Zweites Buch
Mai 1875 bis Juli 1879

Man stelle sich einen Menschen vor, der unversehens in eine Maskenleihanstalt geriete: ringsherum an den Wänden, in offenen Schränken, auf Kleiderstöcken hängen Gewänder mit schlappen Ärmeln, Mäntel ohne Inhalt; papierene Larven starren mit leeren Augen und zwischen den offenen, rotgeschminkten Lippen gähnen Löcher; es ist eine bunt phantastische, aber tote Welt. Allmälig jedoch regt sich ein oder der andere Ärmel, der eben erst nichts zu enthalten schien als Luft, fingernde Hände strecken sich entgegen, ein Mantel bläht sich, wie wenn eine atmende Brust ihn schwellte, aus der leeren Augenöffnung einer Larve schimmert ein Blick, die Lippen beginnen zu lächeln oder zu grinsen, und was bisher hohle Gewandung oder bemalter Pappendeckel schien, erweist sich als atmend, schauend und bewegt. Es wäre das seltsamste Abenteuer, und doch ist es vergleichsweise nichts anderes als was ahnungsvoll und gefaßt der Knabe erlebt, wenn ihm hinter den Worten, soweit sie etwas Begriffliches bezeichnen, hinter Worten, die er hundertmal gehört, gelesen, ausgesprochen, niedergeschrieben und zu verstehen geglaubt hat, zum erstenmal ihr eigentlicher Sinn aufzuglänzen beginnt. Nicht mehr zwischen Larven und Gewändern wandelt er dumpf einher, das Leben selbst dringt und funkelt auf ihn ein; und auch, wo es sich noch nicht kundgetan, ist er der wundersamsten Überraschung in jedem Augenblick gewärtig.

Wie zum erstenmal in einer schlaflosen Nachtstunde das Wort Tod aus seiner Buchstabenstarrheit für mich erwachte, habe ich eben erzählt; nicht viel später, wie leicht zu denken, sollte mir mit dem Wort Liebe das gleiche begegnen.

Uns gegenüber, ein Stockwerk höher als wir, auf der anderen Seite der Eschenbachgasse, die zwischen Opern- und Burgring[63] mündet, wohnte im Jahre 1875 ein Kaufmann oder Börsianer mit Frau, vier oder fünf Söhnen und einer einzigen Tochter. So war man einander von Angesicht zu Angesicht schon lang nicht mehr fremd, als eines frühen Sommertags die förmliche Vorstellung erfolgte, im Volksgarten, wo Fanny mit ihrem jüngsten Bruder, dem dreijährigen Fritz, und ich mit »Fräulein«, Geschwistern, Schulkollegen zu lustwandeln pflegten. Schon in unserer ersten Unterhaltung ergab es sich, daß wir beide kurz vorher, und zwar am gleichen Tag, dem 15. Mai, unseren dreizehnten Geburtstag gefeiert hatten; und diesem Schicksalszeichen gehorsam, beschlossen wir, uns unverzüglich ineinander zu verlieben. Spaziergänge in den grünenden Alleen des Volksgartens, Versicherungen gegenseitiger Zuneigung, Händedrücke, Blicke und andere Verständigungszeichen von Fenster zu Fenster, auch naivster Art – so stellte ich mich einmal auf einen Stuhl, um der Angebeteten meine ersten langen Beinkleider vorzuweisen – das waren die unschuldigen Äußerungen unserer Seelenregungen; – aber so harmlos die Beziehung sich auch anließ und weiterspann, die Eltern hüben und drüben zeigten sich höchst ungehalten; und einmal trat ich gerade ins Zimmer, als die meinen sich über die Notwendigkeit besprachen, sich mit denen Fannys ins Einvernehmen zu setzen, damit insbesondere der skandalösen Fenstertelegraphie ein Ende gemacht werde, die wir unter Verwendung von Fensterpolstern und brennenden Kerzen zu hoher Vollendung ausgebildet hatten. Aber es bedurfte gar keiner besonderen Maßregeln; schon im Herbst desselben Jahres zogen unsere Nachbarn aus; und da weder meiner Liebsten noch mir viel Freiheit vergönnt war, blieb mir nichts übrig, als manchmal nach der Schule in der Nähe ihrer neuen Wohnung auf der Wieden, einen glücklichen Zufall erhoffend, umherzustreifen. Er wollte sich nicht einstellen; erst als das Frühjahr wiederkam, traf ich an schönen Abenden ziemlich regelmäßig im Volksgarten mit Fännchen zusammen, wenn ich nicht gezwungen war, an den ärztlichen Landfahrten meines Vaters teilzunehmen, die mich nun immer mehr in Verzweiflung brachten. Briefe wurden gewechselt, es gab Liebesversicherungen und Liebeszwiste; und da Freunden und Freundinnen, Vertrauten und Mißgünstigen die üblichen Nebenrollen zugeteilt waren, mangelte es auch nicht an Zwischenträgereien, Eifersüchteleien mit nachfolgender Versöhnung;[64] kurz, es war die echte und rechte Jugendliebe, wie man sie sich als vierzehnjähriger Gymnasiast und gar als Dichter schuldig zu sein glaubte, nur daß ihr leider das Beste fehlte, wovon ein zu dieser Zeit verfaßtes, sauersüßes Gedicht, das mit den Worten anhebt: »Kein einz'ges kleines Küßchen noch von ihrem rosigen Munde« ... ein ziemlich beschämendes Zeugnis ablegt. Die kleinen Herren und Fräulein, die sich damals in unserer Gesellschaft herumtummelten, einzeln und paarweise, sind fast alle mit geringer Kunst, aber ziemlich getreu, in den Entwürfen und Fragmenten aus dieser Zeit abkonterfeit: in dem komischen Heldengedicht »Die Meyeriade« und in einem humoristischen Roman »Akademische Herzen«. Folge ich in dem ersteren den Spuren des Jobsiadedichters Kortum, so sind in dem Roman Einflüsse des liebenswürdigen und erfindungsreichen Hackländer und des um so viel platteren Winterfeld nicht zu verkennen. Das Heitere und Spaßhafte ist an einzelnen Stellen ganz leidlich gelungen, wenigstens dort, wo ich mich innerhalb realistischer Nachschilderung zu halten wußte; und die in der Schule oder im Volksgarten spielenden Szenen verraten überdies eine in solchen Jahren nicht häufige Selbstironie, die freilich, wie es meist der Fall ist, durch Sympathie für die eigene Person erheblich gemildert erscheint. Stumpfer wird der Witz und etwas läppisch die Erfindung, wo der Versuch gewagt wird, Universitätsstudenten oder gar ältere Herren, Balletttänzerinnen und dämonische Baroninnen in satirischer, sentimentaler oder frivoler Beleuchtung vorzuführen.

Auch in anderen Versuchen aus diesen Jahren tritt, ebenso wie manche andere Figuren aus dem bekannten Kreis, das interessante Liebespaar Arthur-Fanny immer wieder auf, wobei nichts weiter an die Wirklichkeit gemahnt, als die beibehaltenen echten Vornamen. Eine alberne Posse, »Fastnachtsgeschichten«, eine andere, nicht viel klügere, »O, welche Lust, zu reisen!« und ein dreiaktiges Lustspiel, in dem die Kotzebue'sche Technik stellenweise nicht ungeschickt nachgeahmt wird: »Die feindlichen Hoteliers« (1878), mögen für diese naivste Abart der Schlüsseldichtung als Beispiele gelten. Die meisten meiner Volksgartengenossen und -genossinnen, wie sie in jenen Schreibereien – vor allem in dem Romanfragment – eigentlich Lebendiger aufbewahrt sind als in meiner Erinnerung, was sogar für Fännchen selbst gilt – entschwanden in der kalten Jahreszeit[65] meinen Augen, um mit dem Erwachen der Natur, unter der erneuten Möglichkeit des Lustwandelns im Freien, wieder emporzutauchen; nur einer, Jacques Pichler, der in der »Meyeriade« und in den »Akademischen Herzen« unter dem Decknamen »Steile« auftritt, ein gutmütig-harmloser, sich wienerisch fesch gebärdender Junge, der sich das Studium wenig anfechten ließ, blieb mir auch in den Wintermonaten nah, war mir eine Zeitlang als Billardkumpan willkommen, konnte sich aber später, als Vertrauter überflüssig geworden, weder bei mir noch sonst in meinem intimeren Kreise behaupten. Auf die Universität gelangte er mit beträchtlicher Verspätung, eine noch erheblichere gab es bis zur Erreichung des medizinischen Doktorgrades; seinen Beruf übte er zuerst im Militärverband aus, um endlich als Zahnarzt ins Zivil überzutreten.

