulten gekommen war, und ganz besonders, wenn sich Offiziersehre mit Studentencomment nicht in Einklang bringen ließ, konnte das Waidhofener Prinzip so streng gewahrt werden, als es seinen Bekennern angenehm gewesen wäre; aber der Geist dieses Prinzips, die Idee, wenn man so sagen darf, triumphierte auf der ganzen Linie und, wie man weiß, nicht auf dieser Linie allein. Einer von den jüdischen Studenten, die, ehe die Dinge die oben geschilderte Wendung genommen, einer deutschnationalen Burschenschaft angehört hatten, war Theodor Herzl gewesen; den ich selbst noch mit der blauen Albenkappe und dem schwarzen Stock mit Elfenbeingriff, darauf das F.V.C. (Floriat Vivat Crescat) eingraviert war, in Reih und Glied mit seinen Couleurbrüdern umherspazieren sah; – daß diese ihn als Juden aus ihrer Mitte stießen, oder, wie das beleidigende Studentenwort hieß, »schaßten«, war zweifellos der erste Anlaß, der den deutschnationalen Studenten und Wortführer in der Akademischen Redehalle (wo wir einander, ohne uns noch persönlich zu kennen, an einem Versammlungsabend spöttisch fixiert hatten) zu dem vielleicht mehr begeisterten als überzeugten Zionisten wandelte, als der er im Gedächtnis der Nachwelt weiterlebt.
Der Hochschulantisemitismus ließ sich natürlich an seinen bedeutungsvollen Reformen auf dem Gebiet des studentischen Comments und der Mannesehre im allgemeinen nicht genügen,[156] – ein Gebiet, wo ihn rassentheoretische Spekulationen, also in gewissem Sinn das Walten einer Idee immerhin noch entschuldigen konnten; sondern wußte seine Tendenzen auch innerhalb von Vereinigungen durchzusetzen, die nichts mit Philosophie, nichts mit Politik und nichts mit den Phantomen der Standesehre zu tun, sondern ausschließlich humanitären Zwecken zu dienen hatten. So gab es an der Universität unter andern ähnlichen einen Verein, dessen Aufgabe es war, bedürftige, fleißige Studenten der Medizin monatlich mit Beiträgen von zwei bis fünf Gulden zu unterstützen. Es waren, wie die Dinge nun einmal lagen, hauptsächlich Juden aus Ungarn, auch aus Böhmen und Mähren, denen diese zum allergrößten Teil aus jüdischen Taschen fließenden Summen zufielen; – nicht immer sehr sympathische Erscheinungen, wie man zugeben muß, aber durchaus strebsame, zuweilen sehr begabte Jungen oder Jüngelchen und jedenfalls bedauernswerte arme Teufel, die vorher im Ghetto ihrer Heimat gedarbt hatten und nun in der Großstadt weiterhungerten. Die Verteilung der Unterstützungen erfolgte durch den Ausschuß, in den jeder Jahrgang zwei Mitglieder entsandte und dem ich seit meinem ersten Studiensemester angehörte. Alljährlich fand eine Generalversammlung statt, in der der Ausschuß seinen Rechenschaftsbericht erstattete und vom Plenum das Absolutorium zu erhalten pflegte, was viele Jahre hindurch ohne wesentliche Debatten geschehen war. Es war nun in meinem Freiwilligenjahr, vielleicht auch ein Jahr vorher oder später, daß in einer solchen Generalversammlung von deutsch-nationaler Seite die Forderung erhoben wurde, es dürften von nun an nur mehr deutsche, keine ungarischen und slawischen, das hieß also keine jüdischen Studenten der Unterstützung teilhaftig werden. Eine stürmische Diskussion erhob sich; es gab Interpellationen, Invektiven, Ordnungsrufe, kurz, die ganze Komödie der Parlamentsskandale im kleinen, und natürlich fehlte unter den Sprechern der christlich-germanischen Partei der getaufte Jude nicht, der, mit der falschen Objektivität des Renegaten, den Standpunkt der kläglichen, aber zum Teil wohl gutgläubig überzeugten Gesellen, bei denen er sich anzubiedern versuchte, so geschickt zu vertreten wußte, daß damals das Scherzwort geprägt wurde: Der Antisemitismus sei erst dann zu Ansehen und Erfolg gediehen, als die Juden sich seiner angenommen. Gelang auch der erste Vorstoß nicht vollkommen,[157] der nächste oder übernächste führte zum Ziel: Ich und meine freisinnigen Kollegen verloren ihre Mandate, und ein durchaus antisemitischer Ausschuß wurde gewählt. Mein persönlicher Nachfolger wurde ein fleißiger Mediziner meines Jahrgangs namens Mäusetschläger, ein aufgedunsener, blasser Tiroler Bauernstämmling, dem es bestimmt war, noch vor Vollendung seiner Studien an Miliartuberkulose zugrunde zu gehen. Sein äußeres Bild fließt mir zusammen mit dem eines andern Mediziners, den ich einige Jahre später an der Standthartner'schen Abteilung zu behandeln hatte, wo er mit Scharlach darniederlag. Als ich ihm wenige Tage nach seiner Genesung im Spitalsgarten begegnete, hielt er sich als mutiger Bekenner des Waidhofener Beschlusses für verpflichtet, ohne Gruß an mir vorbeizugehen. Aus der Vereinigung dieser beiden Gestalten erstand die Figur des Studenten Hochroitzpointner, dem in meiner Komödie »Professor Bernhardi« eine ziemlich charakteristische Rolle zugeteilt ist.
Das weitere Schicksal des medizinischen Unterstützungsvereins ist mir in seinen Einzelheiten nicht gegenwärtig. Keineswegs waren die Unruhen nach jenem ersten entschiedenen Sieg der antisemitischen Partei endgültig abgeschlossen. Bei späteren Versammlungen kam es zu Prügeleien, und als einmal oder öfters antisemitische Studenten mit Knüppeln und Stöcken über jüdische Mitglieder herfielen, die nach Abhaltung einer Besprechung den Hörsaal verließen, wurde der Verein behördlich aufgelöst. Es ist mir nicht bekannt, ob und unter welchen Bedingungen er sich später wieder konstituiert hat.
Auch unter den militärärztlichen Eleven, wie beinahe in allen Freiwilligenabteilungen – und wo nicht sonst! – fand eine – sagen wir auch hier »reinliche Scheidung« zwischen christlichen und jüdischen oder, da das nationale Moment immer stärker betont wurde, zwischen arischen und semitischen Elementen statt, und der außerdienstliche Verkehr hielt sich im allgemeinen in den engsten Grenzen. Von den Chefärzten war kaum einer den Juden wohlgesinnt; ohne daß man übrigens darunter irgendwie zu leiden gehabt hätte, nur einige der jüngeren Assistenz- und Oberärzte, soweit sie nicht selbst Juden waren, brachten ihre Gesinnung mit unerwünschter Deutlichkeit zum Ausdruck. Einer dieser Herren, Rudroff mit Namen, hoffte einmal, an mir sein Mütchen kühlen zu können, indem er mich und[158] einige Kameraden, die sich wiederholt zur Visite verspätet hatten, zum Rapport bestimmte, der uns jedenfalls einige Wochen Kasernarrest eingetragen hätte. Ich richtete darauf in meiner Kameraden und in meinem eigenen Namen an unseren Chef, den Stabsarzt Chvostek, die Bitte, uns den Rapport zu erlassen, was jener ohneweiters bewilligte. Dies meldete ich in streng dienstlicher Form dem Herrn Assistenzarztstellvertreter, der höchst erbost bei Chvostek anfragte, ob es mit der Nachsicht des Rapportes seine Richtigkeit habe, eine Belästigung, mit der er sich bei Chvostek, der aller Soldatenspielerei abhold gewesen war, einen von uns allen mit Freude begrüßten Rüffel holte. Übrigens konnte man es als Regel aufstellen: gerade die tüchtigsten Militärärzte dachten am wenigsten daran, ihr Soldatentum hervorzukehren, während die sogenannten »Kommißknöpfe« unter ihnen fast durchaus Ignoranten waren. Einige gab es freilich, die ein anständiges Wissen mit einem gemäßigten militärischen Gebaren zu verbinden wußten, und diese waren es, die sich der größten Beliebtheit erfreuten. So unter anderen die Regimentsärzte Gschirhakl und Trnka, welch letzterer, Internist wie Chvostek, ein paar Monate lang mein direkter Vorgesetzter, mich ein wenig bevorzugte, so daß mich Gschirhakl scherzweise seinen Adjutanten nannte.
Ich tat übrigens das Meine dazu, möglichst auf internen Abteilungen zu verbleiben. Auch der Stabsarzt Matzal, unter dem ich einige Zeitlang diente, war gewissermaßen Internist, aber von einer Indolenz und Unfähigkeit, die sich in gleicher Weise auf wissenschaftliches und militärisches Wesen erstreckte. Daß es für ihn überhaupt keine anderen Krankheiten gegeben hätte als Catarrhus pulmonum und Catarrhus ventriculi war allerdings Übertreibung, und daß er die Diagnose Ulcus rotundum (rundes Magengeschwür), die ein voreiliger Eleve auf die Kopftafel zu setzen wagte, wieder ausstreichen ließ mit der Bemerkung »So was gibt's bei uns nicht«, ist auch nichts anderes als eine boshaft erfundene Anekdote; aber beides, Anekdote wie Übertreibung, kamen der Wahrheit ziemlich nahe. Einer der Männer, die ihre Minderwertigkeit als Mediziner durch militärisch-rüdes Benehmen wettzumachen suchten, war der Regimentsarzt Guido von Török, Vorstand einer chirurgischen Abteilung, der wohl mit Rücksicht auf jene Eigenschaften dazu kommandiert war, uns Freiwillige im Exerzieren zu unterweisen,[159] wofür damals nur ein paar sommerliche Nachmittagsstunden vorgesehen waren. Da ich Anfang Juli einen vierzehntägigen Urlaub antreten durfte, hatte ich für den vorangehenden Nachmittag Dispens von der letzten Exerzierstunde erbeten und erhalten. Während einer Pause aus der Reihe tretend, ersuchte ich mit Hinweis darauf den Regimentsarzt, gehorsamst mich entfernen zu dürfen. Es wurde mir gewährt, aber das albern-unwirsche »Gehn S' zum Teufel!«, mit dem Doktor Guido von Török mich entließ, klang mir noch lange in fast symbolisch-übertreibender Stärke nach; – als hätte in den paar grundlos ungezogenen Kasernhofworten nicht nur der armselige Geist eines gleichgültigen Individuums, sondern einer ganzen Menschengruppe, ja einer Epoche sich eindringlich-widerwärtig ausgesprochen.
