Dritter Akt

[255] Dasselbe Zimmer wie im vorigen. Es ist um die Mittagsstunde.

Christine allein. Sie sitzt am Fenster; – näht; legt die Arbeit wieder hin.

Lina die neunjährige Tochter Katharinens, tritt ein.


LINA. Guten Tag, Fräul'n Christin'!

CHRISTINE sehr zerstreut. Grüß' dich Gott, mein Kind, was willst denn?

LINA. Die Mutter schickt mich, ob ich die Karten fürs Theater gleich mitnehmen darf. –

CHRISTINE. Der Vater ist noch nicht zu Haus, Kind; willst warten?

LINA. Nein, Fräul'n Christin', da komm' ich nach dem Essen wieder her.

CHRISTINE. Schön. –

LINA schon gehend, wendet sich wieder um. Und die Mutter laßt das Fräulein Christin' schön grüßen, und ob's noch Kopfweh hat?

CHRISTINE. Nein, mein Kind.

LINA. Adieu, Fräul'n Christin'!

CHRISTINE. Adieu! –


Wie Lina hinausgeht, ist Mizi an der Tür.


LINA. Guten Tag, Fräul'n Mizi.

MIZI. Servus, kleiner Fratz!

LINA ab.


Christine, Mizi.


CHRISTINE steht auf, wie Mizi kommt, ihr entgegen. Also sind sie zurück?

MIZI. Woher soll ich denn das wissen?

CHRISTINE. Und du hast keinen Brief, nichts –?

MIZI. Nein.

CHRISTINE. Auch du hast keinen Brief?[255]

MIZI. Was sollen wir uns denn schreiben? ...

CHRISTINE. Seit vorgestern sind sie fort!

MIZI. Na ja, das ist ja nicht so lang! Deswegen muß man ja nicht solche Geschichten machen. Ich versteh' dich gar nicht ... Wie du nur aussiehst. Du bist ja ganz verweint. Dein Vater muß dir ja was anmerken, wenn er nach Haus kommt.

CHRISTINE einfach. Mein Vater weiß alles. –

MIZI fast erschrocken. Was? –

CHRISTINE. Ich hab' es ihm gesagt.

MIZI. Das ist wieder einmal gescheit gewesen. Aber natürlich, dir sieht man ja auch gleich alles am Gesicht an. – Weiß er am End' auch, wer's ist?

CHRISTINE. Ja.

MIZI. Und hat er geschimpft?

CHRISTINE schüttelt den Kopf.

MIZI. Also was hat er denn gesagt? –

CHRISTINE. Nichts ... Er ist ganz still weggegangen, wie gewöhnlich. –

MIZI. Und doch war's dumm, daß du was erzählt hast. Wirst schon sehn ... Weißt, warum dein Vater nichts darüber geredet hat –? Weil er sich denkt, daß der Fritz dich heiraten wird.

CHRISTINE. Warum sprichst du denn davon!

MIZI. Weißt du, was ich glaub'?

CHRISTINE. Was denn?

MIZI. Daß die ganze Geschicht' mit der Reise ein Schwindel ist.

CHRISTINE. Was?

MIZI. Sie sind vielleicht gar nicht fort.

CHRISTINE. Sie sind fort – ich weiß es. – Gestern Abend bin ich an seinem Hause vorbei, die Jalousien sind heruntergelassen; er ist nicht da. –

MIZI. Das glaub' ich schon. Weg werden sie ja sein. – Aber zurückkommen werden sie halt nicht – zu uns wenigstens nicht. –

CHRISTINE angstvoll. Du –

MIZI. Na, es ist doch möglich! –

CHRISTINE. Das sagst du so ruhig –

MIZI. Na ja – ob heut oder morgen – oder in einem halben Jahr, das kommt doch schon auf eins heraus.

