Vierte Szene

[830] Julian, Felix und Wegrat.


WEGRAT. Da hat man nun so ein Geschöpf heranwachsen sehen, aus einem Kinde ein Mädchen werden, eine junge Dame, – und hunderttausend Worte zu ihr gesprochen ... Und eines Tages steht sie vom Tisch auf, nimmt Hut und Mantel und geht ... geht ohne Abschied, und man hat keine Ahnung, wohin sie entschwebt ist, ob ins Nichts, ob in ein neues Leben.

FELIX. Aber was immer geschehen sein mag, Vater – sie wollte von uns fort. Und das kann in jedem Fall eine Art von Beruhigung für uns sein.

WEGRAT den Kopf schüttelnd, ratlos. Alles flattert davon ... mit Willen, ohne Willen – alles davon.

FELIX. Vater, was sich ereignet hat, können wir nicht wissen. Denkbar wäre ja jedenfalls, daß Johanna irgend einen Vorsatz gefaßt hatte, von dem sie wieder abkommt. Vielleicht ist sie in ein paar Stunden oder Tagen wieder hier.

WEGRAT. Du glaubst ... du hältst es für möglich?

FELIX. Für möglich – ja. Aber wenn sie nicht käme ... den Plan,[830] von dem ich gestern sprach mit dir, Vater, den geb' ich selbstverständlich auf. Unter diesen Verhältnissen denk' ich nicht daran, mich so weit und auf so lange Zeit von dir zu entfernen.

WEGRAT zu Julian. Nun will er mir gar ein Opfer bringen!

FELIX. Vielleicht ließe es sich auch veranlassen, daß ich hierher transferiert werde.

WEGRAT. Nein, Felix, du weißt wohl, daß ich das nicht annehme.

FELIX. Es ist kein Opfer. Ich versichere dich, Vater, ich bleibe bei dir, weil ich jetzt nicht fort könnte.

WEGRAT. O Felix, du könntest – du wirst können. Um meinetwillen sollst du nicht hierbleiben – darfst du nicht hierbleiben. Ich wüßte nicht, inwiefern mir damit gedient sein sollte, daß du diesen Plan aufgibst, den du mit solcher Begeisterung aufgegriffen hast. Ich fände es unverzeihlich von dir, zurückzutreten, und sträflich von mir, es von dir anzunehmen. Sei doch glücklich, daß sich nun endlich für dich ein Weg eröffnet, auf dem du vielleicht alles finden wirst, wonach deine Wünsche gehen. Ich selbst bin glücklich, Felix. Du würdest dein Lebenlang darunter leiden, wenn du diese Gelegenheit versäumtest.

FELIX. Aber seit gestern kann sich viel, unendlich viel geändert haben – für dich und für mich.

WEGRAT. Für mich – vielleicht. – Aber nichts mehr davon. Ich duld' es nicht, ich nehme ein Opfer nicht an. Ich würde es ja annehmen, wenn ich irgend einen besonderen Vorteil für mich darin sähe. Aber ich hätte dich ja dann nicht mehr, als wenn du fort wärst ... weniger ... gar nicht. Das Schicksal, das über uns hereinbricht, soll nicht zu all seiner eingeborenen Macht auch die schlimmere haben, daß es uns in unserer Verwirrung Dinge tun läßt, die unserm Wesen zuwider sind. Irgend einmal kommen wir doch über das Unglück hinweg, und wär' es das furchtbarste. Aber was wir gegen unser tiefstes Innere verbrochen haben, das ist dann nicht mehr gut zu machen. Zu Julian gewendet. Ist's nicht so, Julian?

JULIAN. Du hast vollkommen recht.

FELIX. Ich danke dir, Vater. Ich danke dir, daß du es mir so leicht machst, dir beizustimmen.

WEGRAT. Es ist gut, Felix ... In den paar Wochen, die du noch in Europa bleibst, wird man ja noch manches mit einander reden können, – vielleicht mehr als in den letzten Jahren.[831] Wahrhaftig, man weiß nicht viel von einander ... Ah, ich bin müde. Die ganze Nacht sind wir wachgesessen.

FELIX. Willst du dich nicht ein wenig ausruhen, Vater?

WEGRAT. Ausruhen ... Du bleibst zu Hause, Felix, nicht wahr?

FELIX. Ja, ich will warten. Was soll man anders tun?

WEGRAT. Ich zermartere mir den Kopf ... Warum hat sie nichts zu mir gesprochen? Warum hab' ich nichts von ihr gewußt? Warum bin ich ihr so fern gewesen? Er geht ab.


Quelle:
Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke. Band 1, Frankfurt a.M. 1962, S. 830-832.
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