In diesem Jahr war ich besonders eifriger Besucher der Pferderennen geworden; und wenn es auch gewiß nicht ein eigentlich sportliches Interesse war, das mich in die Freudenau lockte, so lag doch nicht im Totalisateur ihre einzige oder auch nur ihre Hauptanziehungskraft für mich beschlossen. Es war vielmehr diese ganz wunderbare Atmosphäre von Leichtigkeit, Eleganz und Spiel, die meinen Sinnen schmeichelte. Landschaft und Staffage hatten ihren besonderen Reiz: der von fernem Wald umstandene Rasen, weiß umplankt, mit seinen Hürden und Gräben, die hageren Jockeys in windgebauschter, grellglänzender Seide, rot-, blau-, goldbeschärpt auf den nüsternsprühenden edeln Pferden, die dunkel zusammengeballte, gegen die Grenzen des Festplatzes zu sich verdünnende und verlierende Menge; – über all diesem Schwirren, Raunen, Flattern, Fluten ein blaßblauer Himmel, der mit kleinen weißen Wolken von den Wipfeln der Praterbäume sich zur ungarischen Ebene hinüberspannte; dazu das eigentümliche, etwas berauschende Gemisch von Heu-, Stall- und Wiesendüften und allerlei künstlichen Wohlgerüchen; – kein Wunder, daß man sich von einem Mal zum andern nach dem Zauber dieser Bilder und dieser Düfte zurücksehnte, und nach dem feuchtkühlen Hauch, der von der in der Nähe, doch unsichtbar vorüberfließenden Donau auch an schwüleren Sommertagen über diese Au der Freuden geweht kam. Meist befand ich mich mit meinen Bekannten auf dem sogenannten Guldenplatz unter Bürgern, Studenten, Commis, Bankbeamten und ihrem weiblichen Anhang, – mehr oder[160] minder harmlosen Leuten, denen die Rennen ein Sonntags- und Spielvergnügen bedeuteten wie ein anderes, – oder Gewohnheitswettern zweiten und dritten Rangs; – manchmal auch, wenn's mir sehr knapp zusammenging, trieb ich mich auf dem Zwanzigkreuzerplatz herum, also, wenn man will, unter dem Volk, das freilich mit wohlhabenden Elementen reichlich genug durchsetzt war. Zuweilen aber, zum Beispiel, wenn man das vorige Mal gewonnen hatte und etwa, statt mit der Eisenbahn anzukommen, im Fiaker durch die Hauptallee herangesaust war, spazierte man im gelben Überzieher und steifen Hut – bis zum Derbytag natürlich im Zylinder – den Operngucker umgehängt, im Sattelraum umher, unter Grafen, Bankiers, Bookmakern, Kavalleristen, Defraudanten, Sportsleuten, – von den vielfältigen Mischformen und Spielarten nicht zu reden; und fühlte sich so ganz dazugehörig, daß man, von snobistischen Anwandlungen leicht benommen, mit einiger Verachtung, ja wie auf eine ferne fremde Welt, zu jenen mitleidswürdigen oder auch komischen Menschen hinüber- und auf sie herunterschaute, die sich auf den billigeren Plätzen behelfen mußten oder sich es gar ohne dringende Notwendigkeit dort genügen ließen. Aber wo man sich nun aufhielt, im Sattelraum, auf dem Guldenplatz oder unter dem Volk, man war einer von denen, die hier zu Hause waren: man kannte die Farben der Ställe, das Pedigree der Rennpferde, hatte seine Lieblinge unter den Besitzern, den Reitern, den Pferden, wußte von ihren letzten Siegen und Niederlagen, erwog sorgfältig und fachmännisch ihre Chancen von heute und wettete dilettantisch und hazardfroh, um mit einem Schlage ein reicher Mann zu werden, für alle Fälle lieber auf den Outsider als auf den Favorit. Doch dies alles, wenn auch erregend und unruhvoll und wie von einem Hauch des Verbotenen durchwittert, war nur Vorbereitung oder Nachhall: wahrhaft köstlich und geheimnisvoll waren die Minuten, in denen der ganze Sinn dieses Treibens sich erst wirklich zu erfüllen hatte, – in denen die Landschaft, wie mit künstlerischer Absicht aufgestellt, gleichsam zur Kulisse eines wunderbaren Schauspiels wurde, in dem man beinahe ein Mitspieler war und man mit wanderndem Operngucker klopfenden Herzens das Rennen verfolgte, – unter den dahingaloppierenden Pferden immer das eine im Aug, auf das man sein Geld, ach, manchmal seinen letzten Gulden gewagt hatte. Auch wenn es zurückblieb,[161] aus dem Rudel sich nicht zu lösen vermochte, ja noch hundert Meter vor dem Ziel, wenn es als letztes lief, vom eigenen Reiter aufgegeben, – niemals, als hätte der Wunsch beflügelnde Kraft, gab man endgültig die Hoffnung auf, es noch als Erstes durchs Ziel gehen zu sehen. Und oft genug, auch wenn es als Zweites, Drittes, Viertes ankam, versuchte man sich einzubilden, es sei doch den andern voran gewesen oder hätte wenigstens ein totes Rennen gemacht, – bis endlich auf der großen, weithin leuchtenden Tafel neben der Richterloge, unwiderruflich und vernichtend, die Nummer des wirklichen Siegers aufgezogen wurde. Nun – hatte man auch diesmal wieder Pech gehabt wie gewöhnlich, schon der nächste Wettlauf konnte den Verlust zehn- und zwanzigfach einbringen; – schlimm war es nur, wenn man eben den Rest seines Vermögens hingeopfert, noch dazu für eine Angelegenheit, die einem eigentlich selbst von Anfang an recht dubios erschienen war; – und wenn nun ein Rennen kam, in dem man sich vermaß, den Sieger mit mathematischer Sicherheit oder, was noch besser war, intuitiv prophezeien zu können. Konnte ein anderes Pferd dieses Rennen, zu dem eben die Nummern aufgezogen wurden, machen, als dieser schwarzbraune Hengst von Lord Byron aus der »Kiss me quick«? Seht ihn euch doch an, meine Freunde, diesen Hengst, der neulich betrügerischerweise von seinem bestochenen Jockey verhalten worden war, auf den man nebstbei, seit er das erste Mal auf dem Turf erschienen, jedesmal gesetzt und jedesmal verloren hatte, und der heute endlich seinen treuen Anhängern die verdiente Genugtuung bringen sollte. Und noch schlimmer war es, wenn man nun versuchte, sich bei einem guten Freund, bei einem zweiten, dem man neulich selber ausgeholfen, bei einem dritten, dem eben das Glück gelächelt, sich zehn – fünf – zwei Gulden auszuleihen und man überall abgewiesen wurde, bis man sich endlich entschloß, für seine eigene Person zu verzichten, und allzu großmütig die lauen Freunde bat, beschwor, sie möchten doch wenigstens ihr eigenes Geld, alles, was sie überhaupt bei sich hatten, auf dieses todsichere Pferd anlegen, das ihnen zehnfachen Gewinn bringen würde; – und wenn man für seinen uneigennützigen Rat nur Spott und Hohn erntete, weil man sich neulich in einem ähnlichen Fall geirrt hatte! Aber am schlimmsten wurde es, wenn nun die Pferde alle zum Start gingen und man das erwählte sah, das herrlichste von allen,[162] dem der kommende Triumph aus den kühnen Nüstern dampfte, und die rote Fahne sich senkte und die Renner sich in Galopp setzten und das erwählte herrliche sich aus dem Rudel löste, sofort die Spitze nahm, um eine, fünfzehn, zwanzig Längen den andern voraussauste, und zwei Minuten später mit verhängten Zügeln unter dem Jubel der wenigen Glücklichen, die es gewettet, durchs Ziel jagte; – ja, das war das Allerschlimmste, fast ein Schmerz. Und nun stand man da mit leeren Taschen, ein bitteres Lächeln um die Lippen, und nichts blieb als die armselige Genugtuung, von einem der hartherzig-törichten Freunde zum andern hinzuschlendern und jedem ins Ohr zu raunen: »Nun, was hab' ich gesagt!« Fünfzehnfaches Geld, hundertfünfzig für zehn, fünfundsiebzig für fünf, und immerhin noch dreißig für zwei, das war ein Sümmchen, das allerlei bedeuten konnte – vor allem einen hübschen Fond für den nächsten Lauf, denn nun hätte man zwanzig Gulden gesetzt, natürlich wieder auf den letzten Outsider, der nach dem Gesetz der Serie selbstverständlich gewinnen mußte, überdies war es ein Hürdenrennen, bei dem man immer Glück hatte, und beim letzten, bei der Steeplechase, hätte sich das Gewonnene wieder verdoppelt oder vielleicht verzehnfacht: nichts wahrscheinlicher, als daß man mit ein paar hundert Gulden den Rennplatz verlassen hätte. Und das Geld bedeutete Havannazigarren und ein Souper bei Leidinger und einen Fiaker, einen Orchestersitz im Wiedner Theater erste Reihe und eine köstliche Krawatte und – vor allem den Fond für das nächste Mal. Das blieb das Wichtigste.
Manchmal, ach selten genug, lächelte mir das Glück doch so weit, daß ein oder der andere Traum sich in bescheidenem Maß erfüllen durfte; im ganzen aber war es mir auf dem Turf wie bei anderen Spielgelegenheiten so wenig hold, daß es mir heute ziemlich rätselhaft erscheint, wie es mir überhaupt gelang, in diesem Freiwilligen- und in manchem nächsten Jahr meine Lebensweise fortzuführen, ohne in ernstliche Ungelegenheiten zu geraten. Von ferne betrachtet, war ich damals mit meinem geringen Taschengeld, das immer schon im vorhinein aufgezehrt und mit Schulden überlastet war, wirklich ein wenig der »Fünfguldenlebemann«, wie Hermann Bahr später, nicht sonderlich zutreffend, den Helden meines ersten Buches genannt hat, und mancher meiner »Kumpane«, wie ich sie an dieser Stelle wohl nennen darf, mochte, selbst wenn es bei einem oder dem andern[163] über die fünf Gulden hinausging, auch in der Nähe nach nichts Besserem ausgesehen haben.
Von allen diesen der weitaus Merkwürdigste, auf den jene spöttisch-boshafte Bezeichnung daher auch nicht mehr recht passen will, ja in dem das Zeug zu einem Lebemann oder Lebenskünstler höheren Stils steckte, war ein Student der Rechte, namens Richard Tausenau, den ich übrigens schon ein paar Wochen, ehe das Militärjahr begann, im Rennjargon jener Tage im Tagebuch als meinen »Intimus mit drei Längen« bezeichnet hatte. Er war im Gymnasium mein Klassenkollege gewesen, aber erst in den Ferien vom ersten zum zweiten Universitätsjahr waren wir einander nähergetreten. Zu einem Viertteil war seinem Mariahilfer Bürgerblut jüdisches beigemischt; sein Großoder Urgroßvater oder Großoheim hatte im achtundvierziger Jahr eine nicht ganz aufgeklärte Rolle als Demagoge oder Agent provocateur gespielt, – wenn er nicht gar verdammt gewesen war, was häufiger vorkommen mag, als die Hoch- oder Überschätzer der Gesinnungstüchtigkeit ahnen oder zugestehen, den ewigen Kampf zwischen Konservatismus und Revolution tragisch-bewußt in der eigenen Brust auszufechten, was dann freilich nach außen hin zu allerlei schwerem und gefährlichem Mißverstehen Anlaß zu geben pflegt. Übrigens wußte mir sein Urenkel oder Urneffe, der ihn nicht gekannt, nichts Näheres von ihm zu erzählen. Im Gymnasium hatte Tausenau zu den mittelmäßigsten Schülern gehört; kaum auf die Universität gelangt, sprang er in die »Silesia«, eine deutschnationale Burschenschaft, ein, trug seine Kappe stolz und schief, kneipte und schlug sich wie die übrigen Couleurbrüder, sprang aber, nachdem der erste Schmiß seine Stirn zierte, worauf es ihm bei der ganzen Burschenherrlichkeit hauptsächlich angekommen war, aus der »Silesia« wieder aus, was man sich dort gern gefallen ließ, oder mit Rücksicht auf seine jüdische Abstammung gefördert, wenn nicht gar gefordert haben mochte. Bald darauf trat er als Einjährig-Freiwilliger – auch das ganz in seinem Stil – bei dem Wiener Hausregiment, den Hoch- und Deutschmeistern, ein, trug seine Mütze fesch und schief, so wie er im Jahr vorher sein Cerevis getragen, lebte und lumpte in jedem Sinn über seine Verhältnisse weiter, benahm sich in der Bezahlung seiner Spielschulden lässiger, als es selbst in unserem darin notgedrungen etwas laxen Freundeskreis üblich war, gab sich, obwohl sein Glück bei[164] Frauen sich in einem vielfach beneideten Maße ankündigte, wahllos mit Weibern aller Kategorien ab, bis ihn das Schicksal, das wir medizinische Kollegen ihm schon lang prophezeit, in den Armen einer unprotokollierten Dirne ereilte. Die ernste Natur seiner Erkrankung, die ein Verwandter, der elegante Rennarzt, August Schwarz, zuerst als verhältnismäßig harmlos angesehen, sprach sich erst in der Folge mit Entschiedenheit aus, und noch höre ich das sonderbare kurze Lachen – wie es meinem Freund in bedenklichen Lebenslagen eigen war und das ich daher noch öfters zu hören bekommen sollte – mit dem er mir damals die peinliche Eröffnung machte. Die Krankheit, rein medizinisch angesehen, nahm einen leichten Verlauf. Richard ließ sich auch äußerlich nicht weiter von seinem Mißgeschick anfechten, und sobald es nur anging, nahm er sein altes Leben in jeder Beziehung wieder auf. Der Zufall wollte es, daß wir etwa ein halbes Jahr nach seiner vorläufigen Wiederherstellung im Prater dem ärmlichen, blassen, nebstbei völlig reizlosen Frauenzimmer begegneten, das an seiner Erkrankung Schuld trug; mein Freund Richard aber zeigte sich so wenig nachträgerisch, daß er das verhängnisvolle Geschöpf wie eine sympathische alte Bekannte begrüßte und sich bald von mir verabschiedete, um den Rest des Abends oder der Nacht mit ihr zu verbringen. Doch sein Leichtsinn erwuchs, und darum konnte man ihm nicht gram sein, auf dem Grunde eines melancholisch-zynischen Weltgefühls, das natürlich dann am stärksten zum Ausdruck kam, wenn er es, meist infolge eines leichtsinnigen Streiches, für seine Person wieder einmal bestätigt fand. Und wie sein Leichtsinn aus seiner ins Zynische schillernden Melancholie, so kam sein Hang zur Schuldenmacherei und zu allerlei schlimmeren kleinen Schmutzereien aus seiner Neigung, ja seiner Anlage zu einem gewissen Kavalierstum, dem es freilich an gelegentlicher Größe fehlte, das aber niemals in einen ganz lächerlichen Snobismus ausartete. Ohne sich jemals geckenhaft zu tragen oder zu gebärden, war er derjenige in unserem engeren und weiteren Kreise, der am ehesten einem wirklichen Elegant, wenn auch zuweilen einem etwas herabgekommenen, gleichsah; ohne daß er im geringsten das gewesen wäre, was man einen schönen Mann zu nennen pflegt, – seine schlanke, federnde Gestalt, die immer bleichen, schmalen Züge seines etwas zu klein geratenen Antlitzes mit[165] dem schwarzen Spitzbärtchen machten ihn zu einer interessanten, freilich nicht unbedingt angenehmen Erscheinung, wie auch sein spöttischer, niemals sehr freier Blick, in dessen Hintergrund etwas unaufgeklärt Letztes sich zu verbergen schien, Fernerstehende zu Mißtrauen und selbst Freunde zu leiser Vorsicht mahnen mußte. Eine gewisse aristokratische Frechheit bewunderte er manchmal mehr, als ich ihm nachzufühlen oder auch nur zu verzeihen imstande war; so als er mir einmal mit einer Art feinschmeckerischen Behagens von dem unverschämten Benehmen eines jungen Grafen erzählte, der in einem Vergnügungslokal in eine Loge getreten war und dort mit einer Dame sich in eine vertrauliche Unterhaltung eingelassen hatte, ohne von deren bürgerlichen Begleitern, die erzürnt, doch ratlos verlegen daneben saßen, anders als mit einem höhnischen Seitenblick Notiz zu nehmen.