CHRISTINE. Du weißt ja nicht, was du sprichst ... Du kennst den Fritz nicht – er ist ja nicht so, wie du dir denkst, – neulich[256] hab' ich's ja gesehn, wie er hier war, in dem Zimmer. Er stellt sich nur manchmal gleichgültig – aber er hat mich lieb ... Als würde sie Mizis Antwort erraten. – Ja, ja – nicht für immer, ich weiß ja – aber auf einmal hört ja das nicht auf –!

MIZI. Ich kenn' ja den Fritz nicht so genau.

CHRISTINE. Er kommt zurück, der Theodor kommt auch zurück, gewiß!

MIZI Geste, die ausdrückt: ist mir ziemlich gleichgültig.

CHRISTINE. Mizi ... Tu mir was zulieb'.

MIZI. Sei doch nicht gar so aufgeregt – also was willst denn?

CHRISTINE. Geh du zum Theodor, es ist ja ganz nah, schaust halt vorüber ... Du fragst bei ihm im Haus, ob er schon da ist, und wenn er nicht da ist, wird man im Haus vielleicht wissen, wann er kommt.

MIZI. Ich werd' doch einem Mann nicht nachlaufen.

CHRISTINE. Er braucht's ja gar nicht zu erfahren. Vielleicht triffst ihn zufällig. Jetzt ist bald ein Uhr; – jetzt geht er grad zum Speisen –

MIZI. Warum gehst denn du nicht, dich im Haus vom Fritz erkundigen?

CHRISTINE. Ich trau' mich nicht – Er kann das so nicht leiden ... Und er ist ja sicher noch nicht da. Aber der Theodor ist vielleicht schon da und weiß, wann der Fritz kommt. Ich bitt' dich, Mizi!

MIZI. Du bist manchmal so kindisch –

CHRISTINE. Tu's mir zuliebe! Geh hin! Es ist ja doch nichts dabei. –

MIZI. Na, wenn dir soviel daran liegt, so geh' ich ja hin. Aber nützen wird's nicht viel. Sie sind sicher noch nicht da.

CHRISTINE. Und du kommst gleich zurück ... ja? ...

MIZI. Na ja, soll die Mutter halt mit dem Essen ein bissel warten.

CHRISTINE. Ich dank' dir, Mizi, du bist so gut ...

MIZI. Freilich bin ich gut; – jetzt sei aber du vernünftig ... ja? ... also grüß' dich Gott!

CHRISTINE. Ich dank' dir! –

MIZI geht.


Christine, später Weiring.


CHRISTINE allein. Sie macht Ordnung im Zimmer. Sie legt das Nähzeug zusammen usw. Dann geht sie zum Fenster und sieht hinaus. Nach einer Minute kommt Weiring herein, den sie anfangs nicht sieht. Er ist[257] in tiefer Erregung, betrachtet angstvoll seine Tochter, die am Fenster steht.

WEIRING. Sie weiß noch nichts, sie weiß noch nichts ... Er bleibt an der Tür stehen und wagt keinen Schritt weiter zu machen.

CHRISTINE wendet sich um, bemerkt ihn, fährt zusammen.

WEIRING versucht zu lächeln. Er tritt weiter ins Zimmer herein. Na Christin' ... Als riefe er sie zu sich.

CHRISTINE auf ihn zu, als wollte sie vor ihm niedersinken.

WEIRING läßt es nicht zu. Also ... was glaubst du, Christin'? Wir Mit einem Entschluß. wir werden's halt vergessen, was? –

CHRISTINE erhebt den Kopf.

WEIRING. Na ja ... ich – und du!

CHRISTINE. Vater, hast du mich denn heut früh nicht verstanden? ...

WEIRING. Ja, was willst denn, Christin'? ... Ich muß dir doch sagen, was ich drüber denk'! Nicht wahr? Na also ...

CHRISTINE. Vater, was soll das bedeuten?

