Sechzehntes Kapitel

[192] Am nächsten Abend, eine Stunde nach seiner Ankunft, stand er an der Straßenecke, von der aus er Katharina sofort erblicken mußte, wenn sie den Handschuhladen verließ. Die beiden neben ihr in dem Geschäft angestellten Verkäuferinnen traten eine nach der andern aus der Tür und verschwanden, die Rolladen wurden geschlossen, der Geschäftsdiener entfernte sich, das Bogenlicht erlosch – und Katharina war nicht erschienen. Sonderbar. Höchst sonderbar. Ihr Urlaub war doch abgelaufen! Was also konnte sie vom Geschäfte ferngehalten haben? Eine plötzliche Eifersucht flammte in Gräsler auf; kein Zweifel – sie war mit jemand anderm zusammen. Mit einem alten Bekannten vermutlich, für den man wieder Zeit hatte, jetzt, da der alte Doktor aus Portugal mit den indischen Schleiern und Bernsteinketten abgereist war. Vielleicht war's auch eine ganz neue Bekanntschaft. Warum nicht? So was macht sich ja sehr geschwind bei unsereinem, Fräulein Katharina, nicht wahr? Wo mögen Sie denn nur stecken? Im Theater wahrscheinlich![192] Das ist ja wohl die feststehende Reihenfolge? Am ersten Abend Theater und gemeinsames Abendessen, am zweiten – alles übrige! Das hatte sie wohl schon etliche Male mitgemacht. Aber daß die Geschichte gleich am nächsten Tage von neuem anfing, das ging denn doch über den Spaß! Die Elende, um deretwillen er ein Wesen wie Sabine verloren hatte. Davonspaziert mit Schals und Hüten und Kleidern und Schmuck und macht sich am Ende noch lustig mit irgendeinem jungen Kerl über den alten Narren aus Portugal ... So jagten seine Gedanken, und in absichtlicher Selbstquälerei lehnte er die Möglichkeit harmloserer Gründe für Katharinens Nichterscheinen innerlich ab. Was also beginnen? Sich ruhig nach Hause trollen und die Sache auf sich beruhen lassen, das wäre gewiß das Vernünftigste gewesen; aber so viel Selbstüberwindung brachte er nicht auf. So entschloß er sich denn, den Weg nach der Vorstadt einzuschlagen, um vor allem einmal in der Nähe ihres Hauses Aufstellung zu nehmen und zu warten. Es würde sich ja bald zeigen, mit wem sie angerückt käme, es sei denn, sie hätte sich etwa bei dem neuen Liebhaber gleich häuslich eingerichtet ... Aber das war nicht zu befürchten. Es fand sich nicht bald wieder ein Narr, solch ein Geschöpf als Hausgenossin bei sich aufzunehmen, solch ein abgefeimtes, schwatzhaftes, ungebildetes, verlogenes Ding. Er verachtete sie unbändig und gab sich diesem Gefühl rückhaltlos, ja mit einer gewissen Wollust hin. Finden Sie das etwa philiströs? mein Fräulein, wandte er sich plötzlich an die ferne Sabine, gegen die er nun gleichfalls einen heftigen Groll in sich aufsteigen verspürte. Nun, ich kann Ihnen nicht helfen. Es kann eben keiner aus seiner Haut, kein Mann und kein Weib. Die eine ist zur Dirne geboren, die andere ist dazu geschaffen, eine alte Jungfer zu werden, und eine dritte, trotz der besten Erziehung in einem guten deutschen Bürgerhaus, führt eine Existenz wie eine Kokotte, hintergeht ihre Eltern, ihren Bruder – und bringt sich um, wenn kein gefälliges Männerherz mehr sich findet. Und mich hat Gott nun einmal zum Pedanten und Philister geschaffen. Aber beim Himmel, es ist nicht das Schlechteste, ein Philister zu sein! Denn wenn man gegenüber gewissen Frauenzimmern nicht den Philister herauskehrt, so ist man eben der Genarrte. Und ich bin noch lange nicht Philister genug; denn wenn ein gewisses Fräulein zufällig ihr Stelldichein verschoben hätte und um sieben Uhr abends sittsam aus dem Geschäft gekommen wäre, ich wäre wahrhaftig imstande gewesen und hätte sie mir als Frau Doktor nach[193] Lanzarote mitgenommen. Da hätten Sie wohl Ihre Freude daran gehabt, Herr Direktor. Aber daraus wird nichts. Ich komme Gott sei Dank so allein, wie ich abgereist bin, wenn ich überhaupt komme, was noch nicht ausgemacht ist. Keineswegs aber werde ich Ihrem geschätzten Befehle nach schon am 27. Oktober eintreffen, selbst, wenn es noch möglich wäre! Vorher werde ich nach Berlin, möglicherweise auch nach Paris fahren und mich einmal ordentlich amüsieren, so wie ich mich noch nie amüsiert habe. Und er träumte sich in übel-berüchtigte Lokale mit wilden Tänzen von halbnackten Weibern, plante ungeheuerliche Orgien als eine Art dämonischer Rache an dem erbärmlichen Geschlecht, das so tückisch und treulos an ihm gehandelt, Rache an Katharina, an Sabine und an Friederike.