Auch einiger anderer Figuren will ich hier flüchtig gedenken, zweier vor allem, die sich nicht nur durch ihr Glück bei Damen aller Art hervortaten, sowohl bei Backfischen als bei Dirnchen, sondern auch durch ihre Neigung, von ihren Erfolgen zu reden – des fröhlich-trivialen Handelsakademikers Emil Weichsel und des ernster angelegten Realschülers Krisar; – und eines dritten, den wir, allerdings nur hinter seinem Rücken, das »Nelkenvieh« nannten und der den blumigen Teil dieses Kosenamens seinem ständigen Knopflochschmuck, den minder zarten aber dem Umstand verdankte, daß er es wagte, meiner Angebeteten den Hof zu machen. Er war nicht mein einziger und keineswegs der gefährlichste Rivale: Josef Kranz, der spätere Advokat und Finanzier, brachte Fännchen seine Huldigungen in Gedichten dar, die mir viel besser erschienen als die meinen und es vielleicht auch waren. Ein paar Jahrzehnte später, als wir über jene längst verflossenen Zeiten sprachen, bedauerte er nicht nur in meinem, sondern auch in seinem Namen, daß wir »damals« noch nicht erwachsener und gewandter waren.

Vertrauter als mit den bisher Genannten verkehrte ich mit zwei Schulkameraden, die, beide um einige Jahre mir im Alter voraus, infolge ihres geringen Lerneifers, ihrer inneren Unstetheit und mancher unverschuldeten Umstände genötigt waren, ihre Gymnasiallaufbahn vorzeitig abzubrechen. Der eine, Moritz Wechsel, stammte aus einer armen Judenfamilie, die aus Amerika eingewandert war; und so durfte er sich der Aufgabe unterfangen, mich und meinen Bruder in den Anfangsgründen[66] der englischen Sprache zu unterweisen. Doch bald wurden die Lektionen, in die mein Vater aus Güte für mich und aus Mitleid mit dem armen Schulkollegen gewilligt hatte, als unfruchtbar erkannt und daher abgebrochen; – nicht so unser freundschaftlicher Verkehr, den ich um so weniger missen wollte, als Moritz nicht nur an meiner Herzensgeschichte, sondern auch ernsthafter als irgend jemand zuvor an meinen dichterischen Bestrebungen Anteil nahm, mit denen er sich schon völlig nach Rezensentenart auseinanderzusetzen wußte. In einer absprechenden Kritik über den »Tarquinius Superbus«, dritter Teil, erwies er sich schon dadurch als der geborene Journalist, daß er von mir höhnisch als von einem Herrn Sch. sprach; und wenn er eine spätere Abhandlung über mein Drama »Der Raub der Sabinerinnen« mit den Worten schloß, »mein Lob dem jungen, hoffnungsvollen Dichter«, so schlägt aus ihnen der Geruch von Druckerschwärze ahnungsschwer entgegen. Aus einer Reihe von Aufsätzen, in denen wir miteinander polemisierten, könnte man, wenn sie noch existierten, eine Verschiedenheit unserer Weltanschauungen ableiten; er vertrat eine stoische, ich, wie schon aus dem Gesamttitel meiner Artikel »Fruere vita« (Genieße das Leben) hervorgeht, eine epikureische Auffassung; daß die meine ehrlicher gemeint war, glaube ich ebenso sicher behaupten zu dürfen, als daß er die seine gewandter zu formulieren wußte. Er war ein kleiner, blasser, krausköpfiger, wenig gepflegter, geduckter Junge, sichtbarlich umflossen von einer trübseligen Ghettoatmosphäre, die mir in seiner Leopoldstädter Wohnung noch greifbarer entgegenströmte, und er schloß sich mir um so lieber und lebhafter an, als sich ihm sonst nur wenig Sympathien zuwandten. Doch auch unsere Beziehungen flauten ab, nachdem er das Gymnasium verlassen; bald darauf, als er schon in die ihm vorbestimmte Laufbahn geraten war, verlor ich seine Person ganz aus den Augen und wußte ihn nur als politischen Mitarbeiter bei großen Wiener Zeitungen tätig. Auch später erfolgten immer nur flüchtige Begegnungen, und bei Gelegenheit des ersten ausführlicheren Gespräches nach Jahrzehnten, im Sommer 1915 in der Vorhalle eines Ischler Gasthofs, sah ich statt des untersetzten, älteren grauen Herren im Lodenrock, Redakteur des »Neuen Wiener Journals«, immer den blassen Judenjungen vor mir, der mich schon, als wir beide noch Schulbuben waren, lang vor Maximilian Harden und anderen Gestrengen,[67] mit gebotener Verächtlichkeit »Herr Schnitzler« genannt hatte.

Nicht nur mein Vater hatte seine, allerdings pädagogisch begründeten Einwendungen gegen meinen Verkehr mit Moritz Wechsel – auch ein Kollege, der als Gymnasialschüler kaum besser als jener und überdies mit ihm ziemlich befreundet war, bemühte sich, ihn aus seiner Vertrauensstellung bei mir zu verdrängen. Sein Name war Adolf Weizmann; seine Familie, gleichfalls in beschränkten Verhältnissen, war in einem mährischen Städtchen ansässig, er selbst wohnte in Wien, bei Verwandten. Im Gegensatz zu Moritz war er ein gradgewachsener, hübscher Junge, freier, wohl auch vordringlicher im Betragen als der andere und nicht nur lyrischer, sondern auch, stolz auf sein starkes, wenn auch etwas trockenes Organ, deklamatorischer und schauspielerischer Neigungen beflissen. Auf einem Schulausflug 1876, wie er nach alter Gepflogenheit unter Führung eines Professors am ersten Mai unternommen wurde, machte er mich und Moritz in etwas geheimnisvoller Weise, aber unter Mitteilung überzeugender Einzelheiten, zu Mitwissern einer platonischen Beziehung zu seiner Cousine, worauf ich nichts Eiligeres zu tun hatte, als ihn in meine eigene Herzensgeschichte einzuweihen. Nicht lange darauf gestand er mir überlegen lächelnd, daß er die seine nur erfunden hatte, um mir durch diese scheinbare Preisgabe seines Geheimnisses das meine, dessen Bestehen er vermutet hatte, zu entlocken. Ich nahm es ihm weiter nicht übel und teilte von nun an meine freundschaftlichen Gefühle zwischen ihm und Moritz, wobei es nicht ohne Neckereien, Eifersüchteleien und Verstimmungen von allen Seiten abging. Auch als literarischer Berater und Kritiker wurde er mir bald unentbehrlich, und noch bewahre ich ein Manuskript des »Tarquinius Superbus, erster Teil« auf, in das er recht kluge, mit klassischen Beispielen belegte Bemerkungen eingetragen hatte, wie an solchen auch in seinen Briefen kein Mangel war. So behauptete er sich als mein Intimus durch geraume Zeit und blieb es auch eine Weile, nachdem er das Gymnasium, schon in der Sexta oder Septima, verlassen hatte. Stundenlang spazierten wir in den Straßen umher, wobei er den »Faust« und den »Uriel Acosta« zu deklamieren pflegte, saßen unerlaubterweise in Kaffeehausecken oder in kleinen Konditoreien, um uns bald über ernstere Gegenstände, vor allem Dichtkunst und Schauspielerei, bald mit harmlosem Geplauder und Spaßetteln aller Art zu unterhalten.[68] Auch hier ist mir von den vielen hundert, einander ähnlichen Stunden, die wir miteinander verbrachten, eine mit besonderer Deutlichkeit im Gedächtnis geblieben, in der wir an einem kühlen, windigen Vorfrühlingstag im Wurstelprater, Brot und Käse verzehrend, zwischen den noch geschlossenen Buden umherzogen. Das Theater bildete nicht nur sein Hauptinteresse – so daß ich mich sogar einmal veranlaßt sah, meine Uhr zu versetzen, um ihm den Kauf eines Billets für eine Vorstellung des »Götz« im Burgtheater zu ermöglichen – es war auch sein persönlicher Zukunftstraum; ja, mit einer Empfehlung meines Vaters versehen, ließ er sich auf seine Eignung für den Schauspielerberuf hin von dem Vortragsmeister Alexander Strakosch prüfen. Dieser aber erklärte, daß er ihn mit Rücksicht auf seine noch in der Entwicklung begriffenen Stimmittel durch Erteilung von Sprechunterricht geradezu ermorden würde, und so entsagte Adolf vorläufig, auch aus materiellen Gründen, seinen Künstlerplänen, um nach einem kurzen Hofmeisterintermezzo mit obligater Verliebtheit in die reiche und schöne Millionärstochter, deren Brüder er unterrichtete, die auf Jahre durch seinen Militärdienst unterbrochene Laufbahn eines Handlungsreisenden einzuschlagen, für die er mehr Eignung besaß, als er sich eingestehen wollte. Unsere Verbindung lockerte sich, was nicht allein durch die räumliche Entfernung bedingt war, denn über sein etwas schönrednerisches und nicht durchaus aufrichtiges Wesen hatte ich mich, wozu es keiner sonderlichen Menschenkunde bedurfte, niemals einer Täuschung hingegeben. Aber es blieb dies keineswegs der letzte Fall, in dem eine solche Erkenntnis meiner Sympathie nichts anzuhaben vermochte, solange ich in einem weiteren Umgang geistigen Gewinn oder wenigstens bescheidene geistige Anregung zu finden glaubte. Freilich wußte ich später meine Seele, wenn auch nicht immer mein Herz, besonders, wenn es sich um Frauen handelte, besser zu wahren, als es mir in jenen jüngeren Jahren gelang. Kaum je in meinem Leben ist es mir begegnet, daß ich in einem Freundschaftsverhältnis der werbende Teil gewesen wäre, was man einfach, aber vielleicht nicht ganz erledigend, auf eine gewisse aus Kühle und Mit-sich-selbst-beschäftigt-Sein gemischte Grundstimmung meines Wesens zurückführen mag, die man später oft mit den Fremdworten Reserviertheit und Präokkupiertheit und allzu hart auch als Egoismus zu bezeichnen liebte. Richtig ist[69] jedenfalls, daß ich die meisten Menschen eher an mich herankommen ließ, als daß ich mich ihnen näherte; – war aber ein Verhältnis einmal angebahnt, so konnte ich mir weiterhin keinen Mangel an Aufrichtigkeit oder Aufgeschlossenheit zum Vorwurf machen. Auch in jenen jungen Jahren war es gewiß oft nicht meine Persönlichkeit als solche oder sie allein, die mir Freunde gewann; und ohne die Ursprünglichkeit der Gefühle in Frage zu stellen, deren ich mich von vielen Jugendgenossen zu erfreuen hatte, spielte doch bei manchen, wie bei den eben erwähnten Moritz und Adolf, unbewußt oder halbbewußt das Bedürfnis mit, durch den Verkehr mit dem Doktors- und Professorssohn Anschluß an eine materiell bessergestellte und sozial etwas höhere Schichte zu gewinnen. Mit anderen wieder stellte sich ein Verhältnis noch ungezwungener durch eine schon vorhandene Gleichheit der bürgerlichen Rangsphäre her und festigte sich leicht durch eine außerhalb der Schule liegende Interessengemeinschaft, solange diese eben dauerte. Hier nenne ich als ersten Richard Hörn, in dessen engerem und weiterem Familienkreis ich mich noch lange wohl aufgehoben wußte, als zu ihm selbst eigentlich keine nähere Beziehung mehr bestand. Wir trafen uns vor allem in unserer Liebe für die Romantik. Unter den Dichtern war E.T.A. Hoffmann uns am teuersten, nächst ihm Tieck und Immermann. Ihr Einfluß zeigte sich in manchen meiner Entwürfe und Versuche aus damaliger Zeit, am deutlichsten in einer übrigens kindlich-süßlichen, gegen Schluß völlig verhudelten »Geschichte von Amadeus, dem Poeten«. Unter E.T.A. Hoffmanns Werken liebte ich am meisten den »Kater Murr«; Tieck kam mir mit »Sternbalds Wanderungen« und »William Lovell« am nächsten, von Immermann fesselten mich außer dem »Münchhausen« die weit schwächeren »Epigonen«, und weniger romantisch als harmlos-bubenhaft war mein Einfall, mit einem Unbekannten, der durch eine Zeitungsannonce Anschluß an ein weibliches Wesen gesucht hatte, eine Korrespondenz anzuknüpfen und mich mit dem Namen einer Figur aus jenem Roman »Flämmchen« zu unterzeichnen. Da ich bald, wie es mir auch in vernünftigeren Dingen begegnete, die Geduld an dem Spaß verlor, fiel mein letztes Schreiben etwas gar zu durchsichtig aus, und mein Partner, so erkennend, daß er mystifiziert worden war, antwortete mir nicht mehr.