Daß ich mich zu Richard als dem so ziemlich problematischesten Individuum, dem ich bis dahin begegnet war, lebhaft hingezogen fühlte, versteht sich fast von selbst; daß er sich aber auch an mich herzlicher anschloß als an irgendeinen anderen, obwohl ich weder an Eleganz – die einzige rückhaltlos von ihm bewunderte menschliche Eigenschaft – noch an Schneidigkeit, die er gleichfalls sehr hoch hielt, noch an Wohlhabenheit, die man ihm immerhin auch als gelegentliches Motiv für intimeren Verkehr hätte unterschieben dürfen, seinen Ansprüchen genügen und seinem Geschmack entgegenkommen mochte, das lag wohl darin begründet, daß er – als vielleicht erster – die Fähigkeit besaß, nicht nur und nicht so sehr das Wesentliche meiner Begabung, als das Eigentümliche und am Ende auch nicht ganz Unproblematische meines Wesens zu erkennen oder wenigstens zu spüren. Ohne literarisch irgendwie stärker interessiert zu sein, fand er an einigen meiner dichterischen Stoffe, die ich ihm einmal in einer Kaffeehausecke als dem einzigen aus dieser flachen Lebemannsgesellschaft mitzuteilen die Laune hatte, ein ahnungsvolles Gefallen, das gewiß eher auf deren mystisch-seelischen Gehalt als auf ihre poetische Qualität Bezug nahm. – In der Liebe war er damals mehr ein Sammler als ein Suchender, durchaus gewissenlos und für einen echten Kavalier doch zu indiskret, wie er es auch späterhin blieb. Und ich denke noch daran, wie er nahe dem Ende seiner Tage, das allzufrühe kommen sollte, in wehmütig stolzer Rückerinnerung[166] so mancher merkwürdiger Herzensabenteuer seiner Betrübnis Ausdruck verlieh, daß er mir das Allerinteressanteste, was er erlebt, – eine Sache, die offenbar in den allerhöchsten Kreisen gespielt, doch leider nicht erzählen dürfe und könne.
In diesem Jahr stand er aus begreiflichen Gründen nicht ganz auf der Höhe seiner Liebesmöglichkeiten, und selbst in unserem Kreise, deren Mitglieder sich nicht eben sonderlich romantischer oder leidenschaftlicher Abenteuer rühmen durften, trat er damals nicht gerade als Eroberer hervor. So läuft er auch nur wie eine Episodenfigur unter dem halben Dutzend junger Leute mit, die sich eines Abends in der Wohnung eines Herrn Wilhelm Ostersetzer zum Roulettespiel zusammengetan hatten, eines völlig unbeträchtlichen jungen Bankmenschen, der über einige Geldmittel verfügte, im übrigen weder gebildet noch klug, noch hübsch, nur eben nach der Mode gekleidet war. Die persönliche Bekanntschaft dieses höheren Ladenschwengels oder, wie wir Studenten solche Individuen nannten, dieses Schwungs, hatte ich wahrscheinlich wie die einiger anderer von gleicher Bedeutung auf dem Turf gemacht. In jener Abendgesellschaft befanden sich drei junge Mädchen; eine hieß Betty und war die Geliebte des gleichfalls anwesenden Arthur Horner, eines mittelmäßigen, aber gutmütig-angenehmen Menschen, der, schon damals höchst versiert in Turfsachen, später als Bookmaker sich auf den österreichischen Rennplätzen eines gewissen Rufes erfreute; die beiden anderen jungen Mädchen waren Schwestern, allerdings nur Töchter eines Hausbesorgers, aber immerhin des Hausbesorgers aus dem großen Mölkerhof in der Schottengasse, und sahen nach etwas Besserem aus. Minna, die Ältere, Wilhelm Ostersetzers Erwählte, war ein hübsches, blasses, wohlgewachsenes Geschöpf, für dessen Wesen sich die Worte »resch« und »g'schnappig« nicht nur als kennzeichnend, sondern als geradezu erledigend aufdrängten. Ihre jüngere Schwester Toni war gleichfalls blaß und wohlgewachsen, nicht so hübsch, auch etwas herber in ihrer ganzen Art, auch weniger beweglich von Geist und Worten, und, zwar höchst adrett, doch nicht so fesch angezogen wie Schwester Minna, deren Auftreten schon damals die künftige Probiermamsell ahnen ließ. Nach der Spielpartie begab sich die ganze Kumpanei, in der sich unter anderen auch der altbekannte Pepi Mütter wie der Pianist Rosenthal befanden, in den Stephanskeller, wo[167] man im allgemeinen recht aufgeräumt war, mit Ausnahme der beiden offiziellen Liebhaber Arthur und Wilhelm, die sich immer eifersüchtiger und übellauniger gebärdeten. Toni zeichnete sich mir gegenüber durch eine besondere Zutunlichkeit aus. Am Abend darauf hatte ich eben einen Inspektionsdienst im Offiziersspital angetreten, als der Gefreite mir melden kam, daß mich im nahe gelegenen Wirtshaus »Zum grünen Jäger« ein Herr mit zwei Damen erwarte. Gegen alle Disziplin entfernte ich mich vom Dienst und fand beim »Grünen Jäger« Richard Tausenau, aber nicht, wie ich gehofft, mit den zwei Schwestern aus dem Mölkerhof (die übrigens den höchst unhausmeisterischen Zunamen Faust trugen), sondern mit irgendeinem blatternarbigen, aber sonst sehr hübschen und drallen Fräulein Mizzi und Arthur Horners Flamme bei einem frugalen Souper; am Tisch gegenüber jedoch zu meiner unangenehmen Überraschung den Regimentsarzt Gschirhakl vor einem Glas Bier sitzen. Zwar erwiderte er meinen strammen Gruß mit tadelloser, nur etwas ironischer Liebenswürdigkeit, immerhin durfte ich nicht lange verweilen und wurde von Richard mit seinen zwei Damen, von denen eine jedenfalls mir zugedacht war, wieder ans Spitaltor geleitet. Noch am gleichen Abend wurde Betty Richards Geliebte. Es war ein Jugendstreich wie ein anderer. Aber als ich etwa ein Jahrzehnt später Frau Betty, die längst Arthur Horners Gattin geworden war, obwohl er, durch Wilhelm Ostersetzer von ihrer Untreue unterrichtet, sich mir gegenüber bitter über Richards Gewissenlosigkeit beklagt hatte, an höchst verdächtigen Halsgeschwüren ärztlich zu behandeln hatte, – und nach weiteren zwanzig Jahren, als mir Arthur Horner in einer Cottagestraße entgegengewankt kam und mir als lallender Paralytiker erzählte, daß er eben wie alltäglich im Begriffe sei, seiner längst von ihm geschiedenen Gattin Betty einen Besuch abzustatten, – da konnte ich nicht umhin, jenes fernen versunkenen Abends zu gedenken, an dem wahrscheinlich der Grund zu all dem Unheil gelegt worden war. Und auch jener Satz fiel mir ein, den ich einmal niedergeschrieben hatte: »Wir müssen immer einen Dolch blitzen sehen, um zu begreifen, daß ein Mord geschehen sei«, und fügte für mich selbst hinzu: Oft sehen wir ihn blitzen, und statt ihn dem Mörder aus der Hand zu winden, begnügen wir uns, ihn milde zu mahnen, daß er so was doch eigentlich nicht[168] tun sollte, – wenn wir nicht auch zu solcher Mahnung zu gleichgültig und bequem sind.
Übrigens wäre es damals wahrhaftig philiströs gewesen, Dinge so tragisch zu nehmen, deren Folgen, wenn sie überhaupt kommen sollten, in ferner Zukunft lagen. Vielmehr saß man schon ein paar Tage drauf mit Richard und Wilhelm beim Tökes, was zur Abwechslung eine ungarische Restauration war, und lachte sich halb zu Tod über die lustige Geschichte von der ungetreuen Betty und dem betrogenen Arthur.
Indes aber hatte Toni, die ich seit jenem Rouletteabend gar nicht wieder zu Gesichte bekommen, in meinem Herzen eine gewisse Rolle zu spielen angefangen; und eines Abends begab ich mich in den Volksgarten, wo sie sich, wie mir bekannt war, mit ihrer Schwester und ihren Freunden zu ergehen pflegte. An ihrer Statt aber traf ich Fännchen, und es blieb mir nichts übrig, als mit ihr und einem ihrer Vettern, einem Junggesellen von Vierzig, in den sommerlichen Alleen auf und ab zu spazieren. Herr Eduard Mütter war ein kleiner, dicker, gutmütiger, etwas spaßhafter Herr mit verkniffenen Augen und hatte es sich seit einiger Zeit in den Kopf gesetzt, Fännchens Vorsehung oder wenigstens ihren guten Engel zu spielen. Wenn er mich allein traf, erzählte er mir gern, daß sich Fännchen bitter um mich gräme und daß es herzlos von mir sei, ein so liebes, braves Geschöpf leiden zu machen, was meiner Eitelkeit schmeichelte, ohne mich auf den seiner Ansicht nach rechten Weg zu leiten, der übrigens der falscheste von allen gewesen wäre. Auch heute, in Fännchens Gegenwart, ließ er es als Vertrauter, der sich was erlauben durfte, an freundlich-kupplerischen Anspielungen nicht fehlen, während Fännchen selbst, da sie vor dem braven Mann sich keinen Zwang auferlegen mußte, sich verliebt-traurig und eifersüchtig-zärtlich gebärdete, wie es nun einmal ihre Art war. Ich aber, nachdem ich sie listig aus dem Volksgarten hinausgeplaudert und bis an ihr Haustor geleitet, empfahl mich und eilte in den Garten zurück, wo ich erwünschtermaßen fidelere Gesellschaft antraf: die Schwestern aus dem Mölkerhof, in Begleitung von Wilhelm und Richard. Wir fuhren alle nach Döbling zu einem heiteren Nachtmahl im Freien; am Sonntag drauf gab es eine nicht minder lustige Landpartie über den Kahlenberg nach Klosterneuburg, und als ich auf der Heimfahrt im Eisenbahncoupé in angenehmer Nachwirkung[169] des süßen Strohweins aus dem Stiftskeller halb schlummernd an Tonis Schulter ruhte, fühlte ich mich bereit, ihr mancherlei zu glauben, worüber ich vor Kahlenberg und Stiftskeller in angeborenem Skeptizismus nur gelacht hätte. So entwickelte sich unsere Beziehung langsam, aber aussichtsvoll weiter unter den mißbilligenden Augen von Minna, die mehr aus praktischen als aus moralischen Gründen einem Verhältnis ihrer Schwester mit einem auf sein geringes Taschengeld angewiesenen Einjährig-Freiwilligen eher abgeneigt schien und das Ihre dazu tat, uns beide niemals allein zu lassen. Saßen wir aber, wie es zuweilen vorkam, in schwülen Sommernächten zu viert im Rathauspark, dann zeigte sich Minna sowenig spröd als Toni, die sich freilich noch immer nicht entschließen konnte, mir »jene letzte Liebeshuld« zu gewähren, hauptsächlich aus Angst vor ihrem Vater, der – ein großes, aber selten nachgeahmtes Vorbild für andere Hausbesorger – geschworen hatte, eine Tochter, die sich »so weit vergäße« (der Konjunktiv stammt natürlich nicht aus dem Mölkerhof, sondern aus meinem Tagebuch), aus dem Hause zu jagen.
