Erstes Kapitel

[42] Es war ihr, als hätte sie ein Geräusch aus dem Nebenzimmer gehört. Sie sah von ihrem angefangenen Briefe auf, erhob sich, ging ein paar leise Schritte zur angelehnten Türe hin und blickte zuerst durch die Spalte in den benachbarten Raum, wo bei geschlossenen Läden ihr Sohn, anscheinend ruhig schlafend, auf dem Diwan lag. Dann erst trat sie näher heran und konnte nun beobachten, wie Hugos Brust in gleichmäßig starkem Knabenatem sich hob und senkte. Der weiche, etwas zerdrückte Hemdkragen stand über dem Halse offen, im übrigen aber war Hugo völlig angekleidet, sogar die Füße steckten in den genagelten Schuhen, die er auf dem Lande immer zu tragen pflegte. Offenbar hatte er sich in der Schwüle des Nachmittags nur für kurze Zeit hinlegen wollen, um bald, wovon die aufgeschlagenen Bücher und Hefte Zeugnis gaben, das Studium von neuem aufzunehmen. Jetzt warf er den Kopf nach der Seite, als wollte er erwachen; doch er reckte sich nur ein paarmal und schlief weiter. Aber die Augen der Mutter, die sich indes an den Dämmerton des Zimmers gewöhnt hatten, konnten nicht länger übersehen, daß der seltsam wie schmerzhaft gespannte Zug um die Lippen des Siebzehnjährigen, der ihr im Lauf der letzten Tage immer wieder aufgefallen war, auch im Antlitz des Schlafenden sich nicht lösen wollte. Beate schüttelte seufzend den Kopf, begab sich in ihr Zimmer zurück, schloß die Türe hinter sich leise ab und blickte auf den angefangenen Brief nieder, den fortzusetzen sie keine Neigung mehr fühlte. Doktor Teichmann, an den er gerichtet sein sollte, war ja doch nicht der Mann, dem gegenüber sie sich rückhaltlos aussprechen durfte; sie, die heute schon das allzu freundliche Lächeln bereute, mit dem sie ihn vor, ihrer Abreise vom Kupeefenster aus zum Abschied gegrüßt hatte. Denn gerade in diesen Sommerwochen auf dem Lande, wo die Erinnerung an den vor fünf Jahren hingeschiedenen Gatten stets mit besonderer Lebendigkeit in ihr wach wurde, wies sie die noch nicht ausgesprochene, aber zweifellos zu erwartende Werbung des Advokaten gleich andern Zukunftsgedanken[42] ähnlicher Art innerlich weit von sich; und sie sagte sich, daß sie von ihrer Sorge um Hugo zu dem Menschen am wenigsten reden konnte, der darin nicht so sehr einen Beweis des Vertrauens als ein bewußtes Zeichen der Ermutigung hätte sehen müssen. So zerriß sie den angefangenen Brief und trat unschlüssig ans Fenster.

Die Berglinien des jenseitigen Ufers verschwammen in zitternden Luftkreisen. Von unten, aus dem See, blitzte ihr, tausendfach zersplittert, das Sonnenbild entgegen, und sie rettete ihre geblendeten Augen mit einem fliehenden Blick über das schmale Wiesenufer, die staubatmende Landstraße, die blinkenden Villendächer und ein regungsloses Ährenfeld in das Grün ihres Gartens. Auf der weißen Bank unter dem Fenster ließ sie Blicke und Gedanken ruhen. Sie dachte daran, wie oft ihr Gatte hier gesessen war, über einer Rolle brütend, – oder auch eingeschlummert, insbesondere, wenn die Lüfte so sommerträg über der Landschaft ruhten wie heute wieder. Dann hatte Beate sich wohl über die Brüstung gebeugt und mit zärtlichen Fingern das grauschwarze Kraushaar angerührt und darin gewühlt, bis Ferdinand, bald erwacht, aber zuerst in verstelltem Weiterschlummer die Liebkosung duldend, langsam sich wandte und zu ihr aufschaute, mit seinen hellen Kinderaugen, die an fernen, doch nie zu vergessenden Märchenabenden so wundersam heldenhaft und todesschwer zu blicken vermochten. Doch daran wollte, ja sollte sie gar nicht denken; gewiß nicht mit Seufzern, wie sie nun unwillkürlich auf ihren Lippen vergingen. Denn Ferdinand selbst – in entschwundenen Tagen hatte er sich's von ihr zuschwören lassen – wünschte sein Andenken nicht anders geweiht als durch heiteres Erinnern, ja durch ein unbekümmertes Ergreifen neuen Glücks. Und Beate dachte: Ist es nicht zum Erschauern, wie man vom Furchtbarsten in blühender Zeit zu sprechen vermag, scherzend und leicht, als drohe dergleichen andern nur und könnte einem selber gar nicht widerfahren! Und dann kommt es wirklich, und man faßt es nicht, und nimmt es doch hin; und die Zeit geht weiter, und man lebt; man schläft im gleichen Bette, das man einst mit dem Geliebten teilte, trinkt aus demselben Glas, das er mit seinen Lippen berührte, pflückt unter dem gleichen Tannenschatten Erdbeeren, wo man sie mit einem auflas, der niemals wieder pflücken wird; und hat nicht Tod noch Leben je ganz begriffen.

Auf dieser Bank draußen hatte sie manchmal an Ferdinands Seite gesessen, indes der Bub, von der Eltern zärtlichem Blick[43] umfangen und gefolgt, mit Ball oder Reifen durch den Garten getollt war. Und so sehr sie es mit ihrem Verstande wußte, daß der Hugo, der da drin im Nebenzimmer, mit jenem neuen schmerzlich gespannten Zug um die Lippen, auf dem Diwan schlief, dasselbe Menschenkind war, das vor wenig Jahren noch im Garten gespielt hatte; – mit ihrem Gefühl vermochte sie auch das nicht zu fassen, so wenig wie daß Ferdinand tot sein sollte, wahrhafter tot als Hamlet, als Cyrano, als der königliche Richard, in deren Masken sie ihn so oft hatte sterben sehen. Aber vielleicht blieb dies ihr nur deshalb für alle Zeit unbegreiflich, weil zwischen so blühendem Dasein und so dunklem Tod nicht etwa Wochen des Leidens und der Angst verstrichen waren; gesund und wohlgemut war Ferdinand eines Tages vom Hause zu irgendeinem Gastspiel weggefahren, und in der Stunde drauf, von dem Bahnhof, in dessen Halle ihn der Schlag gerührt, hatte man ihn als toten Mann wieder heimgebracht.