Eine Korrespondenz, die ich mit Richard Horn führte, hatte[70] mehr von innen her einen romantischen Einschlag; da gibt es Extrablättchen in Jean Paul'scher Manier – ohne daß ich für meinen Teil es über die Lektüre von »Katzenbergers Badereise« und »Quintus Fixlein« bis heute jemals hinausgebracht hätte –; pedantische Kanzleiräte und dämonische Archivarii Amadeus Hoffmann'scher Faktur gespenstern zwischen den Zeilen; Hauptsache bleibt indes knabenhaftes Schulgeschwätz und Berichte über pikante Erlebnisse oder wenigstens Anblicke, deren Richard sich in den primitiven Badeanstalten eines Salzkammergutsees zu erfreuen hatte. Seine Briefe besitze ich noch, die meinen hat der Empfänger später vernichtet, – und zwar, wie er mir schrieb, aus Kränkung darüber, daß ich zu einer gewissen Zeit den Verkehr mit all meinen Freunden aus einer früheren, vorliterarischen Epoche aufgegeben hätte, was im allgemeinen durchaus nicht zutraf. Ein Charakterzug, der sich noch jenseits der Dreißig nicht verleugnet – damals vernichtete Richard meine Briefe – und nach dem Fünfzigsten – damals teilte er's mir mit – als so berechtigt empfunden wird, muß tief wurzeln und von Geburt an vorgebildet sein. Und tatsächlich war Empfindlichkeit und Neigung zu Gefühlsduselei schon in jenen Knabenjahren bei Richard, der übrigens von strebsamem, nicht sehr rasch fassendem, gern ironischem und leicht überheblichem Geiste war, stark entwickelt; und zu häufigem ungeduldigem Spott forderte mich besonders seine Schwärmerei für einen begabten, liebenswürdigen Altersgenossen von mädchenhaft hübschem Aussehen heraus, der von einem anderen Kollegen sogar als Heiland besungen wurde, so daß sich um seine Gunst gänzlich ohne seine Mitwirkung, da er davon unberührt blieb, Rivalitäten erhoben, die mir höchst lächerlich und etwas widerlich erschienen. Daß bei jenen Schwärmereien homosexuelle Regungen mitschwingen könnten, kam den Beteiligten damals so wenig zum Bewußtsein wie mir; um so weniger, als wir alle von der gewiß nicht unbedeutenden, jetzt meines Erachtens freilich überschätzten Rolle, die diesen Trieben in der jugendlichen Seele zugewiesen ist, ja kaum von ihrem Vorhandensein eine Ahnung hatten. Richard versuchte sich nicht nur, gleich mir, auf belletristischem Gebiet, sondern schrieb auch kleine Klavierstücke in Schumann'scher Manier, von denen manche den Beifall seines Onkels, des Komponisten Ignaz Brüll, fanden, doch gab er nicht mit Unrecht sehr bald[71] in beiden Künsten seine schöpferischen Bestrebungen auf und ließ es sich an einem Genießer- und Kennertum genügen, das zwar etwas begrenzt und selbstgefällig im Ausdruck, zum mindesten auf musikalischem Gebiete, der Echtheit und Wärme nicht ermangelte. In der Liebe für Schumann fanden wir uns vor allem. Denn auch meine innere und äußere Anteilnahme an der Musik war indes weiter vorgeschritten. Ich besuchte viele Konzerte, mit ziemlicher Regelmäßigkeit die der Philharmoniker und des Hellmesberger-Quartetts; ein neuer Klavierlehrer, Anton Rückauf, jung, sanft und blondlockig, mit dem ich mich auch persönlich besser verstand als mit dem früheren, fand mich pianistisch recht begabt und behauptete, daß ich es bei erheblicherem Fleiß weiter hätte bringen können als Moritz Rosenthal, den er übrigens haßte. Das vierhändige Klavierspiel mit Rückauf oder meiner Mutter wurde weiter geübt, auch improvisierte ich gern auf dem Flügel, wobei mir manchmal das Zufallsglück eines melodischen Einfalls oder einer hübschen Harmonisation zuteil wurde; doch als mich mein Lehrer einmal aufforderte, über ein von ihm angegebenes Thema zu phantasieren, versagte ich vollkommen und rettete mich mit Müh und Not in ein sozusagen Bachisches Fugato, wie es mir verhältnismäßig immer noch am besten gelang. Vor der Gefahr, mir eine schöpferische musikalische Begabung einzubilden, blieb ich damals wie später, auch in den inspiriertesten Momenten, dauernd bewahrt, da ich mir des tiefen Wesensunterschiedes zwischen Künstlertum und Dilettantismus schon dadurch im Innersten stets bewußt blieb, daß mir eben auf einem anderen Gebiet wirklicher Kunstverstand und wirkliche Kunstbegabung (von ihrem Ausmaß ist hier nicht die Rede) geschenkt war. Dieser Wesensunterschied wird dadurch nicht berührt, daß dem geschmackvollen Dilettanten durch ein Zusammentreffen von allerlei günstigen Umständen zuweilen im kleinen eine als künstlerisch bewertbare Leistung gelingen und daß der Künstler, auch der ernste und ehrliche, in schwachen Augenblicken oder unter dem Druck von Widerständen etwas Mattes, dilettantisch Wirkendes hervorbringen mag. Liegt das Produkt eines gebildeten und geschmackvollen Menschen vor, so gilt es, zur Lösung des Zweifels, oft von der Einzelleistung bis zu den Wurzeln der Persönlichkeit hinunterzusteigen, was nicht jedermanns Sache ist und wo auch der Berufene oftmals sein[72] Urteil nicht mit Gründen, sondern nur aus seinem inneren Gefühl heraus zu rechtfertigen vermag. Einem abgeschlossenen Lebenswerk gegenüber ist die Entscheidung freilich nicht schwer. Aber ob es zum Beispiel möglich gewesen wäre, in dem, was ich bis zu meinem siebzehnten Jahre dichterisch hervorgebracht habe, – durchaus unselbständigem und größtenteils kindischem Zeug – eine Ahnung von Eigenart zu entdecken oder sonst irgend etwas, was einen sich entwickelnden Künstler ankündigte, möchte ich beinahe bezweifeln. – Kaum weiß ich zu sagen, ob ich selbst mich für berufen hielt, ja, ob ich damals meine gelegentlichen Bemühungen, das Urteil meiner engeren Umwelt oder gar der Öffentlichkeit anzurufen, im Innersten ernst genommen habe; ob ich nicht vielmehr auch hier, halb unbewußt, nur vor mir selbst und den anderen eine Rolle, in diesem Fall die des hoffnungsvollen jungen Dichters, weiterspielte. Meine novellistischen und dramatischen Versuche oder gar meine Liebeslyrik dem Vater mitzuteilen, erschien mir nach wie vor nicht rätlich, von dem »Tarquinius Superbus« machte ich ihm erst an meinem sechzehnten Geburtstag Mitteilung, ohne ihm die Lektüre zuzumuten. Doch hatte er schon früher Gedichte von mir – kaum auf meine Veranlassung – schriftstellerischen Freunden zur Beurteilung vorgelegt, so einem Redakteur der »Neuen Freien Presse«, dem liebenswürdigen Humoristen J. Oppenheim (wie ich aus einem Brief meines Vaters ersehe, der jene Sendung offenbar einbegleitete und die, ich weiß nicht, wie, wieder in seinen Besitz gelangt ist), und dem Novellisten und Concordiapräsidenten Johannes Nordmann, der – wie ich einer Tagebuchnotiz entnehme – meine Gedichte »reizend« fand, vielleicht nur, weil ihr Verfasser der Sohn des Concordiaarztes war, dem sich Nordmann dankbar verpflichtet fühlte. Wie – nach der gleichen Quelle – der Orientreisende und Novellist Vincenti dazu kam, mir »Talent fürs Epische« zuzusprechen, welche meiner Arbeiten und durch welche Vermittlung er sie gelesen, ist mir nicht erinnerlich. Eine mir persönlich unbekannte Frau Schaff hatte durch Moritz Wechsel Einblick in mein Romanfragment erhalten, erklärte mich als zu frivol für ein fünfzehnjähriges Kind und schloß weiter, daß ich – als so frühreif – auch klein und verwachsen, sowie nach meiner Schrift flatterhaft sein müsse. Im Juni 77 sandte ich ein paar Gedichte an einen gewissen Siegmey – den Herausgeber[73] irgendeines Wochenblättchens – und erhielt ermunternde Antworten, die aber weiter keine Folge hatten. Dem »Salonblatt« schickte ich unter dem romantischen Pseudonym Richard Bleich etliche Verse ein, ohne auch nur einer Erwiderung gewürdigt zu werden. Ebenso erging es mir mit Gedichten, die ich an Robert Hamerling nach Graz adressierte, obwohl ich in meinem Begleitschreiben, wenig geschmackvoll, einen Appell an die vielleicht noch nicht vergessenen Träume seines eigenen sechzehnjährigen Dichterherzens gewagt hatte. Eine Art Feuilleton »Zwanzig Millionen Welten« war für ein Montagsblättchen bestimmt, in dem ich einen populären, astronomisch-kosmischen Aufsatz, der die Vielheit der Sonnensysteme behandelte, mit Ergriffenheit gelesen hatte; – doch der Redakteur, weniger ergriffen als ich, lehnte in der offenen Korrespondenz, mit ironischem Hinweis auf mein jugendliches Gemüt, die Veröffentlichung ab. Ein harmlos-läppisches Gedichtchen, »Omnibusträume« betitelt, wurde von einem Kollegen namens Ostersetzer, der eine Schulzeitung herausgab, »wegen seines für Klassenvorstände nicht geeigneten Inhalts« höflich zurückgewiesen. Ob ein anderes humoristisches Poem, »Ei ei, wie kommt denn das!«, den Beifall meiner Kollegen fand, denen ich es in einer Pause vorlas, weiß ich nicht mehr; jedenfalls trug ich meine Mißerfolge so wenig schwer, als ich etwa auf gelegentliche kleine Erfolge stolz war. Nicht nur Josef Kranzens, auch Adolf Weizmanns Gedichte schätzte ich beträchtlich höher ein als meine eigenen. Indes war ich auch zu einem andern Schul- und Dichterkollegen in ein näheres Verhältnis getreten, einem Tiroler, namens Engelbert Obendorf, mit dem ich während der Lehrstunden in Knittelversen zu korrespondieren pflegte; ihn besuchte ich zuweilen auf seiner Studentenbude in der Lerchenfelder Straße, der alten Kirche gegenüber, die mir in späteren Jahren bedeutungsvoll werden sollte. Einmal ließ ich bei ihm ein Drama zurück, von dem eben zwei Akte vollendet waren; es hieß »Der ewige Jude« und war mir wichtiger als alles andere, was ich geschrieben, weil darin, was mir selbst als das Wesentlichste meiner Art erschien, und das ich als »moderne Romantik« zu bezeichnen liebte, meiner Meinung nach am entschiedensten zum Ausdruck gekommen war. Trotz häufiger Mahnung konnte ich es von meinem Freund nicht wiedererhalten, bis er mir endlich in einem de- und wehmütigen Brief[74] gestand, daß seine Bedienerin es aus Versehen verbrannt hätte. Da ich den Anfang nicht aus dem Gedächtnis neu herzustellen vermochte, und mich nie mehr entschloß, das Thema neu aufzunehmen, konnte ich mir leicht einbilden, daß mit jenem Fragment das Beste, was ich je geschaffen, und das aussichtsreichste meiner Werke verlorengegangen sei.