Indes war ich, wie es die Dienstordnung für die militärärztlichen Eleven vorschrieb, für einige Wochen der Truppe, und zwar dem Regiment Mollinary – brauner Waffenrock mit schwarzen Aufschlägen – zugeteilt worden. Es war immerhin etwas strapaziös, wenn man den Abend vorher mit Freunden und Freundinnen bei Volkssängern, im Kaffeehaus zugebracht und endlich in ziellos stürmischen Zärtlichkeiten auf nachtumschatteten Gartenbänken beschlossen hatte, um vier Uhr morgens im Kasernhof anzutreten und auf den Galizinberg oder nach Aspern zu marschieren; und es erscheint verzeihlich, daß man dann manchen Nachmittag verschlief oder in einer Kaffeehausecke dämmernd mit einem melancholisch-zynischen Freund, dem eine unheimliche Krankheit durchs Blut kreiste und der nie Geld hatte, katzenjämmerliche oder gar weltschmerzliche Gespräche führte, in denen das Wort »öd« hundertfach abgewandelt immer wiederkehrte. Auch daß Toni endlich die Meine wurde, vermochte meine Stimmung nicht zu verklären oder zu erhöhen; und daß ich mich entschließen sollte, zu glauben, was sie mir oft versichert und woran ich zu zweifeln nie aufgehört, machte mich nicht stolzer und glücklicher, schon darum, weil auch physiologische Scheinbeweise[170] nicht genügen konnten, mein wohlbegründetes seelisches Mißtrauen zu besiegen. Am wohlsten war uns beiden, wenn wir allein miteinander waren, ob mir Toni nun in einem behaglichen Zimmerchen, in meinen Militärmantel gehüllt und meine Kappe auf der zerstrubelten Frisur, beim Nachtmahl gegenübersaß, oder ob wir uns an den linden Sommerabenden in den Gartenalleen ergingen, wo ich so oft in lieblicherer und keuscherer Gesellschaft umhergewandelt war; immer unleidlicher aber wurde mir das andere Pärchen, Wilhelm-Minna, von dem wir uns doch nur von Fall zu Fall emanzipieren konnten. Wilhelm, besonders in seiner Geistesleere und Langweiligkeit, war mir so unausstehlich, und Minna selbst behandelte ihn mit so unverhohlener Mißachtung, daß ich an dem Bestehen eines wirklichen Verhältnisses zwischen den beiden zu zweifeln anfing. Manchmal wieder verblaßte Tonis nie sehr lebhaft empfundener Zauber für mich so sehr, daß mir ihre zwar recht gewöhnliche, doch immerhin lustigere und witzigere Schwester besser gefiel als jene, und dann stellte ich für mich fest, daß ich in Toni überhaupt nicht verliebt, sondern nur eifersüchtig auf sie sei und diese ganze Art von Existenz mich im Grunde nur aufrege, ohne mich anzuregen. Freilich wechselten solche trübe auch mit helleren Stunden, in denen der unerfreuliche Kreis, in den man geraten war, gewissermaßen ferner rückte, kaum mehr wie eine Gruppe lebendiger Individuen wirkte, sondern sich gleichsam ins Atmosphärische auflöste, wie es zum Beispiel anläßlich eines kleinen Soupers in Wilhelms Wohnung geschah, wo ich, ohne mich um die übrigen zu kümmern, am Klavier saß, phantasierend mit geschlossenen Augen, den Kopf an Tonis Busen gelehnt, und mich berauschte an Wein, Akkorden und Küssen. Nein: hätte berauschen können; – denn ich war mir auch in solchen Augenblicken klar darüber, daß zu superlativischen Ausdrücken hier kein Anlaß, daß auch meine innigen Liebesbeteuerungen halbbewußte Lügen und daß ich für ein anderes, höher geartetes Wesen geschaffen sei, als für ein bei manchen anmutigen Zügen doch so gewöhnliches, wie Toni es war. Und schmerzlich rief ich aus, was ich später noch viel tiefer sollte empfinden lernen: »Ließe sich doch alles, was in der Entwicklung nur Episode bedeutet, auch nach Gebühr nur episodisch erleben. Aber man lebt am Ende doch so hin, wie es der Augenblick mit sich bringt, und läßt sich's genügen!«[171]
Doch gab es immer wieder heitere oder wenigstens fidele Abende, und man hätte uns Fünfguldenlebemänner, Freiwillige wie Zivilisten, immerhin schon etwas höher taxieren dürfen, wenn man uns mit unseren Damen im feschen Zeugl vom Prater aus nach Döbling zum Casino Zögernitz sausen sah, wo wir in dem übervollen Wirtshausgarten am wohlbesetzten Abendtisch den Vorträgen der Kuzel Leopoldine, der feschen Mirzl oder den bald rührseligen, bald lustigen Couplets und Duetten des berühmten Volkssängerpaares Seidl und Wiesberg lauschten. Noch heute habe ich die Estamtam-Gstanzeln im Ohr, die damals besonders beliebt waren, und aus einem bestimmten Grunde habe ich eine der Strophen wörtlich in der Erinnerung behalten. Sie lautete:
Estamtam estamtam eh und jucheh
Und eh und jucheh
Am Rathausturm haben s' keine Ventilation,
Aber Fenster, die dreitausend Gulden kost ham.
Eh und jucheh – jucheh!
Am nächsten Tag hatte ich nämlich Offiziersprüfung; eine der feststehenden Fragen aus der Hygiene, in welchem Fach ich so gut wie gar nicht vorbereitet war, bezog sich auf Ventilationsvorrichtungen, ich nahm jene Coupletstrophe als Schicksalswink, studierte das betreffende Kapitel noch rasch vor dem Einschlafen und wurde tatsächlich am nächsten Tage aus Ventilation geprüft. Da diese Prüfung übrigens eine Formalität vorstellte und die Assistenzarzt- oder Oberarztcharge jedem Einjährig-Freiwilligen Mediziner, der sich nicht was Besonderes hatte zuschulden kommen lassen, nach Ablegung des Doktorats so gut wie sicher war, beanspruche ich nicht, daß mein »Estamtam«-Erlebnis als moralische Erzählung aufgefaßt werde.
Anfangs September nahm ich zärtlich Abschied von Toni für ein dreitägiges Manöver, das unweit von Wien in der Gegend von Fischamend stattfand und von dem mir einige an sich gleichgültige Bilder in der blinkenden Umrissenheit von Jugenderinnerungen gegenwärtig geblieben sind: Das Nachtquartier auf Strohsäcken in einer Bodenkammer zu Maria Elend, das ich mit zwei Kameraden, Hiero Stössel und Wassing, der[172] übrigens noch damals Wassertrilling hieß, teilte; – der Dorfplatz in grauen Morgendämmer getaucht, ich als einer der ersten, fröstelnd und unausgeschlafen, vor dem Haustor, der Oberst von Pittel in der braunen Uniform mit schwarzen Aufschlägen zu mir tretend, die Reitgerte in der Hand, mit der ganz unmilitärisch-freundlichen Frage, ob ich wohl geruht, worauf ich mehr gerührt als gehorsamst danke; eine Mittagsrast auf grünem, von dünnem Wald umwipfelten Wiesenplan, Trompetenzeichen tönen in der Ferne; und endlich ein weitgedehntes Feld, von Truppen übersät – der Schauplatz der Entscheidungsschlacht, von der keiner der Beteiligten das geringste versteht und wo wir ärztliche Eleven völlig überflüssig, ohne von irgendwoher ein Kommando zu erhalten, verloren und ziellos, wahrscheinlich in einem mörderischen Kugelregen hin und her irren. Da des ungeheueren Kampfes kein Ende abzusehen war und wir allmälig nicht nur Langeweile, sondern auch Hunger zu verspüren anfingen, machte ich meinen Kameraden Stössel, Wassertrilling und Petschek den Vorschlag, zu desertieren. Wir setzten uns in militärischen Schritt, und unter dem Schutz unserer weißen Armbinden mit rotem Kreuz durchmaßen wir das Schlachtfeld, auf dem der unbegreifliche Kampf hin und her wogte, und gelangten endlich durch die feindlichen Reihen, wo man sowenig Notiz von uns nahm wie vorher bei den Unsrigen, an den Nach- oder Vorhuten vorbei, welchen wir ebenso gleichgültig blieben als den Kerntruppen, zu einem an der Reichsstraße gegen Wien zu gelegenen Gasthaus, wo uns der Wirt durch das von Soldaten, wahrscheinlich gefallenen, überfüllte geräumige Hauptlokal in ein kleineres Extrazimmer führte. Dort trafen wir zwar nur einen einzigen andern Gast an, der aber zu unserem nicht geringen Schreck kein anderer war als der tschechisch-antisemitische, uns Mosesdragonern nicht sonderlich grüne Chefarzt unseres Regiments. Er aber schien ebenso widerrechtlich dem Schlachtgetümmel entflohen zu sein als wir und hatte überdies seiner Art nach schon einige Glas Wein über den Durst getrunken, lud uns mit kameradschaftlicher Jovialität ein, an seinem Tisch Platz zu nehmen und zu essen, und einer aus der Gesellschaft hatte sogar den Vorzug, mit ihm auf einem kleinen hundebespannten Wägelchen, ich weiß nicht genau, ob auf der großen Trommel oder an ihrer Stelle, heimwärts zu fahren. Ich für meinen Teil hatte noch eine Strecke[173] zu Fuß zurückzulegen, bis ich in glühender Sommerhitze zum Zentralfriedhof und von dort mittelst Pferdebahn schlafend in die Stadt gelangte. Am nächsten Morgen in der Kaserne erfuhr ich, daß ich die Ehre hatte, der siegreichen Armee anzugehören.
War es auch kaum die Sehnsucht nach Toni gewesen, die mich von so rühmlichen Gefilden vor der Zeit nach Hause gerufen, so fand ich mich mit ihr doch schon am ersten Abend im Volksgarten wieder zusammen, und noch etliche Abende reihten sich an, an denen, auch wenn ich mit ihr allein war, kaum je eine rein beglückte Stimmung in mir aufkommen wollte. Nicht mit Unrecht maß ich die Hauptschuld daran meinem hypochondrischen Naturell zu, dem darin angelegten Kapital von Mißtrauen, das seine Zinsen als Selbstquälerei und Lust, andere zu quälen, abwarf, war dabei ärgerlich, daß ich meine Zeit, meine Gedanken, mein bestes Gefühl an ein im Grund so unbedeutendes Geschöpf verschwendete und fragte mich mit ahnungsvoller Sorge, wie es mir wohl im Fall einer wirklichen Leidenschaft ergehen würde. Als Toni nun gar aus Angst vor möglichen Folgen sich mir bald versagte, bald wieder nach Gewährung mich mit ihrer Angst peinigte, nach Szenen der Verzweiflung, der Wehmut, der Erbitterung, und endlich, immer mehr ernüchtert von Tonis immer wiederkehrenden Bemerkungen über die Ziellosigkeit unseres Verhältnisses, löste ich mich allmälig von ihr los oder ließ es geschehen, daß sie sich von mir loslöste. Und kurz nachdem ich wieder meinen Zivilrock angetan, nahm sie endgültig Abschied von mir mit dem Versprechen, mir zu schreiben. Als sie das nicht tat, nahm ich mir für meinen Teil vor, sie noch einmal aufzusuchen, nur zu dem Zweck, um ihr auseinanderzusetzen, daß sie nicht besser und nicht schlechter sei als neunundneunzig Weiber unter hundert, daß sie mit einem Wort die Normalcanaille sei. Doch ich begnügte mich, diese Erleuchtung meinem Tagebuche anzuvertrauen, womit mir am Ende auch geholfen war. Etwa ein halbes Jahr später, gegen Schluß des Karnevals, begegnete ich ihr auf einem Kränzchen wieder, und nachdem wir etliche Male aneinander vorbeigetanzt, ließ ich mich ihr spaßeshalber von einem guten Bekannten in aller Form vorstellen; – es war ihr neuester Liebhaber, dem sie, wie ich von ihm selbst erfuhr, die gleiche Jungfräulichkeits- oder Halbjungfräulichkeitskomödie vorgespielt hatte, wie[174] ein paar Monate früher mir selbst. Wieder ein paar Wochen später sah ich sie in Gesellschaft ihrer Schwester und einiger junger Leute nachts in einem Kaffeehaus. Ich trank den beiden Mädchen von meinem Tisch aus zu, folgte ihnen dann bis zu ihrem Haustor, wo ihre Begleiter mit höflichem Gruß verschwanden, und nun verlebte ich noch eine ganz hübsche Stunde mit den beiden Geschöpfen, die auf gründlichem Bergabweg zu sein schienen, im Rathauspark, wo auch allerlei Heiteres verabredet wurde, das nicht mehr zur Ausführung kam. Denn ich sah Toni niemals wieder, und ihre Schwester erst einige Jahre später auf einer kleinen Soirée in einem großen Damenmodegeschäft, wo Minna, die dort als eine der ersten Mamsellen angestellt war und von der Hausfrau sehr hoch gehalten wurde, mir bei erster Gelegenheit zuflüsterte, ich möchte ja zu niemandem unserer einstigen Bekanntschaft Erwähnung tun.
