Siebentes Kapitel

[142] Am nächsten Vormittag schon, in trübseligem Regengeriesel, begab sich Doktor Gräsler ohne rechte Freude, beinahe pflichtgemäß, in die Anstalt, ließ sich zum drittenmal durch die Räume fuhren, mußte sich aber diesmal mit der Begleitung eines sehr jungen Assistenzarztes begnügen, dessen allzu beflissene Höflichkeit nicht so sehr dem älteren Kollegen, als dem vermuteten künftigen Direktor gelten mochte, und der jede Gelegenheit benützte, seine Vertrautheit mit den allermodernsten Heilmethoden durchscheinen zu lassen, zu deren Anwendung nur vorläufig leider jede Möglichkeit fehle. Dem Doktor Gräsler erschien das ganze Gebäude noch vernachlässigter, der Garten noch ungepflegter als gestern, und als er endlich in dem kahlen Bureau dem Besitzer gegenübersaß, der zwischen Rechnungen und Amtspapieren eben sein Frühstück verzehrte, erklärte er, sich eine Entscheidung[142] bis nach seiner Rückkehr aus der Vaterstadt, das wäre in etwa drei Wochen, vorbehalten zu müssen. Der Besitzer nahm dies mit gewohnter Gleichgültigkeit auf und bemerkte nur, daß er sich selbstverständlich gleichfalls nicht für gebunden erachte. Gräsler wandte nichts weiter ein und fühlte sich geradezu befreit, als er wieder auf der Straße stand und dann mit aufgespanntem Schirm dem Städtchen zuschritt. Schwere Regentropfen flössen vom Schirmrand rings um ihn her, und alle Hügel standen tief im Nebel. Überdies war es so kühl geworden, daß ihm die Finger zu frieren anfingen und er, mit einiger Mühe den Schirm über sich haltend, sich die Handschuhe anziehen mußte. Mißbilligend schüttelte er den Kopf. Es war doch sehr fraglich, ob er sich überhaupt noch gewöhnen könnte, Spätherbst und Winter statt im Süden in der mit Unrecht sogenannten gemäßigten Zone zu verbringen, und fast wünschte er Sabinen schon heute abend mitteilen zu können, daß ihm das Sanatorium sozusagen vor der Nase von einem flinkeren, aber wahrlich nicht beneidenswerten Käufer weggeschnappt worden sei.

In seiner Wohnung fand er einen Brief vor, der auf der Adresse die Handschrift Sabinens zeigte. Er fühlte, wie ihm das Herz plötzlich stille stand. Was hatte sie ihm zu schreiben? Es konnte nur eines sein. Sie bat ihn, nicht mehr zu kommen. Der Handkuß gestern, er hatte es ja gleich gefühlt, der hatte alles verdorben. Solche Dinge standen ihm nun einmal nicht zu Gesicht. Er mußte unsäglich lächerlich gewesen sein in jenem Augenblick. Der Umschlag war plötzlich offen, Gräsler wußte selbst nicht wie, und er las:

»Lieber Freund! So darf ich Sie doch wohl nennen, nicht wahr? Heute abend kommen Sie wieder, und Sie sollen diesen Brief noch früher haben. Denn wenn ich Ihnen nicht schreibe, wer weiß, ob Sie nicht heute abend geradeso fortgehen, wie Sie alle diese Tage und Abende von mir fortgegangen sind, und endlich wären Sie abgereist und hätten nichts gesprochen und sich am Ende noch eingebildet, daß es sehr klug und recht von Ihnen gewesen ist. So bleibt mir denn nichts übrig, als selbst zu sprechen, oder vielmehr, da ich ja das doch nicht über mich brächte, Ihnen zu schreiben, was mir auf der Seele liegt. Also, lieber Herr Doktor Gräsler, mein lieber Freund Doktor Gräsler, hier schreibe ich es her, und Sie werden es lesen, und Sie werden sich vielleicht ein wenig freuen und werden es hoffentlich nicht unweiblich finden, und ich fühle, daß ich es niederschreiben darf – ich habe nichts[143] dagegen, gar nichts, falls Sie mich etwa fragen wollten, ob ich Ihre Frau werden möchte. Da steht