Außer den obenerwähnten Arbeiten und einer Anzahl von Gedichten, von denen ich eine Auswahl als »Träume« reinlich und zierlicher, als es sonst meine Art war, in ein Heftchen abgeschrieben und »meinem Fännchen« gewidmet hatte, begann ich noch etliches in erzählender und dramatischer Form, darunter ein romantisches Drama in Knittelversen »Die Komödianten«, doch da ich meist ohne rechten Plan anfing, meine Feder laufen ließ, wie sie wollte, und von eigentlicher Arbeit nicht die Rede war, so pflegte ich bei der ersten erheblicheren Schwierigkeit innezuhalten und das Ding, an dem ich das augenblickliche Interesse verlor, ein für allemal beiseite zu legen. War ich auch begreiflicherweise nicht ohne Eitelkeit, so war ich doch von eigentlichem Ehrgeiz, jedenfalls von Zielbewußtheit oder Zielstrebigkeit, frei, und der Gedanke, jemals Schriftsteller von Beruf zu werden, lag mir damals und noch lange Zeit, ja in einem gewissen Sinn immer fern; – und schon durch das väterliche Beispiel und Vorbild war mir die ärztliche Laufbahn in jenen jungen Jahren als unausweichlich und hoffnungsvoll vorgezeichnet. Ein ausgeprägtes naturwissenschaftliches Interesse zeigte sich freilich nicht bei mir, woran vielleicht weniger mangelnde Anlage als Erziehungsfehler schuld waren. Wurde man überhaupt in dieser Epoche auf das Sehen und Schauen nicht genug hingeleitet, legte insbesondere der Lehrplan des Gymnasiums – worin es seither sicher besser geworden – nicht den gehörigen Nachdruck auf Betrachtung und Studium der Natur, so waren wir noch überdies mit den Professoren, die uns in den betreffenden Gegenständen zu unterweisen hatten, übel dran. Die sogenannte »Naturgeschichte« sollte uns Professor Mik beibringen. Er besorgte das in trockener, ja verdrossener Weise, vor allem war es die Krystallographie, die mir bei meiner schwachen geometrischen Vorstellungsgabe erhebliche Beschwer verursachte. Physik, ebenso wie Mathematik, lehrte Professor Dvořak, der nicht nur ein Nichtskönner, sondern ein ungerechter, ja bestechlicher Mensch war, so daß er manche[75] Schüler, deren Eltern er für wohlhabend hielt, so lange schlecht behandelte, bis sich der von ihm erwartete Erfolg, sei es in Bargeld oder Naturalien, einstellte. Schon mit ganz geringen Summen ließ sich seine Gunst erkaufen; noch sicherer aber war es, wenn man ihn zu Privatlektionen ins Haus berief, wie es zum Beispiel bei uns geschah. Zuweilen täuschte er sich in der Abschätzung der Vermögensverhältnisse, wie bei meinem Freund Adolf, der nicht in der Lage war, seine freilich wohlverdiente schlechte Note durch Aufwendung von ein paar Dukaten in eine bessere zu verwandeln, womit er sich vielleicht doch bis zur Matura weitergeholfen hätte. Bald nach meinem Austritt aus dem Gymnasium wurde Dvořak, mit ihm ein anderer, Professor Schenk, zwar auch bestechlicher, doch wenigstens nicht erpresserischer Natur und in seinem Fach ganz tüchtig, von dem neuernannten Unterrichtsminister Gautsch ohne weitere Ehrungen in Pension geschickt. Professor Dvořaks Tochter, schon als junges Mädchen von uns Gymnasiasten um ihrer Schönheit und ihres schlechten Rufs willen scheu bewundert, wurde eine beliebte Schauspielerin und leistete als Josefa in Anzengrubers »Viertes Gebot« ihr Bestes. Ich selbst lernte sie erst wenige Jahre vor ihrem frühen Ende, das sie dem Trunk verdankte, persönlich kennen.