Während Beate diesen Erinnerungen nachhing, fühlte sie immerfort, wie irgend etwas anderes gespenstisch quälend und gleichsam auf Erlösung wartend, in ihrer Seele hin und her ging. Erst nach einigem Besinnen ward ihr bewußt, daß der letztbegonnene Satz ihres unvollendeten Briefes, in dem sie von Hugo erzählen wollte, ihr keine Ruhe ließ, und daß sie sich entschließen mußte, den zu Ende zu denken. Sie war sich klar darüber, daß sich in Hugo irgend etwas vorbereitete oder vollzog, was sie längst erwartet und was sie doch nie für möglich gehalten hatte. In früheren Jahren, als er noch ein Kind war, hatte sie gern den Gedanken gehegt, ihm später einmal nicht nur Mutter, sondern auch Freundin und Vertraute zu bedeuten; und noch bis in die letzte Zeit, da er ihr zugleich mit seinen kleinen Schulsünden auch die ersten knabenhaften Verliebtheiten zu beichten kam, durfte sie sich einbilden, daß ihr so seltenes Mutterglück beschieden sein könnte. Hatte er sie nicht die rührend-kindischen Verse lesen lassen, die er der kleinen Elise Weber, der Schwester eines Schulkollegen, gewidmet, und die diese selbst niemals zu Gesicht bekommen hatte? Und im vergangenen Winter erst, hatte er der Mutter nicht gestanden, daß ein kleines Fräulein, dessen Namen er ritterlich verschwieg, ihn in der Tanzstunde während eines Walzers auf die Wange geküßt hatte? Und im letzten Frühjahr, hatte er ihr nicht, verstört beinahe, von zwei Buben aus seiner Klasse berichtet, die in fragwürdiger Gesellschaft einen Abend im Prater verbracht und sich gerühmt hätten,[44] erst des Morgens um drei wieder nach Hause gekommen zu sein? So hatte Beate zu hoffen gewagt, daß Hugo sie auch zur Vertrauten ernsterer Empfindungen und Erlebnisse erwählen, und sie imstande sein würde, ihn durch Zuspruch und Rat vor mancher Trübsal und Gefahr der Jünglingsjahre zu bewahren. Nun aber erwies sich, daß all dies nur Träume eines verwöhnten Mutterherzens gewesen waren; denn da die erste seelische Bedrängnis ihn anfiel, zeigte Hugo sich fremd und verschlossen, und die Mutter stand solchem ihr neuen Wesen scheu und ratlos gegenüber.

Sie zuckte zusammen. Denn im ersten Windhauch des späten Nachmittags, gleich einer höhnischen Bestätigung ihrer Seelenangst, sah sie in der Tiefe unten von dem Giebel der lichten Villa am See die verhaßte weiße Fahne wehen. Frech gezackt, der zudringlich lockende Gruß einer Verworfenen an den Knaben, den sie verderben wollte, flatterte sie zur Höhe auf. Unwillkürlich wie drohend erhob Beate die Hand; dann aber trat sie rasch ins Zimmer zurück, in einem unbezwinglichen Drang, ihren Sohn zu sehen und sich mit ihm auszusprechen. Sie legte ihr Ohr an die Verbindungstüre, um ihn nicht etwa aus gutem Schlummer aufzustören; und wirklich war ihr, als hörte sie wie früher seinen ruhigen starken Knabenatem gehen. Vorsichtig öffnete sie nun die Türe mit der Absicht, Hugos Erwachen abzuwarten und dann, neben ihm am Diwan sitzend, in mütterlicher Zärtlichkeit sein Geheimnis zu erfragen. Aber erschrocken gewahrte sie, daß das Zimmer leer war. Hugo war nicht mehr da. Er war fortgegangen, ohne wie sonst der Mutter Adieu zu sagen und sich den gewohnten Kuß auf die Stirne zu holen; – offenbar aus Scheu vor der Frage, die er seit Tagen auf ihren Lippen sich hatte vorbereiten gesehen und die sie, nun erst wußte sie's, heute, jetzt, in dieser Viertelstunde an ihn gerichtet hätte. So weit also war er, so entrückt ihr durch seine Unruhe, durch seine Wünsche allein. Das hatte aus ihm der erste Händedruck jener Frau gemacht, neulich auf der Landungsbrücke; das ihr Blick, der ihn gestern von der Galerie der Schwimmanstalt aus lächelnd gegrüßt hatte, da sein lichter Knabenleib aus den Wellen emporgetaucht kam. Freilich, – er war siebzehn vorüber; und niemals hatte die Mutter sich eingebildet, daß er sich aufbewahren würde für eine, die ihm bestimmt wäre, vom Anbeginn aller Tage, und die ihm begegnen würde, jung und rein wie er selbst. Nur dies eine ersehnte sie für ihn: daß er nicht mit Ekel aus seinem ersten Rausch erwachte,[45] mit seiner duftenden Jugend nicht der Lust einer Frau zum Opfer fiele, die ihren halbvergangenen Bühnenruhm nur einer schillernden Dirnenhaftigkeit verdankte und deren Wandel und Ruf auch in ihrer späten Ehe keine Änderung erfahren hatten.