es nun einmal. Ja, ich will gern Ihre Frau werden. Denn ich empfinde eine so tiefe, herzliche Freundschaft zu Ihnen, wie noch zu keinem Menschen, den ich gekannt habe. Liebe ist es wohl nicht. Noch nicht. Aber gewiß irgend etwas, was sehr nahe daran ist und es sehr wohl einmal werden könnte. Die letzten Tage, wenn Sie vom Abreisen sprachen, da ist mir wahrhaftig ganz sonderbar ums Herz geworden. Und als Sie heute abend meine Hand küßten, das war sehr schön. Aber als Sie dann davonfuhren, ins Dunkel hinein, da war mir mit einemmal, als wäre es aus, und ich hatte eine wahre Angst, daß Sie nie mehr zu uns wiederkommen wollten. Nun, das ist natürlich schon vorüber. Das sind so Nachtgedanken, nicht wahr? Ich weiß, Sie kommen wieder. Morgen abend schon. Ich weiß ja auch, daß Sie mir geradeso gut sind wie ich Ihnen. So was muß man ja wirklich nicht erst mit Worten sagen. Manchmal aber scheint mir, daß Sie an einem gewissen Mangel an Selbstvertrauen leiden. Ist es nicht so? Ich habe auch darüber nachgedacht, woher das kommen mag. Und ich glaube, es kommt daher, daß Sie noch nirgends Wurzel gefaßt und weil Sie sich doch eigentlich Ihr ganzes Leben noch gar nicht Zeit genommen haben, darauf zu warten, daß sich Ihnen jemand so recht von Herzen anschließt. Ja, das mag es wohl sein. Und vielleicht ist es noch etwas anderes, was Sie zögern macht. Es wird mir freilich etwas schwer, Ihnen das zu schreiben. Aber da ich nun einmal angefangen habe, kann ich doch wohl nicht mehr auf halbem Wege stehenbleiben. Also, Sie wissen, lieber Freund, daß ich einmal verlobt gewesen bin. Das sind nun vier Jahre her. Er war ein Arzt wie Sie. Mein Vater hat Ihnen wohl Andeutungen gemacht. Ich hab' ihn sehr liebgehabt, und es war ein großer Schmerz, als ich ihn verlor. Er war so jung. Achtundzwanzig Jahre. Ich habe damals gedacht, daß nun alles für immer vorüber sei, wie man das eben so denkt in solchen Tagen. – Übrigens muß ich der Wahrheit gemäß gestehen, daß das nicht meine erste Liebe war. Vorher war es ein Sänger, für den ich geschwärmt hatte. Das war zu der Zeit, da mein Vater in allerbester Absicht mich in eine Laufbahn hineintreiben wollte, zu der ich gar nicht geboren war. Und das ist eigentlich das Leidenschaftlichste gewesen, was ich erlebt habe. Erlebt, das kann man zwar nicht sagen. Aber doch – gefühlt. Und es hat recht dumm geendet. Der meinte eben ein Geschöpf von der Art vor sich zu haben, wie es ihm sonst in seinen Kreisen begegnet,[144] und er benahm sich danach, und da war es aus. Aber das Sonderbare ist, daß ich heute noch an diesen Menschen viel öfter denke als an meinen Verlobten, der mir so teuer war. Sechs Monate lang sind wir verlobt gewesen. So; und nun kommt das, was ein bißchen schwer zu sagen ist. Wissen Sie nämlich, was ich mir denke, lieber Doktor Gräsler? Sie vermuten etwas, was nicht wahr ist; und das ist es, was Sie zögern macht. Es ist ja gewiß zugleich ein Beweis Ihrer Neigung für mich. Aber es ist doch auch – Sie werden mir schon verzeihen, wenn ich das sage – ein bißchen Pedanterie dabei oder Eitelkeit. Freilich, ich weiß wohl, eine recht verbreitete männliche Eitelkeit und Pedanterie. Aber ich will Ihnen eben sagen, daß Sie das weiter nicht bedrücken darf. Muß ich noch deutlicher werden? Also, mein lieber Freund, ich habe Ihnen keinerlei Geständnisse zu machen. Es war überhaupt, wenn ich so zurückdenke, eine merkwürdige Art von Beziehung. Ich glaube nicht, daß er mich in den sechs Monaten öfter als zehnmal geküßt hat.