Als Lehrer der deutschen Sprache und Literaturgeschichte blieb uns anfangs Zitkovszky erhalten. Er und ich standen uns nach wie vor ohne Sympathie gegenüber, und hauptsächlich dieser Umstand – nicht mein, allerdings recht entwickelter Widerspruchsgeist oder gar mein Gerechtigkeitsgefühl – dürfte der Grund gewesen sein, daß ich einmal, als sich Zitkovszky ziemlich absprechend über Anastasius Grün äußerte, aufzeigte und auf seine ärgerliche Frage, was ich denn wünschte, einfach bemerkte, Anastasius Grün sei doch ein bedeutender Dichter. Dieser Ausspruch blieb in der Klasse lange Zeit, mehr zu meinem als zu des Professors Spott, ein geflügeltes Wort. Bald übernahm unseren Unterricht im Deutschen Ludwig Blume, der uns schon seit den unteren Gymnasialklassen in Geschichte unterrichtete. Im Gegensatz zu den meisten seiner Amtskollegen war er ein wohlsituierter Herr, der uns Knaben auch dadurch geheimnisvoll interessant war, daß er als Lebemann galt, dem man öfters in den Straßen der inneren Stadt auf der Fährte zweideutiger Damen begegnen könne. Doch einem hübschen[76] Mädchen, das auffallend häufig in der Halle des Gymnasiums erschien, um sich, sonderbarerweise immer ausschließlich bei ihm, nach den Fortschritten ihres Bruders zu erkundigen, glückte es, den gefährlichen Professor auf einen besseren Weg zu leiten, so daß wir ihn bald als braven Ehemann und Schwager seines schlechtesten Schülers begrüßen konnten, dem man indes trotz der neuen Verwandtschaft den Rat erteilte, sein Glück an einer anderen Lehranstalt zu versuchen. Früher hatte man es Blumes ausschweifendem Lebenswandel zugeschrieben, wenn er auf dem Katheder einzuschlafen pflegte; aber es zeigte sich bald, daß die stilleren Freuden des Ehestandes an seiner leichten Ermüdbarkeit nichts zu ändern vermochten. Noch immer ereignete es sich, daß er plötzlich aus dem Schlummer auffuhr, wenn irgendein Schüler seine Lektion zu Ende aufgesagt hatte, und daß er dann in den Mienen der Hörerschaft zu lesen versuchte, ob der Geprüfte entsprochen hatte oder nicht, – worauf er ihn entweder mit einem »Na, ist gut« oder einem vorsichtigen »Es hätt' besser gehen können« in die Bank zurückschickte. Übrigens hatte er auch seine guten Momente, trug dann nicht ohne Laune und Temperament vor, insbesondere, wenn er auf ein ihm vertrautes und sympathisches Gebiet kam. Er war von streng nationaler Gesinnung, und seine Lieblingsfrage in der Geschichtsstunde lautete: »Wer kann mir die deutschen Kaiser aufzählen?« Mit einer gewissen Gewandtheit brachte man es dahin, in ein und demselben Semester ein paarmal zur Antwort aufgerufen zu werden, und so gelang es auch mir, in den zwei letzten Gymnasialjahren meine ursprünglich mittelmäßigen Noten so weit zu verbessern, daß mir die erstrebte Befreiung von der Geschichtsmatura zuteil wurde. Seine Begeisterung für Richard Wagner, den er nicht nur für den größten deutschen Musiker, sondern auch für den größten deutschen Dichter erklärte, schrieben wir, wahrscheinlich mit Recht, mehr seiner politischen als seiner ästhetischen Grundrichtung zu, und so wurzelte auch seine Abneigung gegen das Judentum mehr in seiner Gesinnung als in seinem Gefühl. Denn, wenn es ihm auch Spaß machte, die prononcierten Vornamen einzelner Mitschüler bei sich bietenden Gelegenheiten mit tendenziöser Betonung auszusprechen, so hinderte ihn das keineswegs, dem Spitzer Samuel nach Verdienst ein Vorzüglich ins Zeugnis zu setzen; und dem nachlässigen Kohn Isidor erging es nur nach Gebühr,[77] wenn er im Gegensatz zu dem fleißigen Kohn Richard oder dem Löwy Ernst durchfiel.

Damals, es war in der Spätblütezeit des Liberalismus, existierte der Antisemitismus zwar, wie seit jeher, als Gefühlsregung in zahlreichen, dazu disponierten Seelen und als höchst entwicklungsfähige Idee; aber weder als politischer noch als sozialer Faktor spielte er eine bedeutende Rolle. Nicht einmal das Wort war geprägt, und man begnügte sich damit, Leute, die den Juden besonders übel gesinnt waren, fast abschätzig als »Judenfresser« zu bezeichnen. Eine gewisse, keineswegs streng durchgeführte Scheidung zwischen christlichen und jüdischen Schülergruppen – von Parteien konnte noch nicht die Rede sein – machte sich, wie überall und immer, auch in unserer Klasse geltend; als »Judenfresser« galt nur einer, ein gewisser Deperis, und er war nicht gerade wegen dieser Eigenschaft, sondern wegen seiner Geckenhaftigkeit und Hochnäsigkeit uns allen mißliebig und lächerlich. Auch verübelte man ihm, daß er, obwohl stets aufs sorgfältigste gekleidet und offenbar aus wohlhabender Familie, von der Zahlung des Schulgeldes befreit war, und überdies galt er als der beschränkteste unter seinen Kollegen. Er soll sich diesen Ruf auch im Staatsdienst bewahrt haben, wo er bis zum Sektionschef aufstieg; in der Schule hatte ihm seinen Ruf nur einer, übrigens ein höchst anständiger und braver Junge, Karl Leth, mit einigem Erfolg streitig gemacht, trotzdem sollten fast vierzig Jahre vergehen, ehe dieser verdiente Staatsbeamte es bis zum Minister brachte.

In den klassischen Sprachen war unserem alten Windisch der tüchtige, strenge, aber gerechte Schulmann Hauler gefolgt; in der Fünften übernahm nur für dieses eine Jahr Jakob Meister den Unterricht im Griechischen, ein frommer und etwas tückischer Mann, den wir um seiner Eigenheit, jedes K als Ch auszusprechen, und um seiner salbungsvoll langweiligen Redeweise gern verhöhnten. Als er einmal eine Strafpredigt mit den Worten begann: »Also, der Betreffende wird mal so lang zum Brunnen gehen« – rief die ganze Klasse wie aus einem Munde: – »bis er bricht«, worauf Professor Meister nach seiner Gewohnheit die Augen zum Himmel aufschlug, mit dem er sich sehr gut stand, und zur Tagesordnung überging. Die langweilige Manier, in der er und die Mehrzahl seiner philologischen Kollegen die Klassiker tradierten, gab mir den Einfall zu einer[78] Burleske, in der ich Homer in der Unterwelt an Leibschmerzen leiden und auf Erden in der Verkleidung eines schwedischen Schulinspektors die Überzeugung gewinnen ließ, daß an seinen Qualen die üble Behandlung schuld sei, die ihm von Seite der Gymnasialprofessoren zuteil werde. Zwei Wiener Literaten haben dreißig Jahre später ganz ähnlich in einem viel gelungeneren kleinen Stückchen Goethe als das verzweifelte Opfer seiner Erläuterer auftreten lassen.