Beate saß auf Hugos Diwan im halbdunklen Zimmer, mit geschlossenen Augen, den Kopf in die Hände gestützt, und überlegte. Wo mochte Hugo sein? Bei der Baronin am Ende? Das war undenkbar. So rasch konnten diese Dinge sich nicht vollziehen. Aber, bestand überhaupt noch eine Möglichkeit, den geliebten Buben vor einem so kläglichen Abenteuer zu bewahren? Sie fürchtete, nein. Denn sie ahnte ja: wie Hugo die Züge seines Vaters trug, so rann auch dessen Blut in ihm, das dunkle Blut jener Menschen aus einer andern, gleichsam gesetzlosen Welt, die als Knaben schon von männlich-düsteren Leidenschaften durchglüht werden und denen noch in reifen Jahren Kinderträume aus den Augen schimmern. Das Blut des Vaters nur? Rann das ihre etwa träger? Durfte sie sich das heute einbilden, einfach darum, weil seit dem Tode des Gatten keine Versuchung an sie herangetreten war? Und weil sie niemals einem andern gehört hatte, war darum minder wahr, was sie dem Gatten einstmals gestanden: daß er nur darum ihr ganzes Leben als Einziger erfüllt hatte, weil in den tiefen Nächten, da ihr sein Antlitz verdämmerte, er ihr immer wieder einen andern, einen neuen bedeutete, – weil sie in seinen Armen des königlichen Richard Geliebte war und Cyranos und Hamlets und all der andern, die er spielte: die Geliebte von Helden und Bösewichtern, Gesegneten und Gezeichneten, spiegelklaren und rätselvollen Menschen? Ja, hatte sie nicht, halb unbewußt, nur darum schon als junges Mädchen den großen Schauspieler sich zum Gatten gewünscht, weil eine Verbindung mit ihm ihr die einzige Möglichkeit bot, den ehrbaren Lebensweg zu gehen, der ihr nach ihrer bürgerlichen Erziehung vorgezeichnet schien, und doch zugleich das abenteuerlich-wilde Dasein zu führen, nach dem sie in verborgenen Träumen sich sehnte? Und sie erinnerte sich, wie sie sich Ferdinand, nicht nur gegen den Willen ihrer Eltern, deren frommer Bürgersinn den leisen Schauder vor dem Komödianten auch nach vollzogener Heirat nie ganz verwinden konnte, sondern auch gegen einen viel bedenklicheren Feind zu erobern verstanden hatte. Zur Zeit, als sie Ferdinand kennenlernte, stand er in stadtbekannten Beziehungen zu einer nicht mehr jungen, reichen Witwe, die den jungen Schauspieler in seinen Anfängen vielfach gefördert, ja[46] öfters seine Schulden bezahlt haben sollte, und von der loszureißen es ihm, wie es hieß, nun an der nötigen Willenskraft fehlte. Damals hatte Beate den romantischen Entschluß gefaßt, den herrlichen Mann aus so unwürdigen Banden zu befreien: und in Worten, wie sie nur das Bewußtsein einer niemals wiederkehrenden Stunde einzugeben vermag, von der alternden Geliebten Ferdinands die Lösung eines Verhältnisses gefordert, das an seiner inneren Unwahrheit doch über kurz oder lang, und dann vielleicht zu spät für das Heil des großen Künstlers und der Kunst zusammenbrechen müßte. Wohl erfuhr sie damals eine spöttisch-verletzende Abweisung, an der sie lange trug, und es dauerte noch ein volles Jahr bis zu Ferdinands endgültiger Befreiung; aber daß jene Unterredung den ersten Anlaß hierzu bedeutet, daran hätte Beate nicht zweifeln können, auch wenn ihr Gatte nicht selbst, immer wieder, auch vor Leuten, die es nicht im geringsten kümmerte, die Geschichte mit heiterem Stolz zum besten gegeben hätte.

Beate ließ die Hände von den Augen sinken und erhob sich in plötzlicher Erregung vom Diwan. Wohl lagen bald zwanzig Jahre zwischen jenem töricht-kühnen Schritt und heute; aber war sie seither eine andere geworden? War in ihr heute nicht die gleiche Zielbewußtheit und der gleiche Mut? Durfte sie sich heute nicht mehr zutrauen, das Schicksal eines Menschen, der ihr teuer war, nach ihrem Sinn zu lenken? War sie die Frau, die stumm warten mußte, bis ihres Sohnes junges Leben beschmutzt und für immer zerstört war, statt, wie einst vor jene andere, heute vor die Baronin hinzutreten, die am Ende doch auch eine Frau war und es irgendwo, wenn auch im verstecktesten Winkel ihrer Seele, verstehen mußte, was es bedeutete, Mutter zu sein? Und dieses Einfalles wie einer Erleuchtung froh, trat sie zum Fenster, öffnete die Läden, und in neuer Hoffnung nahm sie das Bild der lieben Landschaft wie einen Gruß der Verheißung in sich auf. Doch sie fühlte, daß es darauf ankam, den kühnen Entschluß noch mit dem Selbstvertrauen des ersten Augenblicks zur Tat zu machen; ohne weiteres Zögern begab sie sich daher in ihr Schlafzimmer und klingelte dem Mädchen, das ihr beim Ankleiden heute mit besonderer Sorgfalt behilflich sein mußte. Sobald dies zu ihrer Zufriedenheit besorgt war, setzte sie ihren breitkrempigen Panamahut mit dem schmalen schwarzen Band auf das dunkelblonde, dichtgewellte Haar, wählte aus dem Blumenglas, das auf dem Nachtkästchen stand, von den drei roten Rosen, die sie heut[47] Morgen vom Stock geschnitten, die frischeste, steckte sie in den weißen Ledergürtel, nahm ihren schlanken Bergstock in die Hand und verließ das Haus. Sie fühlte sich froh, jung und ihrer Sache gewiß.

Als sie vor die Türe trat, stand das Ehepaar Arbesbacher vorn am Gartengitter, er in Lodenjoppe und Lederhose, eben im Begriff, den Taster zu drücken, sie in einem dunkelgeblümten Kattunkleid, das im Verhältnis zu den etwas verhärmten, aber noch jugendlichen Zügen einen allzu matronenhaften Zuschnitt zeigte.

»Küß die Hand, gnä' Frau,« rief der Baumeister, lüftete den grünen Hut mit dem Gamsbart und behielt ihn in der Hand, so daß der weiße Kopf eine Weile unbedeckt blieb. »Wir wollen Sie grad abholen« – und auf ihren fragenden Blick – »haben Sie denn vergessen, gnä' Frau? heut ist ja Donnerstag, Tarockpartie beim Direktor.«

»Ja richtig«, sagte Beate, sich erinnernd.

»Grad sind wir dem Herrn Sohn begegnet«, bemerkte die Baumeisterin, und über die verblühten Züge zog ein müdes Lächeln.

»Mit zwei dicken Büchern ist er da hinauf«, ergänzte der Baumeister und deutete gegen den Pfad, der über die sonnige Wiese zum Walde aufwärts führte ... »Ein fleißiger Jüngling.«

Beate lächelte mit einem Ausdruck unverhältnismäßiger Glückseligkeit. »Im nächsten Jahr hat er Matura«, sagte sie.

»Nein, wie schön die Frau heut wieder aussieht!« äußerte die Baumeisterin ganz unvermittelt in einem Ton, der vor Bewunderung beinahe demütig wurde.

»Na, wie wird uns denn zumut sein, Frau Beatelinde,« sagte der Baumeister, »wenn wir so plötzlich einen erwachsenen Sohn haben, der auf die Universität geht, sich duelliert und den Weibern die Köpf' verdreht?«

»Aber hast denn du dich duelliert?« warf seine Gattin ein.