Nein, was man einem guten Freund so in der Nacht alles schreibt, besonders wenn man sich denkt, daß man den Brief am Ende doch nicht absenden muß. Aber nicht wahr, der Brief hätte wohl gar keinen Sinn, wenn ich nicht alles schriebe, was mir eben durch den Kopf geht. – Und doch, wie teuer war er mir. Vielleicht eben darum, weil er so ernst, so düster war. Er gehörte zu den Ärzten, es gibt ja nur wenige von der Art, die all das Elend, das sie mit ansehen müssen, selbst durchleiden. So war ihm das Leben furchtbar schwer, woher hätte er den Mut nehmen sollen, glücklich zu sein? Nun, ich hätte es ihn schon gelehrt mit der Zeit. Das traute ich mir wohl zu. Aber es hat eben anders kommen sollen. Ich will Ihnen auch sein Bild zeigen. Ich bewahre es natürlich auf. Das von dem andern, von dem Sänger, das hab' ich nicht mehr. Ich hatte es nicht von ihm selbst bekommen, sondern in einer Kunsthandlung gekauft, noch ehe ich ihn persönlich kannte. Was ich Ihnen wohl noch alles erzählen werde! Es ist Mitternacht vorüber. Da sitz' ich noch immer an meinem Tisch und habe gar keine Lust, fertig zu werden. Übrigens höre ich den Vater immer unten auf und ab gehen. Der hat nun wieder so unruhige Nächte. Wir haben uns doch recht wenig um ihn gekümmert in der letzten Zeit. Wir beide, lieber Doktor. Nun, das soll wieder anders werden. Ja, und nun will ich gleich noch etwas hierhersetzen, weil es mir eben einfällt. Sie müssen es nehmen, wie es gesagt ist. Der Vater meint nämlich, wegen des Sanatoriums,[145] falls Sie die notwendige Summe nicht so ohne weiteres flüssig machen könnten, er stehe Ihnen gerne zur Verfügung. Er wäre, glaub' ich, überhaupt bereit, sich finanziell an der Sache zu beteiligen. Und da wir gerade beim Sanatorium halten, und wenn Sie so ungefähr verstehen, was in diesem Brief da steht (ich mache es Ihnen wohl nicht allzu schwer), so können Sie die Annoncen und auch die Reisen vielleicht sparen, denn als Hausverwalterin empfehle ich mich mit dem allerbesten Gewissen. Und wäre es nicht wirklich hübsch, lieber Doktor Gräsler, wenn wir zwei als Kameraden, bald hätte ich gesagt: als Kollegen, in der Anstalt zusammen arbeiten würden? Das Sanatorium nämlich, daß ich es Ihnen nur gestehe, das gefällt mir schon lange. Noch länger als der künftige Direktor. Die Lage und die Parkanlage sind ja wundervoll. Es ist ein Jammer, wie der Doktor Frank es hat verkommen lassen. Übrigens war es auch ein Fehler, daß in der letzten Zeit alle möglichen Kranken dort aufgenommen worden sind, die gar nicht hineingehören. Ich glaube, man müßte es wieder ausschließlich für Nervenleidende einrichten, selbstverständlich mit Ausschluß der wirklichen Geistesstörungen. Aber wohin gerate ich noch? Damit hat's wohl noch Zeit – mindestens bis morgen für alle Fälle, auch wenn wir uns im übrigen nicht ganz verstehen sollten. Und Ihre Reisezeit könnten Sie jedenfalls dazu benützen, um in Berlin und in anderen großen Städten für die Anstalt Propaganda zu machen. Übrigens bin ich auch noch von meiner Krankenpflegezeit her mit einigen Berliner Professoren bekannt; vielleicht erinnern die sich meiner. Nun, ich sehe, wie Sie lächeln. Ich muß es wohl hinnehmen. So ein Brief ist ja keine ganz gewöhnliche Sache. Das weiß ich wohl. Boshafte Menschen könnten sich irgend etwas denken von An-den-Hals-Werfen oder dergleichen. Aber Sie sind kein boshafter Mensch und fassen den Brief so auf, wie er geschrieben ist. Ich habe Sie lieb, mein Freund, nicht eben, wie es in Romanen steht, aber doch so recht von Herzen! Und ein wenig kommt wohl auch dazu, daß es mir so leid tut, wie allein Sie in der Welt herumziehen. Es ist wahrhaftig ganz gut möglich, daß ich diesen Brief niemals geschrieben