Ein oder zwei Jahre lang unterrichtete uns im Lateinischen der Weltpriester Johann Auer, der nicht nur um seiner Seelengüte, sondern auch um seiner Aussprüche willen, deren Selbstverständlichkeit oder Weisheit durch eine zerstreute Wendung oft ins Burleske umschlug, sich in der Schule besonderer Beliebtheit erfreute. Unter dem Titel »Aueriana« sind seinerzeit viele dieser köstlichen Sätze und natürlich manche frei erfundenen dazu in einem dünnen Heftchen erschienen. Auch ich legte mir eine kleine Sammlung von Aussprüchen an, die ich mit eigenen Ohren vernommen, sie ist mir leider in Verlust geraten, und ich erinnere mich nur des einen mehr, der lautete: »Das Duften war schon bei den alten Griechen bekannt.« Er war ein hagerer, hochgewachsener Greis, dessen äußere Erscheinung mir mit der des alten Grillparzer zusammenfließt; eine wahrhaft wohlwollende Natur und in seinem Fach, der Philologie, ein Gelehrter von Rang. Es war die größte Seltenheit, daß er in Zorn geriet, und einmal war ich die Ursache eines solchen Ausbruchs, indem ich nämlich, obwohl sonst derartigen Streichen eher abgeneigt, Papierkügelchen gegen den Katheder warf. Nun ereignete es sich zum ersten und einzigen Mal, daß ich ins Klassenbuch eingetragen wurde und noch dazu von der Hand eines Lehrers, der beinahe nie zu solchen Maßnahmen griff, um seine Autorität zu wahren; und er tat es noch überdies mit den beschämenden Worten: »Arthur Schnitzler benimmt sich wie ein Lausbube.« Mir ging das so nahe, daß ich, zufällig am Abend des gleichen Tags mit meinem Vater im Wagen am Gymnasium vorüberfahrend, von einer heftigen Übelkeit ergriffen wurde. Bei einer späteren Gelegenheit wieder gab mir Auer einen Beweis seiner Hochschätzung, der mich um so stärker berührte, als ich nach seiner sonstigen Haltung mir gegenüber in keiner Weise auf dergleichen gefaßt sein durfte. Auf eine Frage Auers hatte ich mich zum Wort gemeldet; ich weiß nun nicht mehr,[79] ob schon darauf hin, weil die Kollegen einen Spaß oder eine Frechheit in der Art meines Anastasius-Grün-Diktums erwarteten, – oder erst auf meine Antwort hin, die vielleicht nicht genug gemeinverständlich ausfiel, war ein Gekicher in der Klasse entstanden, worauf der Professor über die Bänke fast drohend hinrief: »Lachen Sie nicht, der Schnitzler, der ist ein Genie.« Auch einer Diskussion mit ihm entsinne ich mich, in der er behauptete, die alten Römer hätten Selbstmord verübt, indem sie absichtlich den Atem zurückgehalten hätten; worauf ich mich anschickte, ihm zu beweisen, daß ein solcher Selbstmord durch den Umstand, daß bei beginnender Bewußtlosigkeit die Atmung automatisch wieder einsetzen müsse, absolut undurchführbar sei. Als er in der Rekonvaleszenz von einer schweren Krankheit eine Sommerwohnung in Weidlingau bezogen hatte, besuchte ich ihn einmal in Begleitung eines Schulkollegen, Richard Tausenau, von dem zu seiner Zeit noch mehrfach die Rede sein wird. Damals hatten wir uns hauptsächlich in der gassenbubenhaften Hoffnung zusammengetan, von unserem Ausflug ein paar saftige Aueriana heimzubringen, aber der würdige alte Mann gab nichts dergleichen zum besten, plauderte mit uns in kluger und freundlicher Art, wies heiter von der Veranda aus, wo wir mit ihm zusammensaßen, ins Zimmer, wo auf einem Tisch zahlreiche weiße Schachteln aneinandergereiht standen, und bemerkte humorvoll, das seien keine Damenschachteln, wie es wohl den Anschein hätte, sondern das Ganze stelle eine Art Zettelkasten vor für seine sprachvergleichenden Studien, die er eifrig weiter treibe und die er uns unverzüglich mit einigen Beispielen belegte. Er dankte uns herzlich für unseren Besuch, und wir schieden gerührt und etwas beschämt, in der leider nicht trügenden Empfindung, daß wir ihn zum letztenmal gesehen hätten.

Eine gute Erinnerung endlich bewahre ich an Professor Konvalina, der außer klassischen Sprachen noch philosophische Propädeutik, also Logik und Psychologie, vortrug; daß er mir trotz der manchmal recht mäßigen Noten, die er mir im Laufe des Semesters zu geben genötigt war, ins Maturitätszeugnis ein Vorzüglich eintrug, habe ich ihm bei der im allgemeinen herrschenden Klassenfexerei als ein Zeichen freierer Auffassung hoch angerechnet.

Während meiner ersten Gymnasialjahre gab es in der Schule[80] noch keinen Unterricht in der jüdischen Religion. Man legte am Schluß jedes Semesters bei einem der staatlich approbierten Lehrer eine Prüfung ab, deren fast immer vorzüglicher Erfolg im Zeugnis verzeichnet wurde. Später erst wurden reguläre Schulstunden aus biblischer Geschichte und Religionslehre eingeführt, dagegen fiel der Unterricht in der hebräischen Sprache fort, der erst wieder nach Ablauf meiner Gymnasialzeit aufgenommen wurde. Als erster Religionslehrer in unserem Gymnasium erschien der Rabbiner Schmiedl, ein gutmütiger, kleiner Herr, der uns das Leben leicht machte, was wir ihm schlimm genug vergalten. Gab es allzuviel Geschwätz und Unruhe in den Bänken, so hüpfte er verzweifelt auf dem Katheder hin und her, wimmerte ein über das andere Mal: »Das ist ja keine Schule«, wir aber schwätzten unbekümmert weiter. Nach ihm nahm Doktor David Weiss die Zügel in die Hand, ein sehr gelehrter, jähzorniger, ja bösartiger Mensch, der die Achtung, die ihm vielleicht mit Unrecht versagt wurde, durch kreischende Strenge zu erzwingen suchte. Gegen mich hegte er eine besondere Antipathie, die mich im letzten Semester in eine ärgerliche, ja für den Augenblick bedenkliche Lage brachte. Das Buch Hiob wurde gelesen und erläutert, und als man zu dem Vers kam, in dem Hiob (dem Sinne nach, der Wortlaut ist mir nicht gegenwärtig) den Tag seiner Geburt verflucht, stellte Professor Weiss die Frage, warum dies, dem Anschein zum Trotz, nicht als Gotteslästerung aufzufassen sei. Ich meldete mich zum Wort, und keineswegs mit übler Absicht, sondern aus meiner rationalistisch-atheistischen Weltanschauung heraus, zu der ich mich damals verpflichtet fühlte, gedachte ich den scheinbaren Widerspruch dahin aufzuklären, daß Gott an der Geburt Hiobs eben vollständig unschuldig sei. Weiss schäumte vor Wut, drohte mir an, mich beim Direktor wegen meiner lästerlichen Frechheit zur Anzeige zu bringen, und ich hatte einigen Grund zu der Befürchtung, daß er meine Ausstoßung beantragen werde. Doch kam ich seiner Absicht zuvor, indem ich mich sofort am Schluß der verhängnisvollen Stunde zum Direktor begab, der zugleich unser Professor in Griechisch war, und ihm den Sachverhalt klarlegte, so daß mein Feind mit seiner Anklage nicht mehr durchzudringen vermochte und die Angelegenheit ohne schlimme Folgen für mich blieb.