»Na, so hab' ich mich halt herumgeschlagen, 's kommt aufs selbe heraus. Blutige Köpf' gibt's so und so!«

Sie spazierten den Weg hin, der oberhalb der Ortschaft, mit dem Blick über den See hin, zur Villa des Bankdirektors Welponer führte.

»Ja, ich geh' da mit Ihnen so weiter,« sagte Beate, »aber eigentlich müßte ich noch in den Ort hinunter ... nämlich auf die Post, wegen eines Paketes, das vor acht Tagen in Wien aufgegeben[48] worden und noch immer nicht da ist. Noch dazu per Eilgut«, setzte sie so ungehalten hinzu, als glaubte sie selbst an die Geschichte, die sie plötzlich erfunden hatte, sie wußte selbst nicht warum.

»Vielleicht kommt's mit dem Zug, Ihr Packerl«, sagte die Baumeisterin und wies nach unten, wo die kleine Eisenbahn eben pfauchend und wichtigtuerisch hinter dem Felsen hervorkam und mitten durch das Wiesenland dem etwas erhöhten Bahnhof zufuhr. Zu allen Fenstern steckten Reisende die Köpfe heraus, und der Baumeister schwenkte seinen Hut.

»Was hast denn?« sagte seine Frau.

»Es werden ja jedenfalls Bekannte dabei sein, und man ist doch ein höflicher Mann.«

»Also, auf Wiedersehen«, sagte Beate plötzlich. »Ich komm dann natürlich auch hinauf. Ich lass' indessen schön grüßen.« Eilig nahm sie Abschied und ging den Weg wieder zurück, den sie gekommen. Sie fühlte, daß der Baumeister und seine Frau, die stehengeblieben waren, ihr mit den Blicken beinah bis vor die Villa folgten, die Arbesbacher vor nun zehn Jahren seinem Freund und Jagdgenossen Ferdinand Heinold gebaut hatte. Hier nahm Beate den schmalen Fahrweg, der, steil genug, an einfachen Landhäusern vorbei zur Ortschaft führte, mußte aber vor dem Überschreiten des Bahngleises eine Weile warten, da der Zug eben die Station verließ. Jetzt erst fiel ihr ein, daß sie ja gar nichts auf der Post zu tun hatte, sondern vielmehr die Baronin sprechen wollte, was ihr nun, da sie ihren Buben im Wald oben mit seinen Büchern wußte, allerdings nicht mehr so dringend erschien, als noch in der Stunde vorher ... Sie überschritt das Geleise und fand am Bahnhof all die Unruhe vor, die dem Eintreffen eines Zuges zu folgen pflegt. Die zwei Stellwagen vom Seehotel und vom Posthof rumpelten eben mit ihren Passagieren davon; andere Ankömmlinge, von Gepäckträgern gefolgt, hochgestimmt und erregt; Ausflügler, unbeschwert und wohlgelaunt, kreuzten Beatens Weg. Sie sah belustigt zu, wie eine ganze Familie, – Vater, Mutter, drei Kinder, Bonne und Stubenmädchen mit Koffern, Schachteln, Taschen, Schirmen und Stöcken, sowie einem kleinen verängstigten Pinscher, in einem Landauer unterzukommen suchte. Aus einem andern Wagen winkte ihr ein Ehepaar, flüchtig vom vorigen Jahre her bekannt, mit der ganzen ungemessenen Freudigkeit der Sommerlandbegrüßungen zu. Ein junger Herr in lichtgrauem Sommeranzug, eine sehr neue gelbe Ledertasche in[49] der Hand, lüftete vor Beate den Strohhut. Sie erkannte den jungen Mann nicht und grüßte kühl zurück.

»Küß' die Hand, gnädige Frau«, sagte der Fremde, ließ seine Tasche rasch von der einen in die andere Hand voltigieren und streckte Beate etwas ungeschickt die freigewordene Rechte entgegen.

»Fritzl!« rief nun Beate, ihn erkennend, aus.

»Jawohl, gnädige Frau, Fritzl in eigener Person.«

»Wissen Sie, daß ich Sie wirklich nicht erkannt hab'? Sie sind ja ein ganzes Gigerl geworden.«

»Na, es wird schon nicht so arg sein«, erwiderte Fritzl und ließ die Tasche wieder in die andere Hand gleiten. »Übrigens, hat denn der Hugo meine Karte nicht gekriegt?«

»Ihre Karte? Ich weiß nicht. Aber er hat mir neulich gesagt, daß er Ihren Besuch erwartet.«

»Natürlich, das ist ja schon in Wien besprochen worden, daß ich von Ischl aus auf ein paar Tage herüberkomm'. Aber gestern hab ich ihm noch extra geschrieben, daß ich heute nachmittag meine Ankunft zu feiern gedenke.«

»Er wird sich jedenfalls riesig freuen. Wo sind Sie denn abgestiegen, Herr Weber?«

»Aber nein, gnädige Frau, nicht Herr Weber sagen.«

»Also wo, Herr – Fritz?«

»In den Posthof hab ich mein Kofferl vorausgeschickt, und sobald ich meinen äußeren Menschen in Ordnung gebracht habe, werde ich so frei sein, in der Villa Beate meine Aufwartung zu machen.«

»Villa Beate? Gibt's gar keine weit und breit.«

»Ja, wie heißt sie denn, wenn schon jemand mit einem so schönen Namen drin wohnt?«

»Sie heißt gar nicht. Solche Sachen mag ich nicht. Eichwiesenweg Numero sieben steht sie; sehen Sie, die dort droben mit dem kleinen grünen Balkon.«

Fritz Weber blickte andächtig in die bezeichnete Richtung. »Muß eine schöne Aussicht sein! Jetzt will ich aber nicht länger aufhalten. In einer Stunde find' ich doch den Hugo hoffentlich zu Haus?«

»Ich denk' schon. Jetzt ist er noch oben im Wald und studiert.«

»Studieren tut er? Das muß man ihm aber schleunigst abgewöhnen.«

»Oho!«[50]

»Ich will nämlich Touren mit ihm machen. Wissen gnädige Frau schon, daß ich neulich auf dem Dachstein war?«

»Leider nein, Herr Weber, es ist nämlich nicht in der Zeitung gestanden.«

»Aber ich bitt' schön, gnädige Frau, nicht Herr Weber.«

»Ich glaub' doch, daß wir dabei werden bleiben müssen, da ich weder die Ehre habe, Ihre Tante noch Ihre Gouvernante zu sein ...«