Zwischen all diesen Liebschaften und in sie hinein spielten ganz leise auch schon während des Freiwilligenjahres allerlei zartere Beziehungen zu verschiedenen jungen Mädchen, die aus besseren Häusern oder wenigstens besser beaufsichtigt waren; doch hätte ich mich verwegener oder raffinierter angestellt und wäre meine Scheu vor Unbequemlichkeiten und Verantwortlichkeiten nicht so stark ausgebildet gewesen, so hätte aus einer oder der anderen Beziehung wohl auch eine ganz richtige Liebschaft werden können. Allerdings glaube ich, daß zu jener Zeit in guten jüdischen Mittelstandskreisen, wo ich hauptsächlich verkehrte, solche Beziehungen selten über eine gewisse eben noch statthafte Grenze hinausgediehen, nicht gerade weil die Mädchen weniger sinnlich oder unverdorbener gewesen wären, als sie heute sind, sondern weil die ganze gesellschaftliche Atmosphäre jenes Mittelstandes von den neueren, sittlich freieren Anschauungen philosophisch und literarisch kaum noch angehaucht und Erziehung, Verkehrsformen, Möglichkeiten der Zusammenkunft auch der Entwicklung freierer Verhältnisse minder günstig waren. Für manches junge Geschöpf, das heute ohne bestimmte Heiratsaussicht, selbst ohne geheime Heiratshoffnung, bestenfalls unter Beachtung der praktisch gebotenen Vorsichten und Rücksichten, sich entschließt, dem geliebten Mann oder Jüngling alles zu gewähren, wäre damals ein solcher Entschluß überhaupt nicht in Betracht gekommen. Die geborenen Eroberer- oder Verführernaturen haben freilich stets über die[175] Moral eines bestimmten Kreises und selbst über den Geist einer Epoche zu triumphieren gewußt; was mich anbelangt, so ließ ich es mir meist an den Abenteuern genügen, die mir auf halbem Weg entgegenkamen, wie ich freilich auch manches verschmähte, das sich mir gar zu wohlfeil darbot, in der Erwägung, daß solche oft am teuersten bezahlt werden. So begegnete es mir kurz nach Beendigung meines Militärjahres an einem Novembernachmittag, daß ich mit Richard eine sehr hübsche Choristin des Wiednertheaters in ihre Wohnung begleitete und daß wir um die Gunst der durchaus nicht spröden, nur unentschiedenen jungen Dame zu losen oder vielmehr zu zipfeln beschlossen. Der Gewinnende war ich. Aber da sie uns vorher den Namen ihres Liebhabers genannt, eines ungarischen Aristokraten, über dessen Gesundheitszustand ich durch die Indiskretion seines Arztes zufällig genau unterrichtet war, und ich außerdem, meinen Arm um ihren Nacken schlingend, eine meinem medizinischen Verständnis sehr verdächtige Drüse getastet hatte, verzichtete ich edelmütig auf den Preis, überließ ihn meinem Freund, dem glücklich-unglücklicherweise auf solchen Wegen keine Gefahr mehr drohte, und begab mich in ein nahe liegendes Kaffeehaus, wo ich unter dem Eindruck dieses flauen Erlebnisses einen Akt zu schreiben begann, der zum erstenmal matt genug den skeptisch-lebemännischen Ton der »Anatol«-Szenen anklingen läßt. Erst Monate oder Jahre später schrieb ich den Schluß, benannte das Ding mit schnöder Ironie »Treue« und legte es zu den vielen anderen Manuskripten, die ich wahrlich nicht aus Stolz auf meine dichterischen Anfänge, sondern aus einer Art von autobiographischer Pedanterie aufbewahrt habe.
Schon bei früherer Gelegenheit habe ich erwähnt, daß ich bei meinem Vetter Louis Mandl, wie übrigens auch auf öffentlichen und privaten Tanzunterhaltungen öfters mit seinen Cousinen zusammentraf, den hübschen halb- und ganzerwachsenen Töchtern des mit dreizehn oder vierzehn Kindern gesegneten Ehepaares Adler, die an manchem Abend, freilich nicht alle, aber doch mindestens ein Vierteldutzend stark zur Stelle und sämtlich in ihren hübschen, sanften, mit der Zunge anstoßenden und platonisch paschahaften Cousin verliebt waren oder, wie ich mich wissenschaftlich ausdrückte, deren Sinnlichkeit sich auf ihn objektiviert hatte. Doch war diese Objektivierung weder[176] so dauernd noch so streng, daß es von den lüsternen Mädchenseelchen nicht rings im Kreise nach allen Seiten geflackert und gestrahlt hätte, und insbesondere zwei von ihnen, Gisela und Emma, ließen in diesen und auch späteren Jahren mir gegenüber an Zutunlichkeit weniger zu wünschen übrig als ich an der Kunst, die Gelegenheit zu benützen. An einem jener geselligen Abende im Hause des blinden alten Doktors muß es wohl – natürlich nur in Worten und Blicken – noch lebhafter und ausgelassener hergegangen sein als sonst. Denn ich hielt es für angemessen, mich im Nachhausegehen zu meinem Kameraden Petschek in wichtigtuerisch despektierlicher Weise über den Ton und das Benehmen der jungen Damen zu äußern, aus deren Gesellschaft wir eben geschieden waren. Ein paar Tage drauf fiel es mir auf, daß mein Freund, Kollege und Vetter Louis den kordialen Blick, mit dem ich ihn in einer Vorlesung von Bank zu Bank begrüßte, ernst und fremd erwiderte. Als ich ihn gleich nachher deswegen zur Rede stellte, war ich recht erstaunt, nicht so sehr, daß ihm Petschek meine dummen Bemerkungen, mit denen er im Lauf unseres Nachtgespräches ganz einverstanden geschienen, wortgetreu hinterbracht hatte, als vielmehr darüber, daß Louis in seiner Eigenschaft als Vetter der jungen Damen und Sohn des Gastgebers sehr geneigt schien, die Sache krumm zu nehmen. Durch meine Versicherung, daß meine spaßhaft gemeinten Worte völlig mißverstanden worden seien, ließ er sich bald beruhigen, und wäre nicht jene so rasch verschwundene Mißhelligkeit zwischen ihm und mir in meiner Erinnerung haftengeblieben, so wüßte ich mich heute jener törichten Äußerungen überhaupt nicht mehr zu erinnern, ja ich würde sie, wenn man mir sie zuschreiben wollte, einfach als böswillig erfunden erklären. So wenig ist und war es auch schon damals in meiner Natur gelegen, mich moralisch zu entrüsten, und nun gar in einem Falle, in dem ich selbst von den bescheidenen Ursachen dieser Entrüstung einigen Vorteil gezogen.
Wenige Wochen nach meinem Wiedereintritt ins Zivilistendasein, am 10. November 1883, notierte ich einige teils historische, teils höchst persönliche Tatsachen mit chronikalischer Kürze in mein Tagebuch wie folgt: »Luthers 400. Geburtstag – Fünfzigjähriges Doktorjubiläum meines Großvaters – Kegelpartie arrangiert von Leopold Rosenberg – Animierter[177] Abend bei Richard – Alle Vorlesungen bisher regelmäßig besucht außer Augenheilkunde« – und dazwischen die Bemerkung: »Gisela F.s Lippen sind süß.« Diese Gisela Freistadt war ein hübsches Judenmädel, die mit ihrer Familie an der Grenze des Ghettos im wörtlichen und übertragenen Sinn zu Hause war. Wir trafen uns zu gemeinsamen Abendspaziergängen, auf verschiedenen Kränzchen, auch verkehrte ich bei ihren kleinbürgerlichen Eltern, die außer Gisela noch zwei Kinder hatten, eine zweite, noch hübschere, erst sechzehnjährige Tochter und einen älteren Sohn, Bankbeamter, meist ohne Anstellung, doch mit einem Hang zum Schuldenmachen und zu kleinen Betrügereien, die ihn bald darauf mit den Gerichten in Konflikt brachten. Bekanntlich hegen jüdische Eltern, ganz besonders in so kleinen, fast sorgenvollen Verhältnissen, keinen heißeren Wunsch, als ihre Töchter möglichst bald unter die Haube zu bringen. Und so wunderte ich mich nicht, als mir Gisela eines Tages von den Bewerbungen eines Leobner Weinhändlers um ihre Hand Mitteilung machte, den sie nicht leiden konnte, und ebensowenig, als ich schon ein paar Tage später ihre gedruckte Verlobungsanzeige erhielt. Am Faschingsonntag, und zwar in Begleitung meines Freundes Jacques Pichler, der bei dieser Gelegenheit wieder wie aus einer Versenkung hervortaucht, machte ich meinen Gratulationsbesuch und überreichte ihr ein Veilchenbouquet. »Sie sind ja fast welk«, rief sie aus, worauf ich im Stil jener Tage zu erwidern nicht umhin konnte: »Wie Ihre Liebe zu mir, mein Fräulein.« Sie flüsterte mir zu, daß das keineswegs der Fall sei, und als ich sie ein paar Wochen darauf wieder besuchte, seufzte sie in einem dunkeln Zimmer an meinem Halse: »Wenn ich meinen Bräutigam nur halb so lieb haben könnte als Sie.« Der Bräutigam war meist in Leoben; die Eltern hatten, da ja die Heirat feststand, gegen meine Besuche nichts einzuwenden, auch der Bruder Szigo war um die Ehre seiner Schwester nicht sonderlich besorgt, es waren also weder Skrupel der Vorsicht noch des Gewissens, die mich hinderten, das anmutige kleine Abenteuer zu dem schicksalsgebotenen Ende zu führen, sondern nur Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit. Die Hochzeit war für den 22. April festgesetzt, und gleichsam zur Vorfeier wurde am Sonntag vorher ein Nachmittagsausflug in den Prater unternommen, an dem das Brautpaar, der Bruder der Braut, Jacques und ich teilnahmen. Der[178] Bräutigam, ein unansehnlicher Herr, in Aussehen und Gehaben ganz der kleine jüdische Geschäftsmann aus der Provinz, langweilig und ahnungslos, ließ es ruhig geschehen, daß ich seiner Zukünftigen nicht von der Seite wich; und daß wir, als es dunkler ward, die Finger ineinander verschränkt, zärtlich miteinander flüsterten, schien er nicht zu merken. Man begab sich endlich in ein Stadtcafé; und auf einer dämmerigen Wendeltreppe, die den unten gelegenen Billardsalon mit den oberen Räumen verband, vergaßen Gisela und ich in einem langen Kuß den Bräutigam und die übrige Welt. Doch auch die nächsten Tage ließ ich ungenützt verstreichen, wofür vielleicht als Entschuldigung gelten konnte, daß zu kurzem Aufenthalt Else v. Kolsch wieder in Wien erschienen war, gänzlich unbeschwert von den tugendhaften Vorsätzen, die ein Jahr vorher die Ursache unserer Trennung gewesen waren. Am Hochzeitstag stand ich im Tempel Gisela gegenüber, während sie mit dem Bräutigam die Ringe tauschte, und am Abend brachte ich dem jungen Paar persönlich meine Glückwünsche dar. Ehe die Neuvermählte mit ihrem Gatten das Elternhaus verließ, versprach sie mir Briefe und mehr und Besseres, als Briefe seien. Im Vorzimmer, schon zur Abreise fertig, fiel sie ihrer reizenden Schwester um den Hals und weinte bitterlich. Als die jungen Eheleute endlich verschwunden waren, vermochte ich meinen Zorn – Schmerz war es wohl kaum – nicht länger zu beherrschen, flüchtete in ein leeres Zimmer und stampfte mit dem Fuß auf, eine kleine Komödie vor mir selbst und vor Mela, die mir gefolgt war. Dann setzte ich mich düster in eine Ecke, die Hand vor den Augen, Mela, unter Tränen lächelnd, nahm meine Hand, zog sie mir gelinde fort, und ich küßte die ihre. Mehr ereignete