WEIRING. Komm her, mein Kind ... hör' mir ruhig zu. Schau' ich hab' dir ja auch ruhig zugehört, wie du mir's erzählt hast. – Wir müssen ja –

CHRISTINE. Ich bitt' dich, sprich nicht so zu mir, Vater ... wenn du jetzt darüber nachgedacht hast und einsiehst, daß du mir nicht verzeihen kannst, so jag' mich davon – aber sprich nicht so ...

WEIRING. Hör' mich nur ruhig an, Christin'! Du kannst ja dann noch immer tun, was du willst ... Schau', du bist ja so jung, Christin'. – Hast denn noch nicht gedacht ... Sehr zögernd. daß das Ganze ein Irrtum sein könnt' –

CHRISTINE. Warum sagst du mir das, Vater? – Ich weiß ja, was ich getan hab' – und ich verlang' ja auch nichts – von dir und von keinem Menschen auf der Welt, wenn's ein Irrtum gewesen ist ... Ich hab' dir ja gesagt – jag mich davon, aber ...

WEIRING sie unterbrechend. Wie kannst denn so reden ... Wenn's auch ein Irrtum war, ist denn da gleich eine Ursach' zum verzweifelt sein für so ein junges Geschöpf, wie du eins bist? – Denk' doch nur, wie schön, wie wunderschön das Leben ist. Denk' nur, an wie vielen Dingen man sich freuen kann, wie viel Jugend, wie viel Glück noch vor dir liegt ... Schau', ich hab' doch nicht mehr viel von der ganzen Welt, und sogar für mich ist das Leben noch schön – und auf so viel Sachen kann ich mich noch freuen. Wie du und ich zusammen sein werden[258] – wie wir uns das Leben einrichten wollen – du und ich ... wie du wieder – jetzt, wenn die schöne Zeit kommt, anfangen wirst zu singen, und wie wir dann, wenn die Ferien da sind, aufs Land hinausgehen werden ins Grüne, gleich auf den ganzen Tag – ja – oh, so viele schöne Sachen gibt's ... so viel. – Es ist ja unsinnig, gleich alles aufzugeben, weil man sein erstes Glück hingeben muß oder irgend was, das man dafür gehalten hat –

CHRISTINE angstvoll. Warum ... muß ich's denn hingeben ...?

WEIRING. War's denn eins? Glaubst denn wirklich, Christin', daß du's deinem Vater erst heut hast sagen müssen? Ich hab's längst gewußt! – Und auch, daß du mir's sagen wirst, hab' ich gewußt. Nein, nie war's ein Glück für dich! ... Kenn' ich denn die Augen nicht? Da wären nicht so oft Tränen drin gewesen und die Wangen da wären nicht so blaß geworden, wenn du einen lieb gehabt hättest, der's verdient.

CHRISTINE. Wie kannst du das ... Was weißt du ... Was hast du erfahren?

WEIRING. Nichts, gar nichts ... aber du hast mir ja selbst erzählt, was er ist ... So ein junger Mensch – Was weiß denn der? – Hat denn der nur eine Ahnung von dem, was ihm so in den Schoß fällt – weiß denn der den Unterschied von echt und unecht – und von deiner ganzen unsinnigen Lieb' – hat er denn von der was verstanden?

CHRISTINE immer angstvoller. Du hast ihn ... – Du warst bei ihm?

WEIRING. Aber was fällt dir denn ein! Er ist ja weggefahren, nicht? Aber Christin', ich hab' doch noch meinen Verstand, ich hab' ja meine Augen im Kopf! Schau', Kind, vergiß drauf! Vergiß drauf! Deine Zukunft liegt ja ganz wo anders! Du kannst, du wirst noch so glücklich werden, als du's verdienst. Du wirst auch einmal einen Menschen finden, der weiß, was er an dir hat –

CHRISTINE ist zur Kommode geeilt, ihren Hut zu nehmen.


Sehr rasch.