»So eine Tante möcht' man sich schon gefallen lassen.«

»Also, galant ist er auch schon – nein, so was!« Sie lachte laut auf: statt des eleganten jungen Herrn stand plötzlich der Bub vor ihr, den sie schon seit seinem zwölften Jahre kannte, und der kleine blonde Schnurrbart sah aus, als wenn er angeklebt wäre. »Also auf Wiedersehen, Fritzl«, sagte sie und streckte ihm zum Abschied die Hand entgegen. »Heut' abend beim Nachtmahl berichten Sie uns näheres von Ihrer Dachsteinpartie, nicht wahr?«

Fritz verbeugte sich etwas steif, dann küßte er Beatens Hand, was sie sich wie mit Ergebung in den raschen Lauf der Jahre gefallen ließ; endlich entfernte er sich mit gehobenem Selbstgefühl, das in seiner Haltung und seinem Gang zum Ausdruck kam. Und das, dachte Beate, ist nun ein Freund von meinem Hugo. Freilich, etwas älter als der, um eineinhalb oder zwei Jahre gewiß. Er war ja früher auch in einer höheren Klasse gewesen, Beate erinnerte sich, nur hatte er einmal repetieren müssen. Jedenfalls freute sie sich, daß er da war und mit Hugo Touren zu machen gedachte. Wenn sie die beiden Buben doch gleich auf eine acht- oder vierzehntägige Fußpartie schicken könnte! So zehn Stunden Marsch, sich den Bergwind um die Stirne blasen lassen, abends müd' aufs Stroh hinsinken und früh mit der Sonne wieder auf die Wanderschaft – wie schön und wie heilsam wäre das! Sie verspürte nicht übel Lust, selbst mitzuhalten. Aber das ging kaum an. Auf eine Tante oder Gouvernante verzichteten die Buben gewiß gern. Sie seufzte leise und strich sich mit der Hand über die Stirne.

Auf der Landstraße, dem See entlang, spazierte sie weiter. Vom Landungssteg war eben das kleine Dampfschiff abgegangen und schwamm blank und putzig quer übers Wasser nach dem sogenannten Auwinkel hin mit den paar stillen, unter Kastanien und Obstbäumen versteckten Häusern, wo die Natur schon anfing, Abend zu machen. Auf dem Sprungbrett in der Badeanstalt wippte irgendeine Figur in weißem Bademantel. Im See waren noch einige Schwimmer zu sehen. Die haben's besser als ich, dachte Beate und blickte nicht ohne Neid auf das Wasser hin, von[51] dem ein kühlender, friedenbringender Hauch zu ihr geweht kam. Aber rasch wehrte sie die Versuchung von sich ab und mit eigensinniger Bestimmtheit setzte sie ihren Weg fort, bis sie sich fast unversehens vor der Villa befand, die Baronin Fortunata in diesem Sommer bewohnte. Von der Veranda, die sich längs der ganzen Front hinzog, über den mäßigen, bunt in Malven und Levkojen blühenden Vorgarten schimmerten helle Kleider her. Ohne den Blick seitwärts zu wenden, spazierte Beate längs des weißen Zaunes weiter. Zu ihrer Beschämung fühlte sie ihr Herz lauter klopfen. Der Ton von zwei Frauenstimmen drang an ihr Ohr; Beate beschleunigte ihre Schritte, und plötzlich war sie an dem Haus vorüber. Sie beschloß, vorerst in den Ort hinauf zu gehen, zum Kaufmann, wo es öfters etwas zu besorgen gab, und heute gewiß, da man einen Gast zum Abendessen hatte. Nach ein paar Minuten stand sie schon in Anton Meißenbichlers Laden, kaufte kaltes Fleisch, Obst und Käse und gab der kleinen Loisl mit einem Trinkgeld den Auftrag, das Päckchen gleich nach dem Eichwiesenweg zu bringen. Aber was nun? fragte sie sich, als sie draußen auf dem Kirchenplatz stand, dem offenen Friedhofstor gegenüber, und die vergoldeten Kreuze in der Abendsonne rötlich schimmern sah. Sollte sie ihren Plan einfach fallen lassen, weil ihr das Herz etwas rascher geschlagen hatte? Nie hätte sie eine solche Schwäche sich verziehen. Und die Strafe des Geschicks, sie fühlte es, wäre ihr sicher. Also es blieb nichts übrig, als: zurück – und ohne weiteren Aufschub zur Baronin.

In wenigen Minuten war Beate unten am Ufer. Nun vorbei am Seehotel, auf dessen weitläufiger erhöhter Terrasse Sommergäste bei Kaffee und Eis saßen, dann noch an den zwei neuen riesengroßen modernen Villen, die sie so gar nicht leiden mochte; und zwei Sekunden später begegneten ihre Augen denen der Baronin, die unter einem weißen, rotgetupften Riesenschirm in einem geflochtenen Streckstuhl auf der Veranda lag. An die Wand gelehnt stand eine zweite Dame, mit elfenbein-gelblichem Gesicht, statuenhaft, in wallendem weißen Gewand. Fortunata hatte eben lebhaft gesprochen, verstummte nun plötzlich und ihre Züge wurden starr; gleich aber lösten sie sich wieder, ihr ganzes Gesicht ward ein Lächeln, ein Grüßen, ihr Blick ein wahrer Glanz von Herzlichkeit und Willkommen. Du Luder! dachte Beate, ein wenig indigniert über diesen ihren eigenen Ausdruck und fühlte sich gerüstet. Und Fortunatas Stimme klang überheiter an ihr Ohr. »Guten Tag, Frau Heinold.«[52]

»Guten Tag«, erwiderte Beate mit kaum erhobener Stimme, als läge ihr nicht viel daran, ob ihr Gruß auf der Veranda gehört würde oder nicht; und sie tat, als wollte sie weitergehen.