Indes war er unversehens vor Katharinens Wohnhaus angelangt. Ein unfreundlicher Wind hatte sich erhoben und fegte den Staub durch die armselige Gasse. Da und dort wurden eilig Fenster geschlossen. Gräsler sah auf die Uhr. Es war noch lange nicht acht. Wie viele und was für Stunden standen ihm nun bevor. Es konnte zehn werden, auch elf Uhr, zwölf, auch morgen früh, bis das Fräulein nach Hause kam.

Der Gedanke, so aufs Ungewisse hin hier in Wind und Regen – schon fielen die ersten Tropfen – stundenlang auf und ab zu laufen, war recht peinlich. Und nun begann er doch einer inneren Stimme Gehör zu geben, die sich schon längst schüchtern gemeldet hatte: Wenn Katharina am Ende zu Hause wäre? Vielleicht, daß sie früher aus dem Geschäft fortgegangen war – wenn das auch am ersten Tag nach ihrem Urlaub nicht viel Wahrscheinlichkeit für sich hatte. Oder ihr Urlaub war noch gar nicht abgelaufen, und sie verbrachte den letzten freien Tag im Kreise der Familie? Er glaubte das alles selbst nicht recht, aber diese Erwägungen taten ihm wohl, um so mehr, als es ja nicht übermäßig schwierig war, sich Gewißheit zu verschaffen. Man bemühte sich einfach die drei Treppen hinauf und fragte oben beim Herrn Postbeamten Rebner, ob das Fräulein Tochter nicht daheim wäre. Das würde kaum sonderlich auffallen. So genau nahm man es wohl nicht in einer Familie, wo das Fräulein Tochter mit doppelt soviel Gepäck vom Lande zurückkam, als sie abgereist war. Und wenn sie nicht zu Hause war, so erfuhr man vielleicht bei dieser Gelegenheit, unter welch einem Vorwand sie den Abend außer Haus verbrachte. Und wenn sie daheim war, nun, um so besser, da war ja alles schön und gut, da hatte man sie eben gleich wieder[194] und machte alles Nötige für morgen, übermorgen und die nächsten Tage mir ihr ab. Denn dann war ja alles unsinnig, was ihm durch den Kopf gegangen war. Dann hatte er nichts zu tun, als ihr innerlich abzubitten, was er ihr zugemutet in seiner erbärmlichen Laune, an der eine andere viel mehr Schuld trug als sie. So stand er mit den besten Gesinnungen für sie vor der Wohnungstür.

Er klingelte; eine kleine ältliche Frau im Hauskleid, mit vorgebundener Küchenschürze, öffnete und sah ihn verwundert an.

»Verzeihung,« sagte Gräsler, »ich bin hier recht bei Herrn Postbeamten Rebner?« – »Gewiß, ich bin seine Frau.« – »Natürlich. Ja. Ich möchte gern – ich wollte nämlich fragen, ob ich vielleicht ein Wort mit Fräulein Katharina sprechen könnte. Ich habe nämlich das Vergnügen –« – »Ah,« unterbrach ihn Frau Rebner sichtlich erfreut, »Sie sind wohl der Herr Doktor, den Katharina auf dem Land bei Ludmilla kennengelernt, und von dem sie das schöne Tuch bekommen hat?« – »Ja, der bin ich, Doktor Gräsler ist mein Name.« – »Freilich, – Doktor Gräsler ... sie hat uns von Ihnen erzählt ... ja. Und ich will gleich nachsehen, ob es möglich ist, sie liegt nämlich zu Bette. Gestern ist sie erst zurückgekommen, sie wird sich wohl erkältet haben.«

Gräsler erschrak heftig. »Zu Bette? Seit wann?« – »Sie ist heute noch gar nicht aufgestanden. Es wird wohl auch ein wenig Fieber dabei sein.« – »Haben Sie denn schon einen Arzt hier gehabt, Frau Rebner?« – »Ach, das Frühstück hat ihr noch so gut geschmeckt, das geht schon vorüber.« – »Vielleicht würden Sie mir aber erlauben, da mich der Zufall eben hergeführt hat – ich denke, Fräulein Katharina wird nichts dagegen haben.« – »Nun ja, da Sie doch Arzt sind, es trifft sich vielleicht ganz gut.«

Und sie führte ihn durch ein ziemlich geräumiges, nicht erleuchtetes Zimmer in ein kleineres, wo Katharina im Bette lag. Auf dem Nachtkästchen stand eine Kerze, von der ein Lichtschein über das feuchte, weiße Tuch flackerte, das vielfach zusammengefaltet auf Katharinens Stirn lag, so daß ihre Augen vorerst ganz unsichtbar waren.

»Katharina«, rief Gräsler. Sie rückte das Tuch anscheinend mühsam von den Augen fort, die trüb erglänzten. »Guten Abend«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln, doch wie abwesend.