WEIRING. Was willst du denn? –

CHRISTINE. Laß mich, ich will fort ...

WEIRING. Wohin willst du?

CHRISTINE. Zu ihm ... zu ihm ...

WEIRING. Aber was fällt dir denn ein ...

CHRISTINE. Du verschweigst mir irgend was – laß mich hin. –

WEIRING sie fest zurückhaltend. So komm doch zur Besinnung, Kind. Er ist ja gar nicht da ... Er ist ja vielleicht auf sehr lange[259] fortgereist ... Bleib doch bei mir, was willst du dort ... Morgen oder am Abend schon geh' ich mit dir hin. So kannst du ja nicht auf die Straße ... weißt du denn, wie du ausschaust ...

CHRISTINE. Du willst – mit mir hingehn –?

WEIRING. Ich versprech' dir's. – Nur jetzt bleib schön da, setz' dich nieder und komm wieder zu dir. Man muß ja beinah lachen, wenn man dich so anschaut ... für nichts und wieder nichts. – Hältst du's denn bei deinem Vater gar nimmer aus?

CHRISTINE. Was weißt du?

WEIRING immer ratloser. Was soll ich denn wissen ... ich weiß, daß ich dich lieb hab', daß du mein einziges Kind bist, daß du bei mir bleiben sollst – daß du immer bei mir hättest bleiben sollen –

CHRISTINE. Genug – – – laß mich – Sie reißt sich von ihm los, macht die Tür auf, in der Mizi erscheint.


Weiring, Christine, Mizi, dann Theodor.


MIZI schreit leise auf, wie Christine ihr entgegenstürzt. Was erschreckst mich denn so ...

CHRISTINE weicht zurück, wie sie Theodor sieht.

THEODOR in der Tür stehen bleibend, er ist schwarz gekleidet.

CHRISTINE. Was ... was ist denn ... Sie erhält keine Antwort; sie sieht Theodor ins Gesicht, der ihren Blick vermeiden will. Wo ist er, wo ist er? ... In höchster Angst – sie erhält keine Antwort, sieht die verlegenen und traurigen Gesichter. Wo ist er? Zu Theodor. So sprechen Sie doch!

THEODOR versucht zu reden.

CHRISTINE sieht ihn groß an, sieht um sich, begreift den Ausdruck der Mienen und stößt, nachdem in ihrem Gesicht sich das allmähliche Verstehen der Wahrheit kundgegeben, einen furchtbaren Schrei aus. ... Theodor! ... Er ist ...

THEODOR nickt.

CHRISTINE sie greift sich an die Stirn, sie begreift es nicht, sie geht auf Theodor zu, nimmt ihn beim Arm – wie wahnsinnig. ... Er ist ... tot ...? Als frage sie sich selbst.

WEIRING. Mein Kind –

CHRISTINE wehrt ihn ab. So sprechen Sie doch, Theodor!

THEODOR. Sie wissen alles.

CHRISTINE. Ich weiß nichts ... Ich weiß nicht, was geschehen[260] ist ... glauben Sie ... ich kann jetzt nicht alles hören ... wie ist das gekommen ... Vater ... Theodor ... Zu Mizi. Du weißt's auch ...

THEODOR. Ein unglücklicher Zufall –

CHRISTINE. Was, was?

THEODOR. Er ist gefallen.

CHRISTINE. Was heißt das: Er ist ...

THEODOR. Er ist im Duell gefallen.

CHRISTINE aufschrei. Ah! ... Sie droht umzusinken, Weiring hält sie auf, gibt dem Theodor ein Zeichen, er möge jetzt gehen.

CHRISTINE merkt es, faßt Theodor. Bleiben Sie ... Alles muß ich wissen. Meinen Sie, Sie dürfen mir jetzt noch etwas verschweigen ...

THEODOR. Was wollen Sie weiter wissen?

CHRISTINE. Warum – warum hat er sich duelliert?