hätte, wenn Ihre gute Schwester noch lebte. Sie war gut, ich weiß es. Und vielleicht hab' ich Sie auch lieb, weil ich Sie als Arzt schätze. Ja, das tue ich. Man könnte Sie zwar manchmal ein wenig kühl finden. Aber das ist wohl nur Ihre Art sich zu geben, im Innersten sind Sie gewiß teilnehmend und gut. Und das Wesentliche ist, man hat sofort Vertrauen zu Ihnen, wie es sich ja bei Mutter[146] und Vater gezeigt hat, und damit, mein lieber Herr Doktor Gräsler, hat es doch wohl überhaupt angefangen. Und wenn Sie morgen kommen – ich will's Ihnen nicht schwer machen –, da müssen Sie nur so lächeln oder mir wieder die Hand küssen, so wie heute abend beim Abschied, dann werde ich schon wissen. Und wenn es anders sein sollte, als ich es mir einbilde, so sagen Sie mir's eben geradeheraus. Das können Sie ruhig tun. Dann werde ich Ihnen die Hand reichen und mir denken, es waren schöne Stunden heuer im Sommer; man muß nicht gleich unbescheiden sein und Frau Doktor oder gar Frau Direktor werden wollen, worauf es mir übrigens wirklich nicht sonderlich ankommt. Und nun merken Sie wohl auf, Sie mögen sich dann auch eine andere Frau mitbringen im nächsten Jahr, irgendeine schöne Fremde aus Lanzarote, eine Amerikanerin oder eine Australierin, aber eine echte – es bleibt jedenfalls dabei, daß ich die Bauarbeiten in der Anstalt überwache, falls es mit dieser Sache ernst wird. Denn das sind ja zwei Dinge, die im Grunde gar nichts miteinander zu tun haben. Aber nun wird es doch wohl endlich genug sein. Recht neugierig bin ich ja, ob ich Ihnen das Briefchen morgen früh schicken werde? Was glauben Sie? Nun, leben Sie wohl. Auf Wiedersehen! Ich bin Ihnen gut und bleibe, wie immer es werden mag, Ihre Freundin Sabine.«

Doktor Gräsler saß lange über diesem Brief. Er las ihn ein zweites und ein drittes Mal und wußte noch immer nicht recht, ob ihn das, was drin stand, froh oder traurig machte. Dies also war klar: Sabine war bereit, seine Frau zu werden. Sie warf sich ihm sogar an den Hals, wie sie selbst schrieb. Aber zugleich erklärte sie, daß es nicht Liebe war, was sie für ihn verspürte. Dazu sah sie ihn denn auch mit allzu hellsichtigen, man konnte wohl sagen kritischen Augen an. Sie hatte es richtig herausgebracht, daß er ein Pedant war, eitel, kühl, unentschlossen, lauter Eigenschaften, deren Vorhandensein er ja nicht bestreiten wollte, die Fräulein Sabine aber weniger an ihm bemerkt und kaum betont hätte, wenn er um zehn bis fünfzehn Jahre jünger gewesen wäre. Und er fragte sich sogleich: Wenn ihr alle seine Fehler schon aus der Ferne nicht entgangen waren, und wenn sie schon in ihrem Briefe nicht vergaß sie ihm anzustreichen, wie sollte das erst später werden, in täglicher naher Gemeinschaft, die gewiß auch noch manche andere seiner Mängel für sie zutage bringen würde? Da mußte man sich tüchtig zusammennehmen, um sich zu behaupten. Immer auf der Hut sein, gewissermaßen Komödie spielen,[147] was in seinem Alter gewiß nichts sonderlich Leichtes war, ja beinahe so schwer, als es sein mochte, aus einem etwas grämlichen, pedantischen, bequem gewordenen alten Junggesellen ein liebenswürdiger, galanter junger Ehemann zu werden. Im Anfang freilich, da würde es ja gehen. Denn sie hatte ja gewiß viel Sympathie für ihn, sogar irgendeine, man konnte es nun einmal nicht anders ausdrücken, eine Art von mütterlicher Zärtlichkeit. Aber wie lange würde das vorhalten? Nicht lange. Keineswegs länger, als bis eben wieder ein dämonischer Sänger oder ein düsterer junger Arzt oder sonst eine verführerische männliche Erscheinung auftauchte, dem das Glück bei der schönen jungen Frau um so leichter günstig sein würde, als sie ja durch die Ehe indes reifer und erfahrener geworden war.