So behauptete ich mich denn auch in den oberen Gymnasialklassen,[81] wenn nicht unter den ersten, so doch immer unter den besseren Schülern; mein Fleiß reichte eben aus, für Nachhilfe war mehr als genügend gesorgt, und an Zeit für vielerlei, was man nach Schulbegriffen, und für manches, was man auch in einem weiteren Sinne Allotria nennen mag, mangelte es mir nicht. Theater- und Konzertbesuch, Lektüre, Spazier- und Plauderstunden mit Freunden, die eigene Dichterei – alles fügte sich ohne Schwierigkeit in den Lauf des Tages; und kam die schöne Jahreszeit oder gar die Ferien, die bis auf ein paar kurze Reisewochen gleichfalls in der Stadt verbracht wurden, so hätte ich auch für mein blondes Fännchen mehr Zeit gehabt, als am Ende doch aus inneren und äußeren Gründen für sie erübrigt wurde. Nachdem wir uns fast zwei Jahre halb zufällig kaum gesehen und gesprochen hatten, fing die Bekanntschaft an einem wunderschönen Septembertag des Jahres 1878 von neuem an, und zwar durch die uneigennützige Vermittlung eines jungen Mannes, den ich bis dahin nicht gekannt und der in einer Allee des Volksgartens auf mich zutrat, um mir im Auftrag eines »schönen Trios« eine Rose zu überreichen. Ich nahm sie dankend entgegen, er sagte »Ich beneide Sie darum« und verschwand. Er hieß Jaspisstein, und seit jener Stunde habe ich nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört. Das »schöne Trio« aber bestand aus Fännchen und zwei gleichaltrigen Freundinnen, die von einer Bank aus schulmädelhaft sich an der Szene ergötzt hatten und bald darauf mit anspielungsreichen Bemerkungen immer wieder an mir vorüberstreiften. Aber erst ein paar Tage später, als ich, mit meinem »Tarquinius Superbus« beschäftigt, auf einer Volksgartenbank saß und Fännchen ihren kleinen Bruder Fritz zu mir schickte, mich um die Rose zu bitten, die ich im Knopfloch trug, fühlte ich mich veranlaßt, mich ihr persönlich zu nähern, und nun knüpften wir gleich wieder dort an, wo wir zwei Sommer vorher abgebrochen hatten. Da wir indes an die Schwelle der Jünglings- und Jungfrauenjahre gelangt waren, so spielte sich unser Verhältnis, wenn auch noch immer unschuldig genug, doch beträchtlich zärtlicher und unruhvoller fort als in früherer Zeit, und es bedurfte bald nicht mehr der Ausrede eines Fangen- oder Pfänderspiels, um in den abendlichen Alleen des Rathausparks oder Volksgartens in Küssen und Umarmungen zueinanderzufinden. In lebhafterer Erinnerung aber als diese abendlichen Zusammenkünfte sind mir die Spaziergänge[82] in den sommerlich verlassenen Gassen der inneren Stadt; die wunderbare Kühle, die uns von den hohen steinernen Mauern der Minoritenkirche und der umliegenden alten Paläste anwehte. Zumeist war Fännchen in Gesellschaft von Freundinnen, die Spiel und Ernst in ihrer Weise zu fördern oder zu stören wußten. Da gab es ein reizvolles, rothaariges Mädchen, in das ich mich ein wenig, ein unhübsches, blasses, allzu kluges, das sich in mich verliebte; ein hageres, sommersprossiges, übelgelauntes stellte sich unserer jungen Liebe geradezu feindlich entgegen, und an ihr rächte ich mich nach Poetenart durch ein satirisches Lustspiel: »Die Moral«, in dem das Verschwinden dieses ethischen Elements aus der Welt damit erklärt wurde, daß es von dem einen keuschen Fräulein Laura ganz und gar gepachtet worden sei.

Nun mag es vielleicht wunderlich scheinen, daß ich von Fännchens innerem und äußerem Wesen bisher noch kaum mehr zu sagen gewußt habe, als daß sie blond war. Bin ich nur darum so karg in meiner Schilderung, weil seither so viele Jahrzehnte vergangen sind, und hätte ich damals anderen und mir selbst besser zu erklären vermocht, warum ich gerade sie und keine andere liebte? Ich glaube kaum. Sie war leidlich hübsch, nicht eben dumm, und besaß gerade so viel Bildung, als man in jener Zeit den Töchtern mittlerer jüdischer Hausstände zu geben für nötig fand. Niemals konnte sie mir als Ausnahmswesen, und noch weniger das Gefühl, das uns verband, als etwas Besonderes erscheinen, vielmehr kam mir das Typische der ganzen Liebesgeschichte, auch während ich mitten darinnen stand, mit vollkommener Deutlichkeit zum Bewußtsein, ohne daß ich sie darum mit geringerer Lust oder geringerem Weh durchlebt hätte, als einem naiveren Gemüte beschieden gewesen wäre. – Denn schon damals besaß ich keineswegs das, was man Illusionen zu nennen pflegt; ein Besitz, den man so oft als beneidenswert preisen hört und nach dem ich niemals die geringste Sehnsucht empfunden habe. Weder an Glück noch an Unglück bin ich darum ärmer gewesen als ein anderer, und daß ich niemals versucht habe, mich über die Natur meiner Gefühle, über das Wesen der Menschen, denen ich nahestand, zu täuschen, hat mich weder davor bewahrt, Unrecht zu leiden, noch, Unrecht zu begehen.

Während nun durch die Ungunst der äußeren Umstände, vor[83] allem aber durch Unerfahrenheit, Schüchternheit und sogenannte gute Erziehung und am Ende wohl auch aus Mangel an echter Leidenschaft mein Verhältnis zu der blonden Jugendgeliebten sich in den damals in unseren Kreisen noch üblichen Grenzen hielt, hatte der Zauber der Weiblichkeit für den heranreifenden Knaben auch in seiner allgemeineren Art zu wirken begonnen. Zwar war mein sittliches Empfinden oder wenigstens mein Gefühl für äußeren Anstand so ausgeprägt, daß ich es für angemessen hielt, unserer französischen Bonne, die einmal, vielleicht nicht ganz absichtslos, in meiner Gegenwart die Bluse wechselte, eine ernsthafte Zurechtweisung zu erteilen; aber die geschminkten und vielsagend zwinkernden Damen, denen wir auf unseren Streifzügen durch die innere Stadt begegneten, erregten mein Interesse um so lebhafter, als die meisten meiner Freunde auf diesem Gebiete schon persönliche Erfahrungen zu sammeln begonnen hatten. Noch entsinne ich mich, wie Adolf nach seinem ersten Liebesabenteuer gegen Barzahlung die verlorene Jugendkraft sofort in übergroßer Vorsicht durch eine aus zwei Rostbraten bestehende Mahlzeit im Gasthaus Zur Linde wiederzugewinnen trachtete, doch bei der Knappheit seines Budgets und der steigenden Anzahl seiner Abenteuer war er bald genötigt, von so kostspieligen Ersatzmaßregeln abzusehen. Die auffallenderen weiblichen Erscheinungen in der Kärntner Straße zeichneten wir durch die Namen von griechischen Göttinnen aus, und insbesondere waren es Venus, Hebe und Juno, die unsere Einbildungskraft erhitzten. Bei meiner wohlbegründeten Scheu vor einer intimeren Bekanntschaft mit all den Huldinnen wußte meine Neugier sich einen Vorwand für die ersten Ausflüge in das bedenkliche Revier zu suchen und, frei nach Freund Adolf, der den Damen, die er mit seiner Gunst beehrte, nachher in salbungsvoller Rede ihren sittenlosen Lebenswandel vorzuhalten und sie zu einem reineren aufzufordern pflegte, beschloß ich, mich gänzlich auf die erzieherische Mission zu beschränken; und mit so ehrbaren, aber innerlich nicht ganz ehrlichen Absichten folgte ich an einem schönen Sommertag der strohblonden Venus in ihre Behausung auf dem Stock-im-Eisen-Platz. Während das hübsche junge Geschöpf nackt auf dem Divan lag, lehnte ich in meinem noch ganz knabenhaft zugeschnittenen Anzug, Strohhut und Spazierstöckchen in der Hand, am Fenster und redete der zugleich gelangweilten und belustigten[84] Schönen, die sich von dem Sechzehnjährigen bessere Unterhaltung erwartet hätte, ins Gewissen, sich doch einem anständigern und aussichtsreichern Berufszweig als dem von ihr erwählten zuzuwenden, und versuchte meinem Ratschlag durch Vorlesen passender Stellen aus einem zu diesem Zweck mitgebrachten Buch – leider weiß ich nicht mehr, aus welchem – größeren Nachdruck zu verleihen. Ohne daß es mir gelungen wäre, sie, oder ihr, mich zu überzeugen, was sie in ihrer Weise immerhin geschickter anstellte als ich in der meinen, nahm ich Abschied und ließ ihr zwei Gulden zurück, deren Besitz ich der meiner Mutter vorgespiegelten Notwendigkeit verdankte, mir einen neuen Gindely, Grundriß der Weltgeschichte, kaufen zu müssen. Seither bekam der Name Gindely in der Unterhaltung zwischen uns verworfenen Jünglingen eine überaus pikante Nebenbedeutung. Im Laufe der nächsten Monate ließ ich dem Besuch bei Venus einige weitere bei den anderen Göttinnen folgen; der erzieherische Teil blieb auf das Unerläßlichste beschränkt, aber auch weiterhin und noch auf lange hinaus, gelang es mir, mich vor dem Sündenfall in seiner biblischen Bedeutung zu bewahren.