THEODOR. Ich kenne den Grund nicht.

CHRISTINE. Mit wem, mit wem –? Wer ihn umgebracht hat, das werden Sie ja doch wohl wissen ... Nun, nun –

THEODOR. Niemand, den Sie kennen ...

CHRISTINE. Wer, wer?

MIZI. Christin'!

CHRISTINE. Wer? Sag' du mir's Zu Mizi. Du, Vater, Keine Antwort. Sie will fort. Weiring hält sie zurück. Ich werde doch erfahren dürfen, wer ihn umgebracht hat, und wofür –!

THEODOR. Es war ... ein nichtiger Grund ...

CHRISTINE. Sie sagen nicht die Wahrheit ... Warum, warum ...

THEODOR. Liebe Christine ...

CHRISTINE als wollte sie unterbrechen, geht sie auf ihn zu – spricht anfangs nicht, sieht ihn an und schreit dann plötzlich. Wegen einer Frau?

THEODOR. Nein –

CHRISTINE. Ja – für eine Frau ... Zu Mizi gewendet. für diese Frau, für diese Frau, die er geliebt hat – Und ihr Mann – ja, ja, ihr Mann hat ihn umgebracht ... Und ich ... was bin denn ich? Was bin denn ich ihm gewesen ...? Theodor ... haben Sie denn gar nichts für mich ... hat er nichts niedergeschrieben ...? Hat er Ihnen kein Wort für mich gesagt ... haben Sie nichts gefunden ... einen Brief ... einen Zettel ...

THEODOR schüttelt den Kopf.

CHRISTINE. Und an dem Abend ... wo er da war, wo Sie ihn da abgeholt haben ... da hat er's schon gewußt, da hat er gewußt,[261] daß er mich vielleicht nie mehr ... Und er ist von da weggegangen, um sich für eine andere umbringen zu lassen – Nein, nein – es ist ja nicht möglich ... hat er denn nicht gewußt, was er für mich ist ... hat er ...

THEODOR. Er hat es gewußt. – Am letzten Morgen, wie wir hinausgefahren sind ... hat er auch von Ihnen gesprochen.

CHRISTINE. Auch von mir hat er gesprochen! Auch von mir! Und von was denn noch? Von wie viel andern Leuten, von wie viel anderen Sachen, die ihm grad so viel gewesen sind wie ich? – Von mir auch! Oh Gott! ... Und von seinem Vater und von seiner Mutter und von seinen Freunden und von seinem Zimmer und vom Frühling und von der Stadt und von allem, von allem, was so mit dazu gehört hat zu seinem Leben und was er grad so hat verlassen müssen wie mich ... von allem hat er mit Ihnen gesprochen ... und auch von mir ...

THEODOR bewegt. Er hat Sie gewiß lieb gehabt.

CHRISTINE. Lieb! – Er? – Ich bin ihm nichts gewesen als ein Zeitvertreib – und für eine andere ist er gestorben –! Und ich – hab' ihn angebetet! – Hat er denn das nicht gewußt? ... Daß ich ihm alles gegeben hab', was ich ihm hab' geben können, daß ich für ihn gestorben wär' – daß er mein Herrgott gewesen ist und meine Seligkeit – hat er das gar nicht bemerkt? Er hat von mir fortgehn können, mit einem Lächeln, fortgehn aus dem Zimmer und sich für eine andere niederschießen lassen ... Vater, Vater – verstehst du das?

WEIRING. Christin'! Bei ihr.

THEODOR zu Mizi. Schau' Kind, das hättest du mir ersparen können ...

MIZI sieht ihn bös' an.

THEODOR. Ich hab' genug Aufregung gehabt ... diese letzten Tage ...

CHRISTINE mit plötzlichem Entschluß. Theodor, führen Sie mich hin – ich will ihn sehn – noch einmal will ich ihn sehn – das Gesicht – Theodor, führen Sie mich hin.