Die Wanduhr schlug halb zwei; die gewohnte Speisestunde war um ein Beträchtliches überschritten, was er als unangenehm empfand; und, seiner Pedanterie mit grimmigem Eigensinn bewußt, machte Gräsler sich auf den Weg in den Gasthof. Am Stammtisch fand er den Baumeister und einen Herrn von der Stadtverwaltung, die in ihrer Ecke beim Kaffee saßen und rauchten. Der Stadtrat nickte dem Doktor verständnisinnig zu und empfing ihn mit den Worten: »Nun, man kann ja gratulieren, wie ich höre.« – »Wieso«, fragte Doktor Gräsler fast erschrocken. – »Sie haben das Franksche Sanatorium gekauft?« Beruhigt atmete Gräsler auf. »Gekauft?« wiederholte er. »Davon ist noch keine Rede, das hängt noch von allerlei ab. Die Baracke ist ja in einem fürchterlichen Zustand. Man muß sie ja geradezu vom Grund aus neu aufbauen. Und unser Freund da« – er studierte die Speisekarte und deutete flüchtig auf den Baumeister hin – »macht Preise!«

Der Baumeister widersprach lebhaft, er wollte wahrhaftig an der Sache nichts verdienen; was die sogenannten Schäden anbelangte, die wären durchaus leicht zu beheben, und wenn die Aufträge schleunigst erteilt würden, so stände die Anstalt bis spätestens fünfzehnten Mai blitzblank, ja wie neu da.

Doktor Gräsler zuckte die Achseln, ermangelte nicht darauf hinzuweisen, daß der Baumeister gestern den ersten Mai als äußersten Termin genannt hätte; übrigens wisse man ja, wie es sich mit solchen Bauarbeiten verhalte, Termin sowohl als Kosten würden immer überschritten; er seinerseits fühle sich nicht mehr frisch genug, um sich auf dergleichen Dinge einzulassen, auch der Besitzer verlange eine lächerliche Summe, und »wer weiß«, fügte er, freilich in scherzender Absicht, hinzu, »ob Sie, mein lieber[148] Herr Baumeister, nicht mit ihm unter einer Decke spielen.« Der Angesprochene fuhr auf, der Stadtrat versuchte zu besänftigen, Doktor Gräsler lenkte ein; – doch ein gutes Einvernehmen wollte sich nicht mehr herstellen, und bald ließen beide Herren, Baumeister und Stadtrat, nach kühlem Abschied den Doktor allein und mit sich unzufrieden am Tische sitzen. Er berührte den letzten Gang nicht mehr und eilte nach Hause, wo ein Patient ihn erwartete, der vor der Abreise Verhaltungsmaßregeln für den Winter wünschte. Der Doktor erteilte sie zerstreut, ungeduldig, nahm sein Honorar mit schlechtem Gewissen in Empfang und verspürte einen dumpfen Groll nicht nur gegen sich, sondern auch gegen Sabine, die nicht versäumt hatte, ihm in ihrem Brief Gleichgültigkeit gegenüber seinen Kranken vorzuwerfen. Dann trat er auf seinen Balkon, zündete die kaltgewordene Zigarre von neuem an und blickte in das armselige Gärtchen hinab, wo trotz des trüben Wetters auf einer weißen Bank, das Nähkörbchen zur Seite, seine Hauswirtin wie alltäglich zu dieser Stunde mit ihrer Strickarbeit saß. Die ältliche Frau hatte noch vor drei oder vier Jahren ganz unverkennbare Absichten auf ihn gehabt; zum mindesten hatte Friederike es immer wieder behauptet, die den Bruder stets von heiratslustigen Jungfrauen und Witwen umlauert glaubte. Weiß Gott, es war nicht so weit her damit gewesen. Er war ja zum Junggesellen geboren, war ein Sonderling, Egoist und Philister gewesen sein Leben lang. Das hatte eben auch Sabine sehr wohl empfunden, wie aus ihrem Briefe mit zwingender Deutlichkeit hervorging, wenn sie auch aus mancherlei Gründen, unter denen die sogenannte Liebe die geringste Rolle spielte, sich ihm an den Hals zu werfen behauptete. Ja wenn sie das wirklich getan hätte, dann sähe sich die Sache anders an. Aber das, was er da in der Rocktasche knittern fühlte, das war wohl alles eher als ein Liebesbrief.