Nun führte ich aber seit geraumer Zeit ein Tagebuch, in das ich außer Schulnachrichten auch allerlei höchst persönliche Erlebnisse, wie die letzterzählten, einzutragen pflegte, freilich meist nur in Schlagworten, die aber doch auch dem Verständnis Nichteingeweihter zugänglich gewesen sein dürften. Dem letzten Büchlein aus dem Winter 78/79 hatte ich nicht nur meine aufkeimende Neigung zu der jugendlichen Tochter unseres Zahnarztes anvertraut, während von Fännchen, die ihren unbestrittenen, gewissermaßen akademischen Rang als Jugendliebe unter all diesen Wirrnissen beibehielt, kaum die Rede war; sondern es befanden sich darin auch Andeutungen über meine Besuche bei einer gewissen Emilie, die nach Erledigung der griechischen Göttinnen an die Reihe gekommen war und die, wie ich mich dunkel erinnere, mir nicht nur körperlich, sondern auch seelisch gefährlich zu werden anfing, da ich mich ernstlich in sie verliebt glaubte. Das letzte Zeugnis über das erste Semester der Achten war gerade noch leidlich, aber keineswegs zur Zufriedenheit meiner Eltern ausgefallen, und so hatte sich die schwüle Stimmung, die ich daheim schon geraume Zeit um mich brauen fühlte und die durch meine Nachlässigkeit[85] im Studium, meinen fortgesetzten Verkehr mit den »Freunderln«, wie mein Vater sie verächtlich nannte, und auch durch eine gewisse Ungebärdigkeit meines Benehmens gefördert wurde, immer drohender verdichtet und verdüstert; – bis eines Morgens, gerade als ich zur Schule gehen wollte, mein Vater mir plötzlich stirnrunzelnd anbefahl, ihm aus seinem Arbeitszimmer irgendeinen nebensächlichen Gegenstand, einen Bleistift glaube ich, hereinzuholen. Mir ahnte Schlimmes und mit Recht. Denn als ich wieder ins elterliche Schlafgemach zurückkam, erwartete mich mein Vater mit strenger Miene, mein kleines rotes Tagebuch in der Hand, und es ergab sich, daß er bereits vor mehreren Tagen mit einem – ihm jedenfalls nicht von mir zur Verfügung gestellten – Schlüssel meine Schreibtischlade geöffnet, mein Tagebuch gelesen und es wieder an seinen Platz getan hatte, um heute – ich hatte offenbar das letzte Mal meine Aufzeichnungen in einem besonders spannenden Moment unterbrochen – nachzulesen, was ich indes für neue Untaten verzeichnet haben mochte. Zu leugnen gab es so unwiderleglichen Schuldbeweisen gegenüber nichts; stumm mußte ich eine furchtbare Strafpredigt über mich ergehen lassen und wagte endlich kaum schüchterne Worte des Befremdens über den an mir verübten Vertrauensbruch, der mir durch das patriarchalische Verhältnis zwischen Vater und Sohn keineswegs genügend gerechtfertigt schien. Zum Beschluß nahm mich der Vater mit sich ins Ordinationszimmer und gab mir die drei großen gelben Kaposischen Atlanten der Syphilis und der Hautkrankheiten zu durchblättern, um hier die möglichen Folgen eines lasterhaften Wandels in abschreckenden Bildern kennenzulernen. Dieser Anblick wirkte lange in mir nach; vielleicht verdanke ich es ihm, daß ich mich zumindest noch eine geraume Zeit lang vor Unvorsichtigkeiten hütete und insbesondere meine Besuche bei Emilie und ihresgleichen einzustellen für gut fand. Von so guten Absichten mein Vater bei seinem Vorgehen zweifellos geleitet war, und wenn man ihm auch keineswegs den gewünschten Erfolg gänzlich absprechen darf, – die etwas hinterhältige Methode, die er angewandt, konnte ich ihm lange nicht vergessen; und wenn sich eigentlich kaum je ein völlig rückhaltloses Verhältnis zwischen ihm und mir herzustellen vermocht hat, so war die unauslöschliche Erinnerung an jenen Vertrauensbruch sicher mit schuld daran.[86]

Die Atmosphäre zu Hause hellte sich wieder auf, ich nahm mich – zum mindesten äußerlich – so ziemlich zusammen und durfte der nahenden Matura mit um so geringerer Sorge entgegensehen, als die Befreiung aus zwei Gegenständen, in Geschichte dank meinem geläufigen Aufzählen der deutschen Kaiser, in Physik dank dem häuslichen Privatunterricht bei Professor Dvořak, in beinahe sicherer Aussicht stand. So blieb denn Zeit genug, nicht nur zur Inangriffnahme einiger ernsthaft gemeinter Dramen, zum Billardspiel, das ich seit einiger Zeit mit Eifer und Lust betrieb (wenn ich auch einmal tagelang Angst ausstehen mußte, weil ein Patient meines Vaters mich dabei betreten hatte und ich, glücklicherweise ohne Grund, Verrat und häuslichen Skandal befürchtete), sondern auch, als die schöne Jahreszeit wiederkam, zu den üblichen Volksgartenpromenaden mit Fännchen, mit der ich mich nun so gut zu verstehen anfing, daß wir die zufälligen und absichtlichen Störungen, denen unsere, ach noch immer so unschuldigen Begegnungen ausgesetzt waren, immer unwilliger trugen. Am Abend vor Beginn der schriftlichen Matura geschah es, daß sie mir insgeheim ein Briefchen in die Hand drückte, das nur die Worte enthielt: »Hast du mich nicht mehr lieb?«, an die, da es uns kaum je gegönnt war, ungehindert Liebesworte miteinander zu wechseln, sich eine zärtliche Korrespondenz gewissermaßen von Hand zu Hand knüpfte. Meine Herzensgeschichte nahm mich innerlich viel lebhafter in Anspruch als die Prüfungsaufgaben, von denen ich übrigens nie erfahren sollte, wie ich sie gelöst hatte. Denn am letzten Vormittag, bei Gelegenheit der Übersetzung aus dem Griechischen ins Deutsche, trat plötzlich der Direktor in die Klasse, der zugleich unser Professor im Griechischen war, und verkündete, daß alle diejenigen Schüler, die sich heute unter einem üblichen Vorwand aus dem Zimmer für ein paar Minuten entfernt hatten, einer Leibesvisitation unterzogen werden sollten. Mit einem Dutzend anderer gehörte ich zu den Prüflingen, denen diese arge Unannehmlichkeit bevorstand; und bei uns allen, auch bei dem mitbeteiligten Sohn des Direktors, dem schlechtesten Schüler der Klasse, entdeckte man, was man auch bei allen andern hätte entdecken können, Wörter- und andere Hilfsbücher, deren Benützung während der schriftlichen Prüfung strengstens verboten war. Ich aber war zudem genötigt, dem Direktor ein Heftchen vorzuweisen, das[87] ich aus guten Gründen nicht daheim gelassen, sowenig es mir auch bei einer Übersetzung ins Griechische hätte nützen können: ein eben neu begonnenes Tagebuchheft; – und in Scham vergehend mußte ich danebenstehen, als der Direktor für sich durchlas, was ich am Abend vorher für mich, für mich ganz allein, aufgeschrieben hatte: mein Bekenntnis, daß ich verliebt, ja daß ich geradezu krank vor Liebe sei, – und einiges andere, das eben auch nicht viel klüger und viel griechischer sein mochte. Wortlos gab er mir das kleine Heftchen zurück, und auch meinem Vater gegenüber, der tags darauf in die Schule kam, um Näheres über den Fall zu erfahren, tat er von meinen Aufzeichnungen keinerlei Erwähnung. Gleich meinen Mitschuldigen ward auch ich verurteilt, in der folgenden Woche die ganze schriftliche Matura zu wiederholen. Die Strafe selbst nahm ich nicht sonderlich schwer, aber die Tatsache des Erwischt- und Bestraftwerdens, vor allem der Umstand, daß ein Unberufener Einblick in mein Tagebuch genommen, empfand ich so beschämend, daß ich einem Kollegen gegenüber – es war Richard Horns Herzensfreund Otto – gleich nach der Entdeckung in einem Haustor der Ringstraße verzweifelt erklärte, mir bliebe nichts anderes übrig, als mich zu erschießen. Diese Stimmung hielt freilich nicht lange an. Auch durch ein paar schlechte Verse suchte ich mich mit einigem Erfolg innerlich zu befreien, und die neuen Prüfungsarbeiten wurden ohne verbotene Hilfsbücher zum mindesten ebenso anständig erledigt als die ungültig erklärten der ersten Serie. Auch das mündliche Examen am 8. Juli 1879 bestand ich so gut, daß ich ein Zeugnis der Reife mit Auszeichnung nach Hause bringen konnte. Sonderlich stolz darauf zu sein, hatte ich keinerlei Ursache: Geschichte und Physik waren mir erlassen, meine mathematischen Fragen hatte Dvořak vorher privatim mit mir durchgearbeitet, so blieben als Prüfungsgegenstände nur Deutsch und die klassischen Sprachen übrig, in denen ich nicht übel beschlagen war. Später erfuhr ich, daß man bei der Schlußkonferenz meines Unfalls bei der schriftlichen Matura vergessen hatte und nachträglich von irgendeiner Seite der Antrag gestellt worden war, mir die Auszeichnung wieder zu entziehen. Doch zog man am Ende vor, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ich glaubte übrigens, zu merken, daß der Direktor Schmidt, der mir bis dahin als rechter Pedant erschienen war, gerade seit er in mein Tagebuch Einblick[88] genommen, eine gewisse Sympathie für mich gefaßt hatte. Und so wäre es denkbar, daß ich die nicht so ganz verdiente Auszeichnung einem wehmütigen Erinnern des Herrn Direktors an seine eigene Jugendzeit, also – im humoristischen Spiel der Zusammenhänge – gewissermaßen meiner eigenen Liebe für das blonde Fännchen zu verdanken hatte.

Quelle:
Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Wien, München, Zürich 1968, S. 60-89.
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