THEODOR wehrt ab, zögernd. Nein ...

CHRISTINE. Warum denn nein? – Das können Sie mir doch nicht verweigern? – Sehn werd' ich ihn doch noch einmal dürfen –?

THEODOR. Es ist zu spät.

CHRISTINE. Zu spät? – Seine Leiche zu sehn ... ist es zu spät? Ja ... ja – Sie begreift nicht.

THEODOR. Heut früh hat man ihn begraben.[262]

CHRISTINE mit dem höchsten Ausdrucke des Entsetzens. Begraben ... Und ich hab's nicht gewußt? Erschossen haben sie ihn ... und in den Sarg haben sie ihn gelegt und hinausgetragen haben sie ihn und in die Erde haben sie ihn eingegraben – und ich hab' ihn nicht noch einmal sehen dürfen? – Zwei Tage lang ist er tot – und Sie sind nicht gekommen und haben's mir gesagt –?

THEODOR sehr bewegt. Ich hab' in diesen zwei Tagen ... Sie können nicht ahnen, was alles in diesen zwei Tagen ... Bedenken Sie, daß ich auch die Verpflichtung hatte, seine Eltern zu benachrichtigen – ich mußte an sehr viel denken – und dazu noch meine Gemütsstimmung ...

CHRISTINE. Ihre ...

THEODOR. Auch hat das ... es hat in aller Stille stattgefunden ... Nur die allernächsten Verwandten und Freunde ...

CHRISTINE. Nur die nächsten –! Und ich –? ... Was bin denn ich? ...

MIZI. Das hätten die dort auch gefragt.

CHRISTINE. Was bin denn ich –? Weniger als alle andern –? Weniger als seine Verwandten, weniger als ... Sie?

WEIRING. Mein Kind, mein Kind. Zu mir komm, zu mir ... Er umfängt sie. Zu Theodor. Gehen Sie ... lassen Sie mich mit ihr allein!

THEODOR. Ich bin sehr ... Mit Tränen in der Stimme. Ich hab' das nicht geahnt ...

CHRISTINE. Was nicht geahnt? – Daß ich ihn geliebt habe? – Weiring zieht sie an sich; Theodor sieht vor sich hin. Mizi steht bei Christine.

CHRISTINE sich von Weiring losmachend. Führen Sie mich zu seinem Grab!

WEIRING. Nein, nein –

MIZI. Geh nicht hin, Christin' –

THEODOR. Christine ... später ... morgen ... bis Sie ruhiger geworden sind –

CHRISTINE. Morgen? – Wenn ich ruhiger sein werde?! – Und in einem Monat ganz getröstet, wie? – Und in einem halben Jahr kann ich wieder lachen, was –? Auflachend. Und wann kommt denn der nächste Liebhaber? ...

WEIRING. Christin' ...

CHRISTINE. Bleiben Sie nur ... ich find' den Weg auch allein ...

WEIRING. Geh nicht.

MIZI. Geh nicht.[263]

CHRISTINE. Es ist sogar besser ... wenn ich ... Laßt mich, laßt mich.

WEIRING. Christin', bleib ...

MIZI. Geh nicht hin! – Vielleicht findest du grad die andere dort – beten.

CHRISTINE vor sich hin, starren Blickes. Ich will dort nicht beten ... nein ... Sie stürzt ab ... die an deren anfangs sprachlos.

WEIRING. Eilen Sie ihr nach.


Theodor und Mizi ihr nach.


WEIRING. Ich kann nicht, ich kann nicht ... Er geht mühsam von der Tür bis zum Fenster. Was will sie ... was will sie ... Er sieht durchs Fenster ins Leere. Sie kommt nicht wieder – sie kommt nicht wieder! – Er sinkt laut schluchzend zu Boden.


Vorhang.


Quelle:
Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke. Band 1, Frankfurt a.M. 1962, S. 255-264.
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