Der Wagen, der allabendlich zur Fahrt nach dem Forsthaus bestellt war, wurde gemeldet. Dem Doktor Gräsler klopfte das Herz. Er konnte sich's ja in diesem Augenblick nicht verhehlen, daß er nur eines zu tun hatte: zu Sabinen eilen, zärtlich dankend die lieben Hände ergreifen, die sich den seinen so innig und rückhaltlos entgegenboten, das holde Wesen zur Frau verlangen, und wäre es selbst auf die Gefahr hin, daß es nur wenige Jahre oder gar Monate des Glücks waren, die sich ihm erschlossen. Aber statt die Treppe hinunterzustürzen, blieb er wie auf den Fleck gebannt stehen. Es war ihm, als hätte er vorher etwas endgültig[149] klarzustellen und vermochte sich nicht zu besinnen, was es sein könnte. Plötzlich fiel es ihm ein: den Brief Sabinens mußte er noch einmal lesen. Er nahm ihn aus der Brusttasche hervor und begab sich in sein stilles Ordinationszimmer, um in völliger Ungestörtheit Sabinens Worte noch einmal auf sich wirken zu lassen. Und er las. Er las langsam, mit angespannter Aufmerksamkeit, und er fühlte sein Herz immer starrer werden. Alles Holde und Innige wollte ihm kühl, ja geradezu spöttisch erscheinen; und als er an die Stellen kam, in denen Sabine flüchtig seiner Zurückhaltung, seiner Eitelkeit, seiner Pedanterie Erwähnung tat, da war ihm, als wiederhole sie mit Absicht, was sie doch heute morgen schon ihm bis zum Überdruß und überdies mit Unrecht vorgeworfen hatte. Wie konnte sie sich's denn nur einfallen lassen, ihn einen Pedanten zu nennen, einen Philister, ihn, der ohne weiteres bereitgewesen war, ihr, und wie gerne, selbst einen wirklichen Fehltritt zu verzeihen? Und nicht nur, daß sie davon nicht das Geringste ahnte, sie mutete ihm sogar zu, daß er deswegen, gerade deswegen gezögert hätte. So wenig kannte sie ihn. Ja, das war es. Sie verstand ihn nicht. Und von hier aus schien ihm das ganze Rätsel seines Daseins plötzlich wie neu beleuchtet. Denn es war ihm nun klar, daß ihn eigentlich noch nie jemand wirklich verstanden hatte, weder Frau noch Mann! Nicht seine Eltern, nicht seine Schwester, so wenig als seine Kollegen und seine Patienten es getan hatten. Seine Verschlossenheit galt für Kälte, sein Ordnungssinn für Pedanterie, sein Ernst für Trockenheit; und so war er als ein Mensch ohne Überschwang und Glanz sein Leben lang zur Einsamkeit vorherbestimmt gewesen. Und weil er nun einmal so war und nicht anders und überdies um so viele Jahre älter als Sabine, darum konnte, darum durfte er das Glück nicht annehmen, das sie ihm darzubringen bereit war, oder sich bereit glaubte, und das wahrscheinlich das Glück gar nicht gewesen wäre. Hastig nahm er einen Briefbogen und begann ihr zu schreiben: »Liebes Fräulein Sabine! Ihr Brief hat mich ergriffen. Wie soll ich Ihnen danken, ich einsamer, alter Mann.« Ach, was für Unsinn, dachte er, zerriß das Blatt und begann aufs neue. »Meine liebe Freundin Sabine! Ich habe Ihren Brief, Ihren schönen, guten Brief. Er hat mich tiefbewegt. Wie soll ich Ihnen nur danken. Sie zeigen mir die Möglichkeit eines Glückes, von dem ich kaum zu träumen gewagt hätte, und darum, lassen Sie es mich gleich in diesem Zusammenhange aussprechen, wage ich auch nicht, es zu ergreifen, ich meine, nicht sofort zu ergreifen. Geben[150] Sie mir ein paar Tage Zeit zur Überlegung, lassen Sie mich zum Bewußtsein meines Glückes kommen und, o liebe Freundin Sabine, fragen auch Sie sich noch einmal, ob Sie denn wirklich und wahrhaftig Ihre holde Jugend mir reifem Manne anvertrauen wollen.