»Katharina!« Er stand an ihrem Bett, entfernte hastig die Decke von ihrem Hals, schob das Hemd von ihren Schultern weg,[195] und eine dunkle Röte zeigte sich. Das Fieber schien sehr hoch gestiegen, die Abgeschlagenheit war beträchtlich, und so bedurfte es für Gräsler keiner eingehenderen Untersuchung mehr, um Katharinens Erkrankung als Scharlach zu erkennen. Und ihre eine Hand in der seinen haltend, tief bedrückt, sich wie ein Schuldiger fühlend, sank er auf den Sessel neben dem Bette hin.

In diesem Augenblick kam der Vater heim, und schon in der Türe rief er: »Aber, Kinder, was macht ihr denn für Geschichten? So habt ihr also wirklich einen Doktor –« Seine Frau trat ihm entgegen. »Nicht so laut«, sagte sie, »der Kopf tut ihr weh. Es ist ja der Doktor, den sie draußen bei Ludmilla kennengelernt hat.«

»Ach so,« sagte der Vater nähertretend, »das freut mich ja sehr, Ihre werte Bekanntschaft zu machen. Ja, sehen Sie, da schickt man so ein Mädchen aufs Land, läßt sich's was kosten, und nun kommt sie einem erst recht elend zurück. Na, es wird wohl nicht viel sein, Herr Doktor. Sicher ist sie abends im Freien gesessen bei der vorgerückten Jahreszeit. Nicht wahr, Katharina, so ist's gewesen?«

Katharina antwortete nichts und schob das Tuch wieder über ihre Augen. Doktor Gräsler wandte sich an den Vater. Es war ein ziemlich kleiner, beleibter Mann mit glanzlosen Augen, beinahe kahl, und mit einem aufgedrehten grauen Schnurrbart. »Es ist keine Erkältung,« sagte Gräsler, »es ist Scharlach.«

»Aber, Herr Doktor, davon kann doch wohl keine Rede sein. Das ist doch eine Kinderkrankheit. Ihre Schwester hat's gehabt, da war sie fünf Jahre alt. Da hätte sie's doch gleich damals bekommen.«

Katharina schien durch das überlaute Wesen ihres Vaters zu klarerem Bewußtsein gebracht und sagte: »Der Herr Doktor wird es wohl besser wissen als du, Vater. Aber er wird mich auch sicher gesund machen, nicht wahr?«

»Ja, das werde ich, Katharina, das werde ich«, erwiderte Gräsler, und er liebte sie in diesem Augenblick so sehr, wie er noch niemals ein menschliches Wesen geliebt hatte. Während er nun seine Anordnungen traf, erschien die Schwester mit ihrem Gatten, der den Doktor zuerst mit einem vergnügten Zwinkern begrüßte, aber vor dem Ernst der Lage alsbald mit seiner Frau ins Nebenzimmer entwich. Den Eltern jedoch erklärte Gräsler leise, daß er diese Nacht über jedenfalls hierbleiben werde, gerade die erste Nacht sei in solchen Fällen sehr bedeutungsvoll, und wenn er ununterbrochen bei ihr wachte, so vermöchte er vielleicht[196] mancher Gefahr vorzubeugen, deren erste Anzeichen ungeschulten Augen entgehen könnten.

»Nun, Katharina,« sagte der Vater, wieder an ihr Bett tretend, »du kannst von Glück sagen. So einen Doktor hat nicht jede. Aber, Herr Doktor,« er zog ihn mit sich zur Tür, »das will ich Ihnen doch gleich sagen, wir sind keine reichen Leute. Wenn sie auch auf dem Land gewohnt hat, sie war ja nur zu Gast bei Ludmilla, wie Sie wohl bemerkt haben. Nur das Billett hin und zurück, das haben natürlich wir bezahlt.« Seine Frau verwies ihm das Reden, zog ihn mit sich ins Wohnzimmer, da sie fühlen mochte, daß es an der Zeit war, Katharina mit ihrem Arzt allein zu lassen.

Gräsler beugte sich über die Kranke, streichelte ihr Wangen und Haare, küßte sie auf die Stirn, versicherte sie, daß sie in ein paar Tagen wieder gesund sein werde und daß sie dann gleich zu ihm zurück müsse; daß er sie überhaupt nie wieder von sich fortlassen und überallhin mitnehmen werde, wo sein Schicksal ihn hinführe; daß es ihn ja mit aller Macht wieder hergetrieben habe und daß sie sein Kind sei und seine Geliebte und seine Frau, und daß er sie liebe, liebe, wie noch nie ein Wesen geliebt worden sei. Aber während er sie noch befriedigt lächeln sah, merkte er schon, daß alle seine Worte den Weg ins Tiefste ihrer Seele nicht mehr fanden, daß sie nur mehr als schwankende Schatten erfaßte, was ringsum sich bewegte, daß er am Beginn von Tagen stand, in denen jede Stunde erfüllt sein sollte von der grauenhaften Angst um etwas Geliebtes, das einem unsichtbar nahenden Feind verfallen ist; und daß er sich zu einem verzweifelten Ringen rüsten mußte, – das er doch schon in diesem Augenblick als nutzlos erkannte.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 192-197.
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