Fortunata aber rief zu ihr herüber: »Sie haben wohl die Absicht, heute ein Sonnen- und Staubbad zu nehmen, Frau Heinold.« Beate zweifelte nicht daran: dies hat Fortunata nur gesagt, um überhaupt ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Denn die Bekanntschaft zwischen den beiden Frauen war so oberflächlicher Art, daß der scherzhafte Ton im Grunde nicht einmal sonderlich angebracht schien. Vor vielen Jahren, auf einem Bühnenfest, hatte Beate die junge Schauspielerin Fortunata Schön, eine Kollegin Ferdinand Heinolds, kennengelernt, und in der Zwanglosigkeit des lustigen Abends hatte das Ehepaar am gleichen Tisch mit ihr und ihrem damaligen Liebhaber soupiert und Champagner getrunken. Später waren wohl flüchtige Begegnungen im Theater und auf der Straße erfolgt, hatten aber niemals zu wirklichen Gesprächen auch nur von Minutendauer geführt. Vor acht Jahren, nach ihrer Verheiratung mit dem Baron, war Fortunata von der Bühne abgegangen und völlig aus dem Gesichtskreis Beatens verschwunden, bis diese sie vor wenigen Wochen hier in der Badeanstalt zufällig wieder getroffen hatte, um von dieser Begegnung an, wie es sich kaum vermeiden ließ, auf der Straße, im Wald, im Bad gelegentlich ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Heute aber paßte es Beate sehr, daß die Baronin selbst geneigt schien, eine Unterhaltung zu beginnen, und so erwiderte sie möglichst unbefangen: »Sonnenbad ...? die Sonne ist ja schon fort – und am See ist's abends nicht so schwül wie im Wald oben.«

Fortunata hatte sich erhoben; mit ihrem schmalen, aber sehr wohlgebildeten Figürchen lehnte sie sich an die Brüstung und erwiderte etwas hastig, daß sie für ihren Teil die Waldspaziergänge vorziehe, insbesondere den zur Einsiedelei finde sie geradezu ergreifend. Was für ein dummes Wort, dachte Beate, und fragte höflich, warum die Baronin bei dieser Vorliebe nicht lieber gleich eine der Villen am Waldesrand bezogen hätte. Die Baronin erklärte, daß sie oder vielmehr ihr Gemahl diese Villa hier auf eine Annonce hin gemietet hätte; übrigens sei sie in jeder Hinsicht zufrieden. »Aber wollen Sie nicht weiter spazieren, gnädige Frau,« setzte sie eilig hinzu, »und mit meiner Freundin und mir eine Tasse Tee trinken?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie Beaten entgegen, reichte ihr eine schlanke, weiße, etwas unruhige Hand und geleitete sie mit übertriebener Freundlichkeit[53] auf die Veranda, wo indes die andere Dame nach wie vor regungslos in ihrem wallenden weißen Musselingewand an der Mauer lehnte, mit einer Art von düsterem Ernst, der Beate halb unheimlich, halb komisch berührte. Fortunata stellte vor: »Fräulein Wilhelmine Fallehn – Frau Beate Heinold. Der Name dürfte dir nicht unbekannt sein, liebe Willy.«

»Ich habe Ihren Gatten unendlich verehrt«, sagte Fräulein Fallehn kühl und mit dunkler Stimme.

Fortunata bot Beaten einen gepolsterten Korbsessel an und entschuldigte sich, daß sie selbst sich sofort wieder so bequem wie früher hinstreckte. Nirgends noch hätte sie sich nämlich so müde, geradezu zerflossen gefühlt, als hier, besonders in den Nachmittagsstunden. Möglicherweise läge es daran, daß sie der Versuchung nicht widerstehen könne, zweimal täglich zu baden und jedesmal eine volle Stunde im Wasser zu bleiben. Aber wenn man so viele Wässer kenne, wie sie, Binnenseen und Flüsse und Meere, da komme man erst drauf, daß jedes Wasser gewissermaßen seinen eigenen Charakter habe. So sprach sie weiter, fein und allzu gewählt, wie es Beate vorkam; und strich sich zuweilen wie ermüdet mit der einen Hand über das rötlich gefärbte Haar. Ihr langes weißes, mit Klöppelspitzen besetztes Hauskleid hing zu beiden Seiten des niedern Streckstuhls auf den Boden nieder. Um den freien Hals trug sie eine bescheidene Schnur von kleinen Perlen. Ihr blasses schmales Gesicht war stark gepudert; nur die Nasenspitze schimmerte rötlich, und dunkelrot die offenbar geschminkten Lippen. Beate mußte sich an ein Bild aus einer illustrierten Zeitung erinnern, das einen an einem Laternenpfahl hängenden Pierrot vorstellte, ein Eindruck, der sich für sie dadurch verstärkte, daß Fortunata, während sie sprach, die Augen halb geschlossen zu halten pflegte.

Tee und Gebäck war gebracht worden, das Gespräch kam in Gang, auch Wilhelmine Fallehn, die, zwangloser als vorher, die Tasse in der Hand, an der Brüstung lehnte, beteiligte sich daran; es glitt vom Sommer zum Winter über, man sprach von der Stadt, den Theaterzuständen, den unbedeutenden Nachfolgern Ferdinand Heinolds und von des Unvergessenen allzu frühem Tod. Wilhelmine äußerte in gemessenem Ton ihr Staunen, daß eine Frau den Verlust eines solchen Mannes zu überleben imstande sei, worauf die Baronin, Beatens Befremden gewahrend, schlicht bemerkte: »Du mußt wissen, Willy, Frau Heinold hat einen Sohn.«[54]

In diesem Augenblick sah ihr Beate mit unbeherrschter Feindseligkeit in die Augen, die diesen Blick spöttisch-nixenhaft erwiderten; ja, es schien Beate geradezu, als wenn von Fortunata ein feuchter Duft ausginge wie von Schilf und Wasserrosen. Zugleich bemerkte sie, daß Fortunatens Füße nackt in den Sandalen staken, und daß sie unter dem weißen Leinenkleid nichts weiter anhatte. Indes aber redete die Baronin unbefangen weiter, sehr glatt und gebildet; sie behauptete, daß das Leben stärker sei als der Tod, daß es daher am Ende immer recht behalten müsse; aber Beate fühlte, daß hier ein Geschöpf zu ihr sprach, dem nie ein geliebtes Wesen gestorben war, ja, das niemals einen Menschen, Mann oder Frau, wirklich geliebt hatte.

Wilhelmine Fallehn stellte plötzlich die Tasse hin. »Ich muß noch fertig packen«, erklärte sie, verabschiedete sich kurz und verschwand durch den Gartensalon.

»Meine Freundin reist nämlich heute nach Wien zurück«, sagte Fortunata. »Sie ist verlobt – gewissermaßen.«

»Ah«, machte Beate höflich.

»Wofür würden Sie sie wohl halten?« fragte Fortunata mit halbgeschlossenen Augen.