Es fügt sich vielleicht gut, daß ich für einige Tage in meine Vaterstadt reisen muß, wie Ihnen ja schon bekannt ist. Nun gedenke ich meine Reise um einige Tage vorzurücken und statt am Donnerstag lieber schon morgen früh abzureisen. So werden wir einander etwa vierzehn Tage lang nicht sehen, und während dieser Zeit soll sich alles entscheiden, in Ihnen und in mir. Mir ist es leider nicht gegeben, liebes Fräulein Sabine, die Worte so schön zu setzen wie Sie. Könnten Sie doch in mein Herz sehen. Aber ich weiß es, Sie werden mich nicht mißverstehen. Ich glaube, es ist besser, ich komme heute nicht ins Forsthaus. Lieber will ich mit diesem Brief von Ihnen vorläufigen Abschied nehmen. Zugleich bitte ich um die Erlaubnis, Ihnen schreiben zu dürfen, und erbitte von Ihnen das gleiche. Meine Adresse daheim ist: Am Burggraben 17. Wie Sie wissen, beabsichtige ich zu Hause auch mit meinem alten Freunde, dem Rechtsanwalt Böhlinger, wegen des Anstaltskaufes zu konferieren. Somit versage ich mir für heute auf das gütige Anerbieten Ihres verehrten Herrn Vaters einzugehen, für das ich vorläufig nur meinen verbindlichsten Dank aussprechen möchte. Übrigens wird sich vielleicht empfehlen, außer dem hiesigen Baumeister, gegen den ich damit freilich nichts gesagt haben will, einen auswärtigen Architekten zu Rate zu ziehen. Doch über all dies zu seiner Zeit. Und nun, liebe Freundin Sabine, leben Sie wohl. Grüßen Sie Ihre Eltern, denen ich zu bestellen bitte, daß ein dringendes Telegramm meines Rechtsanwaltes meine Abreise um einige Tage beschleunigt hat. In vierzehn Tagen also. Möchte ich doch dann alles hier so finden, wie ich es verlassen habe! Mit welcher Ungeduld werde ich daheim Ihrer Antwort entgegensehen. Nun will ich nichts mehr sagen. Ich danke Ihnen. Ich küsse Ihre lieben Hände. Auf Wiedersehen! Auf glückliches Wiedersehen! Ihr Freund Doktor Gräsler.«

Er faltete das Blatt zusammen. Manchmal während des Schreibens hatte er Tränen im Auge gefühlt, aus unbestimmter Rührung über sich selbst und auch über Sabine; aber jetzt, da eine vorläufige Entscheidung gefallen war, verschloß er trockenen Auges und gefaßt seinen Brief und übergab ihn dem Kutscher, der ihn persönlich im Forsthause abgeben sollte. Dem davonfahrenden Wagen sah er vom Fenster aus eine Weile nach; schon[151] war er daran, den Kutscher zurückzurufen; aber das Wort erstarb ihm auf den Lippen, und der Wagen entschwand bald seinen Blicken. Dann traf er seine Vorbereitungen für die beschleunigte Abreise. Er hatte so viel zu verfugen und zu besorgen, daß er anfangs nichts anderes zu denken vermochte; aber später, als ihm einfiel, daß Sabine seinen Brief nun schon in Händen haben müßte, tat ihm das Herz ganz körperlich weh. Nun wartete er, ob nicht vielleicht eine Antwort käme? Oder wenn sie selbst sich einfach in den Wagen setzte und sich ihn holen käme, den unentschlossenen Bräutigam? Ja, dann hätte sie wohl sagen dürfen, sie werfe sich ihm an den Hals. Aber diese Probe zu bestehen, dazu war ihre Liebe doch nicht stark genug. Sie kam nicht, und es kam nicht einmal ein Brief, und viel später, in der Dämmerung, sah er den Wagen vom Fenster aus mit irgendeinem unbekannten Fahrgast vorüberrollen. Gräsler schlief höchst unruhig in dieser Nacht; und am Morgen, fröstelnd und verdrossen, während ein spitzer Regen auf die Kautschukdecke des offenen Wagens niederprasselte, fuhr er zum Bahnhof.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 142-152.
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