sich nicht, doch tags darauf ersuchte mich die Mutter in einem höflichen Schreiben »wegen des Geredes meine Besuche einstellen zu wollen«. Der Wunsch war begreiflich, da Mela noch nicht verlobt war. Nun wäre es freilich schön, hier mit den Worten zu enden: Ich habe die beiden reizenden Schwestern niemals wiedergesehen. Aber leider entspräche es den Tatsachen nicht. Einige Jahre später, nachdem Gisela mir vorher anonym geschrieben, sich mir endlich entdeckt hatte und mit mir gelegentlich in Kaffeehäusern und zu Spaziergängen zusammengetroffen war, erschien sie unter dem Vorwand von Halsschmerzen in meiner Ordination als Mutter einiger Leobner[179] Kinder, brave Hausfrau, aber sichtlich bereit, ihr Versprechen vom Hochzeitstag treulich einzulösen. Doch hatte sie längst aufgehört, mir zu gefallen. Ihre langweilig-banale, keineswegs jargonfreie Sprechweise tat ein übriges, mich abzukühlen, und ich zog mich in mein Ärztetum zurück mit so völligem Gelingen, daß sie ihre Besuche bald gänzlich wieder einstellte. Etliche Jahre später meldete sich auch Mela wieder bei mir, sie war zwar unglücklich verheiratet, doch gleichfalls Mutter einiger Kinder und stand im Beginn einer Theaterlaufbahn. Da ich damals schon ins literarische Leben eingetreten war, hatte ihr Besuch den Zweck, mich zu werktätigem Interesse aufzurufen, für das in jeder Weise sich erkenntlich zu zeigen sie keinen Moment gezögert hätte. Sie war noch immer sehr hübsch, etwas geschminkt und, trotzdem sie allem Anschein nach auf ihre kommende Künstlerschaft hin schon einigen Sündenvorschuß und sogar einen Bühnennamen angenommen hatte, von etwas ärmlich-kleinbürgerlichem Aussehen. Auch in diesem Fall war ich bequem und vorsichtig genug, nicht nachzuholen, was ich vor mehr als einem Jahrzehnt versäumt hatte. Nirgends so sehr als in Liebesdingen gilt jener weise alte Spruch: »Was du heute kannst besorgen ...«
Noch einige Mädchennamen finde ich etwa zu gleicher Zeit in meinem Tagebuch verzeichnet; so den einer gewissen Charlotte, einer üppigen Blondine, die aus ganz ähnlichen Kreisen stammte wie jene beiden Schwestern, jedoch, wenn nicht gerade unzärtlicher Natur, viel bürgerlicher und zurückhaltender, dabei immer etwas empfindlich und ohne jede Berechtigung ziemlich eifersüchtig war. Auch sie heiratete bald, bekam etwa ein halb Dutzend Kinder, und ich begegnete ihr immer wieder, endlich als einer dicken, verblühten, verhärmten alten Frau. Zuweilen erbat sie Theaterbillets zu meinen Stücken und zeigte sich – denn wir verbleiben alle in unserem Stil, ob es sich um kleine oder große Dinge handelt – tief gekränkt, wenn ich außerstande war, ihren Wunsch zu erfüllen oder gar versäumt hatte, ihr zu antworten, was sie dann veranlaßte, sich über meine »beleidigende Ignoranz« zu beklagen. Aber wer die hübsche, schwarzäugige Agnes war, mit der ich mich »in ein Vorstadtidyll hineinempfinden« hätte können, und wie ich mir ein Fräulein Rosa vorzustellen habe, von der ich einmal einen Brief erhielt, in dem sie viel von großer Liebe und einiges vom[180] Heiraten schrieb, das ist mir völlig aus der Erinnerung verschwunden.
Auch Fännchen schied nicht gänzlich aus meinem Dasein; immer wieder begegnete ich ihr auf Bällen, und hatten wir auch einander viele Wochen vorher nicht gesehen und kaum aneinander gedacht, so konnte es doch gelegentlich auf einer Galerie der Sofien- oder der Blumensäle geschehen, daß sie mir unter heißen Küssen versicherte, sie werde noch an mir zugrunde gehen, was ich zwar mit mäßig geschmeicheltem Jünglingsstolz, aber im übrigen nicht ernsthafter hinnahm, als es gemeint war.
Ungefähr gleichzeitig mit meiner Beziehung zu Gisela Freistadt, doch in seelisch höheren Regionen, spielte sich eine andere ab, zu der sanften dunkelblonden Charlotte Heit, in deren Familie ich übrigens schon zwei Jahre vorher eingeführt worden war. Der Vater war ein gutgestellter Kaufmann und als Präsident eines jüdischen Begräbnisvereines offizieller Teilnehmer an allen besseren Leichenbegängnissen, was einen zweifellos ernsten, aber mir nicht ganz verständlichen Geschmack verriet; die Mutter eine stille, langweilig-würdige Frau, das ganze Haus von einem wohlanständig-behaglichen und – den beiden Töchtern zuliebe, von denen Charlotte, die ältere, eben ins heiratsfähige Alter getreten war – heiter-geselligen Charakter. Den Eindruck meines ersten Besuches hielt ich mit den Worten fest: »Die Tochter des Hauses wunderhübsches Mädchen – ein paar liebe Leute – die Zigarren hätten besser sein können.« In dieser letzteren Hinsicht war man nämlich zu jener Zeit etwas verwöhnt; und wir Tanzjünglinge, deren Taschengeld selten auf Havannas reichte, betrachteten es durchaus als nicht unehrenhaft, an Ballabenden, ganz abgesehen von der Souper-Zigarre, die wir an Ort und Stelle genossen, eine kleinere oder größere Anzahl aus den braunen Schachteln in unsere Fracktaschen verschwinden zu lassen, und rühmten uns gelegentlich vor dem Gastgeber selbst dieser kleinen Mausereien. Die Minderwertigkeit der Zigarren hinderte mich übrigens nicht, das Haus weiter zu frequentieren, in dem auch für Anregungen höherer Art gesorgt war; so las man damals den »Julius Cäsar« mit verteilten Rollen, führte das einaktige Lustspiel »Ehrgeiz in der Küche«, in dem ich den Vater spielte, und den »Toten Mann« von Hans Sachs auf, worin ich, schlecht vorbereitet, genötigt war, meine Rolle hervorzunehmen und mit dem Rücken zum Publikum abzulesen,[181] was dem Erfolg keinen Abbruch tat. Doch erst zwei Jahre später, nachdem sich meine Schwester mit Charlotte inniger befreundet hatte, wurde ich ein häufigerer Gast im Hause und begann mich mit Charlotte, die nicht von sehr lebhaftem, aber anmutig-klugem Geiste und mir als Tischnachbarin mindestens so wert war wie als Tänzerin, immer besser zu verstehen. Als sie mir einmal während eines Soupers die unschuldig-naive Geschichte ihrer ersten Liebe erzählte, die damals schon verschmerzt war, sah ich mich veranlaßt, mich mit einem gleichen Beweis des Vertrauens zu revanchieren, und so hatten sich unsere Herzen beinahe schon gefunden, noch ehe neue Theaterproben, diesmal zu der französischen Bluette »Eine Tasse Thee«, ihre oft bewährte freundlich-kupplerische Macht entfalteten. Ich spielte den Henri, Charlotte natürlich meine Gattin, die komische Rolle des Camouflet war Herrn Ferdinand Neumann zugewiesen, einem liebenswürdig-zerstreuten Gesellschaftsmenschen, demselben, der zwei Jahre früher bei jener bescheidenen Orgie im Kärntner Hof mein Kamerad gewesen, – dem ich noch immer das Geld für meinen Anteil schuldig war und zeitlebens schuldig geblieben bin. Übrigens war das Haus Heit nicht das einzige, in dem ich meine schwachen schauspielerischen Talente leuchten ließ, erst im Jahre vorher war ich bei Horns zweimal in der ordinären Posse »Zwei Taube« aufgetreten, einmal als der junge Liebhaber, der sich taub stellt, und das zweite Mal als der alte, der von seiner Taubheit durch eine Wunderkur geheilt wird. Der Henri in der »Tasse Thee« war in jedem Sinn eine dankbarere Rolle, denn hier hatte ich Gelegenheit, den berühmten Hofburgschauspieler Ernst Hartmann zu kopieren, womit ich auch ohne weitere theatralische Umrahmung in Gesellschaft stets meines Erfolges sicher sein durfte. Charlotte hatte noch weniger Talent als ich, sah aber schön aus, Ferdinand Neumann wirkte dadurch in der gewünscht komischen Weise, daß ihm überhaupt jede Spur von Talent fehlte, und so konnten wir uns über Mangel an Beifall bei dem wohlgelaunten Publikum nicht beklagen. Der erfreulichere Teil des Abends war aber trotzdem, für mich wenigstens, das Souper, bei dem ich natürlich an der Seite meiner »Theetassen«-Hermante saß, und der Champagner, vielleicht auch die Nachwirkung ihres künstlerischen Erfolgs, ihr Worte auf die Lippen lockte, vor deren Aufrichtigkeit sie unter alltäglicheren Umständen[182] wohl selbst erschrocken wäre. Sie fragte mich im Laufe des Gesprächs, wie ich mir ihr Ideal vorstelle. Ich redete hin und her, wahrscheinlich nicht viel tiefsinniger, als man auf solch eine Frage eben antworten kann, bis sie plötzlich mir alle weiteren Geistreicheleien mit den überraschenden Worten abschnitt: »Wenn Sie nur um ein paar Jahre älter wären, ich heiratete Sie auf der Stelle.« Die Tafel wurde aufgehoben, ich blieb an Charlottens Seite, der Tanz begann, und sie flüsterte mir zu: »So hab' ich noch mit niemandem getanzt als mit Ihnen.« Und wie ich mich bei alldem benahm?, so fragte ich mich selbst am Morgen drauf in meinem Tagebuch, das bei dieser Gelegenheit noch ein wenig affektierter klingt als in dieser ganzen, mehr unsicheren als unreinen Epoche meines Daseins, und das überdies mit französischen Romanphrasen durchsetzt ist, vielleicht weil mir die deutsche Sprache, in der ich doch ein Dichter werden wollte, für dergleichen zu gut erschien; – und ich erteilte mir die Antwort: »Weiß selber nicht. Ich glaube doch verliebt, aber doch entsetzlich ruhig.« Dies war ich denn auch im Grunde meiner Seele. Und auch Charlotte, nachdem der Champagner- und Theaterrausch verflogen war, schien ihr gewohntes Gleichmaß wiedergefunden zu haben, wenn sie sich auch bei meinem nächsten Besuch im Hause unendlich freundlich erzeigte und ihr Bedauern über ihre bevorstehende Abreise nicht verhehlte. Sie fuhr mit ihrer Mutter nach Arco, und ich dachte ihrer während ihres Fernseins um so weniger, als indes Gisela Freistadts Zeit gekommen war. Charlotte kehrte wieder; Gisela heiratete und entschwand mir, und an einem schönen Maientag mit ein paar befreundeten Familien war es, daß ich Charlotte endlich wieder zu einer innigeren Aussprache begegnete. Ich weiß nicht mehr, wohin die Wanderung ging, weiß nicht mehr, was wir einander zu sagen wußten; und so wäre mir auch von diesem holden Frühlingstag, in dessen Duft und Zauber zwei junge Herzen miteinander glücklich waren, wie von so manchem andern nicht die leiseste Erinnerung verblieben, wenn nicht in meinem Tagebuch ein paar Worte darüber verzeichnet stünden: »Alles schürzte sich weiter und entwickelte sich bis an einen Punkt, wo mein reservierter Egoismus und ihre Schüchternheit Halt geboten.