»Das Fräulein ist wahrscheinlich Künstlerin?«

Fortunata schüttelte den Kopf. »Eine Weile war sie allerdings beim Theater. Sie ist die Tochter eines hohen Offiziers. Besser gesagt, die Waise. Ihr Vater hat sich eine Kugel durch den Kopf gejagt aus Gram über ihren Lebenswandel. Schon vor zehn Jahren. Dabei ist sie heute siebenundzwanzig. Sie kann es weit bringen. – Nehmen Sie noch eine Tasse Tee?«

»Danke, Frau Baronin.« Sie atmete tief auf. Nun war der Augenblick gekommen. Ihre Züge spannten sich mit einem Male so entschlossen an, daß Fortunata sich unwillkürlich halb aufrichtete. Und Beate begann mit Entschiedenheit: »Es ist nämlich kein Zufall, daß ich an Ihrem Hause vorbeigegangen bin. Ich habe mit Ihnen zu reden, Frau Baronin.«

»Oh«, sagte Fortunata, und unter dem gepuderten Pierrotgesicht zeigte sich eine leichte Röte. Sie stützte den einen Arm auf die Lehne ihres Streckstuhls und verschlang die unruhigen Finger ineinander.

»Erlauben Sie mir, kurz zu sein«, begann Beate.

»Ganz nach Ihrem Belieben. So kurz oder so lang Sie wollen, meine liebe Frau Heinold.«

Beate fühlte sich durch diese etwas herablassende Anrede[55] gereizt und entgegnete ziemlich scharf: »Ganz kurz und einfach, Frau Baronin. Ich will nicht, daß mein Sohn Ihr Geliebter wird.«

Sie war vollkommen ruhig; ja, genau so war ihr zumute gewesen, als sie vor neunzehn Jahren einer alternden Witwe den künftigen Gatten abgefordert hatte.

Die Baronin erwiderte Beatens kühlen Blick nicht minder ruhig. »So«, sagte sie halb vor sich hin. »Sie wollen nicht? – Schade. Allerdings, die Wahrheit zu sagen, ich habe selbst noch gar nicht daran gedacht.«

»So wird es Ihnen um so leichter fallen,« erwiderte Beate etwas heiser, »meinen Wunsch zu erfüllen.«

»Ja, wenn es von mir allein abhinge –«

»Frau Baronin, nur von Ihnen hängt es ab. Das wissen Sie sehr gut. Mein Sohn ist fast noch ein Kind.«

Um Fortunatens geschminkte Lippen erschien ein schmerzlicher Zug. »Was muß ich doch für eine gefährliche Frau sein«, begann sie gedankenvoll. »Soll ich Ihnen sagen, warum meine Freundin abreist? Sie hätte nämlich den ganzen Sommer bei mir verbringen sollen, – und ihr Verlobter sollte sie hier besuchen. Und denken Sie, da bekam sie plötzlich Angst, Angst vor mir. Nun ja, vielleicht hat sie recht. Ich bin wohl so. Ich kann ja wirklich nicht für mich einstehen.«

Beate saß starr da. Eine solche Aufrichtigkeit, die fast schon Schamlosigkeit war, hatte sie nicht erwartet. Und sie erwiderte herb: »Nun, Frau Baronin, bei dieser Denkungsart wird Ihnen wohl wenig daran liegen, daß gerade mein Sohn –« Sie hielt inne.

Fortunata ließ einen Kinderblick auf Beate ruhen: »Was Sie da tun, Frau Heinold,« sagte sie in einem gleichsam neugefundenen Ton, »ist eigentlich rührend. Aber klug, meiner Seele, klug ist es nicht. Übrigens wiederhole ich, daß ich nicht im entferntesten daran gedacht habe ... Wahrhaftig, Frau Heinold, ich glaube, Frauen wie Sie haben da eine falsche Auffassung von Frauen – meiner Art. Sehen Sie, vor zwei Jahren zum Beispiel, da habe ich drei volle Monate in einem holländischen Fischerdorf verbracht; mutterseelenallein. Und ich glaube, in meinem ganzen Leben bin ich nicht so glücklich gewesen. Und ebenso hätte es passieren können, daß ich auch in diesem Sommer – Oh, ich möchte es noch immer nicht ausschließen. Ich hatte niemals Vorsätze, nie in meinem Leben. Auch meine Heirat, ich versichere Sie, war der reine Zufall.« Und sie blickte auf, als fiele ihr plötzlich etwas ein. »Oh, haben Sie am Ende Angst vor dem Baron? Fürchten Sie, daß[56] für Ihren – Ihren Herrn Sohn von dieser Seite irgendwelche Unannehmlichkeiten – Was das anbelangt –« Und sie schloß lächelnd die Augen.

Beate schüttelte den Kopf. »An Gefahren von dieser Seite habe ich wirklich nicht gedacht.«

»Nun, man könnte immerhin auch daran denken. Ehemänner sind ja unberechenbar. Aber sehen Sie, Frau Heinold,« und sie schlug die Augen wieder auf, »wenn diese Erwägung wirklich nicht mitgespielt hat, dann wird es mir noch unbegreiflicher – ganz im Ernst. Wenn ich zum Beispiel einen Sohn hätte, im Alter Ihres Hugo –«

»Sie kennen seinen Namen?« fragte Beate streng.

Fortunata lächelte. »Sie haben ihn mir doch selbst genannt. Neulich, auf der Landungsbrücke.«

»Ganz recht. Verzeihen Sie, Frau Baronin.«

»Also, liebe Frau Heinold, ich wollte sagen: Wenn ich einen Sohn hätte, und er würde sich – zum Beispiel in eine Frau wie Sie verlieben, ich weiß nicht – ich glaube, ich könnte mir für einen jungen Menschen ein besseres Debüt gar nicht vorstellen.«

Beate rückte den Sessel, als wollte sie aufstehn.

»Wir sind doch hier Frauen unter uns«, meinte Fortunata beschwichtigend.

»Sie haben keinen Sohn, Frau Baronin ... und dann –« Sie hielt inne.

»Ach ja, Sie meinen, es wäre dann auch noch ein gewisser Unterschied. Mag sein. Aber dieser Unterschied würde die Angelegenheit – für meinen Sohn – nur bedenklicher machen. Denn Sie, Frau Heinold, würden so eine Sache ja wahrscheinlich ernst nehmen. Hingegen ich – ich! Ja wirklich, je mehr ich es mir überlege, Frau Heinold, es wäre klüger gewesen, wenn Sie mit der entgegengesetzten Bitte zu mir gekommen wären. Wenn Sie mir Ihren Sohn« – und sie lächelte mit halbgeschlossenen Augen – »sozusagen ans Herz gelegt hätten.«

»Frau Baronin!« Beate war fassungslos. Sie hätte schreien mögen.