« So wechseln in jenen Blättern romantisierend-süßliche Ergüsse immer wieder mit Feststellungen von aktenmäßiger Trockenheit. Wenige Tage[183] darauf wurde Charlottens 18. Geburtstag gefeiert. Es war ein schöner, sommerlich warmer Nachmittag, ich stand mit ihr und anderen auf dem Balkon ihrer Stadtwohnung, von dem aus man auf die arme, grüne Anpflanzung hinabschaute, die inmitten der hohen, schmucklosen Häuser des Rudolfsplatzes ein Stück Natur vorzutäuschen sucht, und war mir allzu deutlich bewußt, nichts Rechtes zu empfinden. Beim Abendessen saß ich wie gewöhnlich ihr zur Seite, im Gespräch klangen unsere Seelen wieder leise zusammen, nachher wurde getanzt, und während ich zwischen zwei Walzertouren Arm in Arm mit ihr durch den Salon spazierte, ließ ich beiläufig die Bemerkung fallen, die mir mehr aus dem Kopf als aus dem Herzen kam und in der die spärlichen, aber dichtgedrängten Erfahrungen meiner jungen Jahre sich altklug kundgaben: daß ich niemals heiraten wolle, da ich allzu eifersüchtiger Natur und von keiner Frau vorauszusetzen imstande sei, sie würde mir die Treue länger halten als zwei Jahre, es wäre denn nach harten inneren Kämpfen; denn es müßte doch in dieser Frist einer kommen, der mit reicheren inneren und äußeren Vorzügen ausgestattet sei als ich. Charlotte widersprach lebhaft: »Das reden Sie sich ein. Ihre Frau würde Ihnen sicher treu bleiben.« – »Das glauben Sie jetzt, heute«, warf ich hin, und ein anderer Tänzer entführte mir meine Begleiterin. Schon nach wenigen Minuten trat sie wieder auf mich zu und sagte weich, leise: »Gerade heute hätten Sie mir das nicht sagen sollen.« Mir wurde etwas wirr im Herzen. »Es ist eine fixe Idee von mir«, sagte ich in dem Bedürfnis, mich zu entschuldigen. »Vielleicht bin ich ein Narr.« Wir saßen zusammen in einer stillen Ecke. Aus einer Unterhaltung in der Nähe klang das Wort »Selbstmord« zu uns her; ich nahm es auf, und in meinem schon damals sehr regen dialektischen Drang, mich wahrscheinlich mit Absicht in Widerspruch zu einem der Gesprächsteilnehmer setzend, plädierte ich eifrig für das Recht jedes Menschen, seinem Leben, ohne Rücksicht auf andere, wann es ihm immer beliebte, ein Ende zu machen. Charlotte schlug sich zur Gegenpartei, und als wir nach vielfältiger Hin- und Widerrede unser Gespräch zu zweien weiterführten, wandte sie sich in ihrer sanften Art zu mir mit den Worten: »Sehen Sie, Arthur, nach alldem, was Sie heute abend zu mir gesagt, habe ich keine Hoffnung mehr denjenigen zu heiraten, der allein mich glücklich machen könnte.[184] Und doch werde ich mich nicht töten, sondern versuchen, an der Seite eines andern weiterzuleben, den ich jedenfalls nicht lieben werde.« Daß ich an diesem Abend wirklich, wie mein Tagebuch in verdächtig romantischer Stilisierung meldet, kein Wort mehr gesprochen, will ich nicht beschwören; daß ich nichts Gescheites erwiderte, wohl auch nicht zu erwidern vermochte, halte ich für unzweifelhaft; – ob es aber mehr Vorsicht als Gleichgültigkeit, mehr Absicht als Zufall war, daß ich in der nächsten Zeit Charlotte nicht wiedersah, das weiß ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls übersiedelte Charlotte mit den Ihren bald aufs Land, wo ich ihnen in Gesellschaft meines Bruders in den ersten Julitagen einen formellen Besuch abstattete und Charlotte bei dieser Gelegenheit von anmutigem und zutraulichem Wesen fand. Wenige Wochen darauf fuhr ich nach Ischl, wo wir damals eine hübsche Wohnung am Stefanie-Quai gemietet hatten und ich mich in Sommerfrischenmuße für die letzten Rigorosen vorbereiten sollte. Beim Öffnen meines Koffers fiel mir alsbald ein offener Brief in die Augen, den bestimmt nicht ich dahingelegt hatte: es war ein Brief Charlottens an meine Schwester, den diese mit offenbarer Absicht unter meine Sachen eskamottiert hatte und der nichts war als ein einziger Ausbruch von Liebesleidenschaft, über dessen Gegenstand ich nicht in Zweifel sein konnte und sollte. Auch hievon blieb ich ziemlich unberührt und kann diese Herzensträgheit nicht einmal mit der flüchtigen halbplatonischen Beziehung zu einem anderen weiblichen Wesen rechtfertigen, das ich kurz vor meiner Abreise nach Ischl kennengelernt, von dem ich nicht mehr zu sagen weiß, als daß es – »impertinenterweise«, wie ich ausdrücklich in mein Tagebuch vermerkte – gleichfalls den Namen Charlotte trug. Deutlich aber erinnere ich mich, daß wir jungen Leute gerade in diesem Sommer allabendlich mit besonderer Begier auf wohlfeile Liebesjagden umherstreiften, ohne daß mir das Glück sonderlich hold gewesen wäre, ja daß eine bildhübsche Kammerjungfer mich durch ihre zweckbewußte Sprödigkeit vielmehr in gelinde Verzweiflung brachte.
Kurz nach unserer Rückkehr erlitt meine gute Großmutter, deren durch auffallende Gedächtnisstörungen charakterisierter Zustand uns schon in Ischl beunruhigt hatte, einen Schlaganfall. Eine Woche lang lag sie bewußtlos. Ich fühlte eben ihren Puls, als sie nach einem ergreifenden Augenaufschlag, in dem sie die[185] Umstehenden wiederzuerkennen und von ihnen Abschied zu nehmen schien, ihren letzten Seufzer aushauchte. Meine Aufgabe war es, von dem erfolgten Hinscheiden den Großvater zu benachrichtigen, der vorher stundenlang in seinem Zimmer ruhelos auf und ab geschritten war und nun die Todesnachricht mit einem stummen, wie verdrossenen Kopfnicken entgegennahm. Ich hatte nun zum ersten Mal einen Menschen sterben gesehen.
Dieser Trauerfall, wenn auch ich persönlich ihn bald verschmerzt hatte, verdüsterte die Atmosphäre unseres Hauses recht sehr; die Nähe der Prüfungen tat ein übriges, um mich herabzustimmen, und ohne tiefere Anteilnahme erfuhr ich, daß Charlotte gemütskrank sei, nachtwandle, viel weine und trotz dringenden Zuratens zu einer entschiedenen Ortsveränderung nicht zu bewegen sei. An einem späten Novembertag trat meine Schwester plötzlich zu mir ins Zimmer und erklärte mir, ich sei in Charlotte verliebt und solle sie heiraten. Wenige Tage darauf erschien Richard Tausenau bei mir, der sich sonst um ans Legitime grenzende Liebesangelegenheiten wenig zu kümmern pflegte, und wies mir den Brief einer intimen Freundin Charlottens vor, worin jene ihn dringend bat, mich zu einem Besuch bei Charlotte zu veranlassen, er täte ein gutes Werk damit. Ich blieb stark oder schwach, wie man will, und ließ mich bei Charlotte nicht blicken. Eines Tages im Fasching erfuhr ich, daß sie den kaufmännischen Ball besuchen werde. Eine solche Gelegenheit, sie auf neutralem Boden wiederzusehen, wollte ich doch nicht versäumen – oder sollten noch andere Lockungen im Spiele gewesen sein? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls warf ich mich in Frack, und während wir für den Sofiensaal Toilette machten, berichtete mir mein Bruder, daß ihm neulich eine junge Dame seiner Bekanntschaft den eigentlichen Anlaß von Charlottens Erkrankung mitgeteilt hätte. Nach unserem Besuch in Vöslau war ihre Mutter plötzlich mit der Frage an sie herangetreten, ob sie mich liebe; und auf Charlottens rückhaltloses Eingeständnis hatte ihr die Mutter mit Heftigkeit klarzumachen versucht, daß ich in keiner Weise zu ihrem Gatten tauge. Nach dieser Auseinandersetzung, die Charlottens Hoffnungen offenbar gründlicher zerstörten, als es meine Äußerungen an ihrem Geburtstag und mein ganzes darauffolgendes Verhalten zu tun vermocht hatten, wäre sie in[186] jenen Zustand von Melancholie verfallen, von dem ich nun schon zum soundsovielten Male Kunde erhielt, – und in dem ich sie endlich auch eine Stunde nachher, nach so vielen Monaten im Sofiensaal antreffen sollte. Unser Wiedersehen schien kaum den geringsten Eindruck auf sie zu machen. Ein traurig-starres Lächeln lag auf ihren Lippen, ihre Sprache war langsam, tonlos, müde, und was für Themen ich auch anzuschlagen mich bemühte, ihr Lächeln blieb trüb, ihre Rede teilnahmslos, ihr Blick fern und leer. Am sonderbarsten aber berührte mich ihre Art zu tanzen; – ob nun ich oder ein anderer ihr Partner war, sie schwebte, glitt, schleifte wie im Schlaf dahin; – nur zuweilen, wenn sie im Arm eines andern an mir vorüberkam, streifte sie mich mit einem Blick voll Innigkeit und Wehmut, als erwachte sie für eine flüchtige Sekunde aus einem Traum, um gleich wieder darein zu versinken.
Wenige Tage nach diesem Ball reiste sie nach Venedig, und nach ein paar Wochen kehrte sie von dort, wie sie meiner Schwester gleich nach der Heimkunft verkündete, frisch und fröhlich wieder. So hatte sie's nicht einmal nötig gehabt, sich gesundzuheiraten, wie ich es ihr im stillen unter jenem letzten Balleindruck edelmütig-zynisch gewünscht; – sie war schon längst völlig hergestellt, als sie noch im gleichen Jahre einem hübschen, jungen, tüchtigen Fabrikanten zu einer glückversprechenden und, wenn nicht alles trügt, dies Versprechen im vollsten Ausmaß haltenden Ehe ihre liebe sanfte Hand reichte.
Zu den gelegentlichen Gästen des Hauses Heit gehörte auch mein Kollege und Kamerad Hiero Stössel, was keiner weiteren Erwähnung wert wäre, wenn ich nicht hier ein Beispiel seiner Lügenhaftigkeit als das vielleicht schlimmste anzuführen hätte, das mir je in meinem Leben vorgekommen ist. Er hatte einen Oberarzt, Dr. Josef Zeisler, bei Heits eingeführt, mit dem auch ich ziemlich befreundet war, und dieser nahm mich eines Tages beiseite, um mir unter der ehrenwörtlich abgeforderten Bedingung, ich dürfe keine weiteren Konsequenzen daraus ziehen, mitzuteilen, daß Hiero ihm anvertraut, er habe mit Charlotte ein Liebesverhältnis, was er ihm auf seine Zweifel hin mit allen möglichen Details zu bekräftigen suchte, sogar mit Bezeichnung des Hotels, in das er sie angeblich zu führen pflege. Die Verleumdung war für jedermann, der die Familie, das Mädchen und gar den Verleumder selbst nur oberflächlich[187] kannte, so über alle Maßen läppisch, daß ich nach einer kurzen Aufwallung mich der Meinung Zeislers anschloß, der fand, man solle die Sache auf sich beruhen lassen, statt ihr durch eine ernsthafte Behandlung Bedeutung und, wie es dann kaum zu vermeiden war, eine Verbreitung zu verleihen, die gerade für die unschuldig Beteiligte am peinlichsten hätte werden müssen. So begnügte ich mich denn mit der Genugtuung, den jämmerlichen Aufschneider (der aber ein tüchtiger Fechter und überhaupt ein sogenannter forscher Bursche war) in tödlicher Verlegenheit und Angst zu sehen, als ihn Dr. Zeisler eines Abends im Café in meiner Gegenwart mit seinem angeblichen Glück bei Weibern aufzuziehen begann und, mit halbverräterischen Anspielungen immer weitergehend, ihn endlich zu der flehentlichen Bitte veranlaßte, der Herr Oberarzt möge doch der feierlich gelobten Diskretion nicht vergessen.
Übrigens glaube ich, daß es Individuen von der Art dieses Hiero Stössel wirklich nur auf das Lügen und nicht darauf ankommt, daß sie auch Glauben finden. Sie mögen auch zuweilen einen Zweck verfolgen, am häufigsten den einer momentanen Befriedigung ihrer Eitelkeit, aber das ist sekundär. Auch den Vorteil, der ihnen gelegentlich bei Dummen aus ihren Lügen erwächst, nehmen sie eben mit, ohne daß die Aussicht auf einen solchen Vorteil das Bestimmende für sie gewesen wäre; das wesentlichste Moment bleibt der unwiderstehliche Zwang, der wie bei anderen Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen je nach dem sonstigen Geistes- und Charakterzustand des Betroffenen sich zuweilen korrigieren und regulieren, aber kaum jemals völlig niederkämpfen läßt.
Charlotte Heit habe ich nach ihrer Verheiratung noch einige Male von fern wiedergesehen, doch jedenfalls nur flüchtig, ja ich glaube fast, niemals wieder gesprochen. Daß ich mich ihrer Liebe gegenüber so lau, gegen ihre Eheabsichten so spröd verhalten, habe ich niemals bereut; übrigens wären auch meine Eltern kaum einverstanden gewesen, wenn ich noch vor meinem Doktorat und noch für Jahre auf die väterliche Unterstützung angewiesen, mich mit ihr verlobt hätte; um so mehr, als sie zwar eine leidlich gute, aber nicht gerade das war, was man eine glänzende Partie zu nennen pflegt. Und ich halte es nicht für unmöglich, daß diese Erwägung, freilich ganz nebenhin, damals auch für mich mitspielte. Denn ich erinnere mich, daß[188] ich mich, ungefähr zur selben Zeit, über den Entschluß meines Onkels Felix ein wenig wunderte, der statt einer schönen und reichen Pariser Bankierstochter, die ihn gern zum Mann genommen hätte, ein fast unbemitteltes junges Mädchen, seine Cousine Julie, von der ich schon früher erzählt habe, als Gattin heimführte; – und diese meine Verwunderung, deren ich mich noch so deutlich zu erinnern vermag, ist mir ein Beweis nicht nur dafür, wie tief ich damals noch in den bürgerlich-praktischen Anschauungen befangen war, in deren Dunstkreis ich atmete, sondern auch dafür, daß ich von Liebe im höheren Sinn damals überhaupt noch nichts wußte oder nur verstand.
Auch die Verse, die ich zu jener Zeit verfaßte und mit den Namen meiner wechselnden Flammen und Flämmchen zu überschreiben pflegte, sind jedes tieferen Gefühles bar und gefallen sich, mit wenigen Ausnahmen, ohne durch besondere poetische Vorzüge zu versöhnen, in einem ironisch-skeptischen, überlegenwitzigen Ton, zu dem die besungenen Damen allerdings einigen Anlaß boten. Auch was ich sonst vom Freiwilligenjahr an bis zum Doktorat und noch eine Weile später literarisch zu produzieren versuchte, scheint mir, auch nur als Begleitzeichen meiner inneren Entwicklung genommen, kaum der Rede wert. Der Stoff des »Modernen Jugendlebens« beschäftigte mich weiter, ohne daß was Rechtes dabei herauskommen wollte; eine novellistische Skizze, »Festmahl«, die einen durchgefallenen, seiner Gäste vergeblich harrenden Dramendichter sentimental und humorlos abzuschildern sucht, wurde allerdings nicht nur vollendet und sogar einigen Freunden einzelweise, darunter dem Pianisten Rosenthal, vorgelesen, sondern sogar durch Vermittlung Tausenaus, der sich irgendeiner journalistischen Beziehung rühmen durfte, der »Neuen Freien Presse« angeboten; das Beginnen blieb ebenso erfolglos als es die kurz vorher gewagte Einsendung einiger Gedichte an die »Fliegenden Blätter« geblieben war. Diese kleinen Enttäuschungen empfand ich um so weniger schmerzlich, als ich in dieser Epoche meiner inneren Berufung um nichts sicherer geworden war.
Unsicher und schwankend war auch mein Verhältnis zur Medizin geblieben. Und gerade die aus äußeren Gründen immer dringender werdende Notwendigkeit des Studierens machte, daß ich mich bald mit besonderer Heftigkeit abgestoßen, bald angelockt und bis in die Wurzel meines Wesens angerührt[189] fühlte. Dies glaube ich heute, nach so vielen Jahrzehnten, da meine seelische Beziehung zur Medizin, ungetrübt durch jeden äußeren Zwang und jede praktische Betätigung, sich in einer fast experimental zu nennenden Reinheit entwickeln durfte, entschiedener zu wissen, als ich es damals gewußt habe. Dabei will ich das Interesse für Nerven- und Geisteskrankheiten, das ich als das einzige in mir zweifellos vorhandene empfand, nicht einmal sonderlich hoch bewerten, da es nicht so sehr im eigentlich Medizinischen als im Poetischen oder doch Belletristischen wurzelte. Jedenfalls aber war es die innere Medizin in ihrem ganzen Umkreis, die mich stärker anregte als die chirurgischen Disziplinen, gegenüber denen ich ein Gemisch von Scheu und Widerwillen verspürte und mit denen sich meine hypochondrische Anlage in einen oft fast krankhaften Widerspruch setzte. Die Vorlesungen besuchte ich im ganzen unregelmäßig, wobei die chirurgischen bei Albert und Billroth, die ich durch die üblichen Operationskurse an der Leiche zu ergänzen trachtete, noch schlechter wegkamen als die internen bei Nothnagel. Nicht fleißiger fand ich mich auf der geburtshilflichen Klinik bei Späth ein, und auch der Okulist Stellwag, an dem ich nebstbei zu bemängeln hatte, daß er zum Salonrock gelbe Schuhe trug, sah mich nicht oft in seinem Hörsaal. Ähnlich hielt ich es mit den theoretischen Fächern, der pathologischen Anatomie bei Kundrat, der allgemeinen Pathologie bei Stricker und der gerichtlichen Medizin bei Hofmann; und so hatte ich auf allen Gebieten tüchtig nachzuholen, wenn ich bei den Prüfungen bestehen sollte. Daher gesellte ich mich, als es soweit war, gewissenhafteren Kollegen zu, mit denen der Stoff gemeinsam durchgearbeitet wurde, und unschätzbar ward nicht nur für mich, sondern auch für Louis Mandl, der sich übrigens im Lauf der Jahre zu einem arbeitsfreudigeren Studenten entwickelt hatte, die Mithilfe eines Mediziners, der als der tüchtigste des Jahrgangs gelten durfte, meines späteren Schwagers Marcus Hajek. Einige Jahre vorher war er, ein blutarmer Junge, aus seiner Heimatstadt Temesvar mit Empfehlungen in das Haus meiner Eltern gekommen, wo er seither wöchentlich einige Mal an unserem Mittagstisch teilnahm. Seine naturwissenschaftliche Begabung war hervorragend, sein Fleiß und seine Bedürfnislosigkeit geradezu bewundernswert, und wir andern durften ihn, da er unseren Kenntnissen weit voraus war, fast mehr als[190] Lehrer denn als Studiengenossen betrachten. Aber da schlechte Gesellschaft auch die besten Sitten verdirbt, fügte es sich, daß er nicht nur unseren Lehr- und Lernkameraden, sondern manchmal auch unseren Kumpan beim Kartenspiel abgab, und einmal, leichtfertiger- und gewissenloserweise, ließen wir es geschehen, daß er in einer Nacht beim Einundzwanzig sein ganzes, durch Lektionen mühselig zusammengespartes Rigorosengeld an uns wohlsituierte Jünglinge verlor. Das hinderte ihn nicht, einige Monate vor uns beinahe mit lauter Auszeichnungen sein Doktorat zu machen, wie er auch seine Ehre dareinsetzte, ohne etwa gemahnt zu werden, seine Spielschuld zu bezahlen.
Auch ich schnitt bei den Prüfungen besser ab, als ich erwartet und verdient hatte. Am 21. Oktober 1884 bestand ich mein Praktikum aus pathologischer Anatomie, am 22. November das aus der internen Medizin, am 28. November das zweite Theoretikum mit zum Teil ausgezeichnetem Erfolg, im Frühjahr 1885 legte ich die praktischen Prüfungen aus Gynäkologie, Augenheilkunde und Chirurgie, am 28. Mai mein drittes, letztes theoretisches Rigorosum ab und promovierte am 30. mit Louis Mandl, Armin Petschek und zehn anderen Kollegen zum Doktor der gesamten Heilkunde. Die Stimmung jener Maitage, in denen ich mich zu der letzten Prüfung vorbereitete, scheint mir in einer Tagebuchnotiz mit solcher Wahrheit festgehalten und im Ausdruck so charakteristisch, daß ich am besten zu tun glaube, wenn ich damit diesen Abschnitt beschließe.
»Ich vergesse ganz, was und wer ich bin«, heißt es unter dem Datum des 7. Mai, »dadurch spüre ich, daß ich nicht auf der richtigen Bahn bin. Ich glaube nicht, daß mir meine Objektivität verlorengegangen wäre durch den leicht begreiflichen Widerwillen gegen die Examina (übermorgen habe ich wieder eins zur Abwechslung und zwei, drei Wochen später hoffentlich mein letztes), aber ich habe das entschiedene Gefühl, daß ich, abgesehen von dem wahrscheinlichen materiellen Vorteil, ethisch einen Blödsinn begangen habe, indem ich Medizin studierte. Nun gehöre ich unter die Menge. Kommt dazu noch erstens meine Faulheit, als zweiter und wohl noch ärgerer Nachteil die schändliche Hypochondrie, in die mich dies jämmerliche Studium, jämmerlich in Beziehung auf das, wo es hinweist und was es zeigt, gebracht hat. Ich fühle mich häufig ganz niedergebügelt, mein Nervensystem ist dieser Fülle deprimierender[191] und dabei ästhetisch niedriger Affekte nicht gewachsen. Ich weiß es noch nicht, weiß es heute, wo ich wohl in der Blüte geistiger Jünglingskraft stehen sollte, noch nicht, ob in mir ein wahres Talent für die Kunst steckt, daß ich aber mit allen Fasern meines Lebens, meines höheren Denkens dahin gravitiere, daß ich etwas wie Heimweh nach jenem Gebiet empfinde, das fühl' ich deutlich und hab' es nie deutlicher gefühlt als jetzt, da ich bis über den Hals in der Medizin stecke. Ob ich elastisch genug bin, wieder aufzuschnellen über kurz oder lang? Es entwickelt sich was in mir, das so aussieht wie Melancholie, und doch, ich habe so 'ne gewisse Sympathie für den Menschen, der mein Ich repräsentiert, daß ich manchmal denken mag, es wär' doch schad' um ihn. Aber es ist doch auch nichts um mich, das mich irgendwie hinaufbringen könnte. Ich muß gestehen: Meine Eitelkeit sträubt sich manchmal recht intensiv dagegen, wenn ich sehe, wie so 'ne ganze Menge von Leuten, die der Zufall, mein Lebens- und Studienwandel in meine Nähe, ja an meine Seite gebracht hatte, sich ganz verwandt mit mir fühlt und gar nicht daran denkt, daß ich vielleicht doch einer anderen Klasse angehören könnte. Fiel' einem von diesen (manchen recht lieben Leuten) durch Zufall dieses Blatt in die Hände, so dächt' er wohl, der Kerl ist doch arroganter, als ich bisher glaubte. – Und doch, woher sollen sie denn nur wissen, daß in mir vielleicht was vorgeht, wovon sie nie und nimmer eine Ahnung haben können; – vergesse ich's in der letzten Zeit schier selbst – Und am End' ist's wirklich nichts als eine Art von Größenwahn ... Ich bin heute unklarer noch, als ich es seinerzeit war, denn das, als was ich heute gelte, bin ich ja doch nicht – am Ende noch weniger. Nun, es kommt bald die Zeit, in welcher ich mir Gewißheit über mich selbst verschaffen werde. Warte, Kerl, ich muß dir noch auf den Grund kommen.«
Gar oft seit diesen Tagen, auf der Fahrt über dunkle Lebensfluten, war ich versucht, das Senkblei oder gar den Anker auszuwerfen – ohne daß mir Gewißheit wurde, ob er auf den Grund meines Wesens gegriffen, sich in eine trügerische Sandbank eingegraben oder gar nur in rätselvolles Pflanzenschlingwerk verstrickt hatte.
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