Fortunata lehnte sich zurück, kreuzte die Arme unter dem Kopf und schloß die Augen völlig. »Solche Dinge kommen nämlich vor« ... Und sie begann zu erzählen. »Vor – leider recht vielen Jahren, irgendwo in der Provinz, da hatte ich eine Kollegin, die damals ungefähr so alt war, wie ich jetzt. Sie spielte das heroisch-sentimentale Fach. Zu der kam eines Tages die Gräfin ...[57] nun, der Name tut nichts zur Sache ... Also ihr Sohn, der junge Graf, hatte sich in ein Bürgermädel verliebt, aus guter, aber ziemlich armer Familie. Beamte oder so was. Und der junge Graf wollte das Mädel durchaus heiraten. Dabei war er noch nicht zwanzig. Und die Gräfin Mutter – wissen Sie, was die kluge Dame tat? Eines schönen Tages erscheint sie bei meiner Kollegin und redet mit ihr ... und bittet sie ... Na – kurz und gut, sie arrangiert das so, daß ihr Sohn in den Armen meiner Kollegin das Bürgermädel vergißt und –«

»Ich bitte, doch von solchen Anekdoten lieber abzusehen, Frau Baronin.«

»Es ist keine Anekdote. Es ist eine wahre Geschichte, und eine sehr moralische obendrein. Eine Mesalliance wurde verhindert, eine unglückliche Ehe, vielleicht gar ein Selbstmord oder ein Doppelselbstmord.«

»Mag sein«, sagte Beate. »Aber all das gehört doch gar nicht her. Ich bin jedenfalls anders als diese Gräfin. Und für mich ist der Gedanke ganz einfach unerträglich ... unerträglich –«

Fortunata lächelte und schwieg eine Weile, als wollte sie eine Beendigung des Satzes erzwingen. Dann sagte sie: »Ihr Sohn ist sechzehn ... oder siebzehn?«

»Siebzehn«, erwiderte Beate und ärgerte sich sofort, daß sie so gehorsam Auskunft erteilt hatte.

Fortunata schloß die Augen halb und schien sich irgendeiner Vision hinzugeben. Und sie sagte wie aus einem Traum: »Da werden Sie sich wohl an den Gedanken gewöhnen müssen. Bin ich's nicht, so ist es eine andere. – Und wer sagt Ihnen –« aus den plötzlich geöffneten Augen kam ein grünes Schillern – »daß es eine Bessere sein wird?«

»Wollen Sie, Frau Baronin,« erwiderte Beate mit mühseliger Überlegenheit, »diese Sorge getrost mir überlassen.«

Fortunata seufzte leise. Plötzlich schien sie ermüdet und sagte: »Nun, wozu länger darüber reden. Ich will Ihnen gern gefällig sein. Also, Ihr Herr Sohn hat nichts von mir zu fürchten – oder, wie man es vielleicht auch auffassen könnte, zu hoffen ... Wenn Sie nicht« – und nun waren ihre Augen groß, grau und klar, »überhaupt auf einer falschen Fährte sind, Frau Heinold. Denn ich, ganz aufrichtig, nun, mir ist es bisher nicht aufgefallen, daß ich auf Hugo« – sie ließ den Namen langsam auf der Zunge zergehen – »einen sonderlichen Eindruck gemacht hätte.« Und sie sah Beate unschuldsvoll ins Gesicht. Diese, dunkelrot geworden,[58] hatte die Lippen wortlos aneinander gepreßt. »Also, was soll ich tun?« fragte Fortunata schmerzlich. »Abreisen? Ich könnte ja meinem Gatten schreiben, daß mir die Luft hier nicht zusagt. Was glauben Sie, Frau Heinold?«

Beate zuckte die Achseln. »Wenn Sie nur wirklich wollen, ich meine, wenn Sie die Güte haben wollten ... sich um meinen Sohn nicht zu kümmern, ... es wird ja nicht so schwer sein, Frau Baronin, Ihr Wort würde mir genügen.«

»Mein Wort? Bedenken Sie nicht, Frau Heinold, daß in solchen Dingen Worte und Schwüre, oh, auch von andern Frauen, als ich eine bin, sehr wenig zu bedeuten haben?«

»Sie lieben ihn ja nicht«, rief Beate plötzlich ohne alle Zurückhaltung aus. »Es wäre eine Laune, weiter nichts. Und ich bin seine Mutter. Frau Baronin, Sie werden mich einen solchen Schritt nicht vergebens haben tun lassen.«

Fortunata stand auf, sah Beate lange an und streckte ihr die Hand entgegen. Sie schien sich mit einem Male überwunden zu geben. »Ihr Herr Sohn ist von dieser Stunde an für mich nicht mehr auf der Welt«, sagte sie ernst. »Verzeihen Sie, daß ich Sie so lange auf diese – selbstverständliche Antwort habe warten lassen.«

Beate nahm ihre Hand und empfand in diesem Augenblick Sympathie, ja, eine Art von Mitleid für die Baronin. Fast fühlte sie sich versucht, mit einem Wort der Entschuldigung Abschied von ihr zu nehmen. Aber sie unterdrückte diese Regung, vermied es sogar, etwas auszusprechen, das wie ein Dank hätte klingen können und sagte nur ziemlich hilflos: »Nun, dann ist ja die Sache in Ordnung, Frau Baronin.« Und stand auf.

»Sie wollen schon gehen?« fragte Fortunata in ganz gesellschaftlichem Ton.

»Ich habe Sie lange genug aufgehalten«, erwiderte Beate ebenso.

Fortunata lächelte, und Beate kam sich etwas dumm vor. Sie ließ es zu, daß die Baronin sie bis zur Gartentür begleitete, und reichte ihr hier nochmals die Hand. »Ich danke Ihnen für Ihren Besuch«, sagte Fortunata sehr liebenswürdig und fügte hinzu: »Wenn ich in der allernächsten Zeit nicht dazu kommen sollte, ihn zu erwidern, so werden Sie es mir hoffentlich nicht übelnehmen.«

»Oh«, sagte Beate und erwiderte noch von der Straße her das freundliche Kopfnicken der Baronin, die an der Gartentüre stehengeblieben war. Unwillkürlich ging Beate rascher als sonst und[59] hielt sich auf der ebenen Landstraße; sie konnte ja später auf den schmalen Waldpfad abbiegen, der steil und geraden Wegs zur Villa des Direktors führte. Wie steht's nun eigentlich, fragte sie sich erregt. Bin ich die Siegerin geblieben? Sie hat mir wohl ihr Wort gegeben. Ja. Aber sagte sie nicht selbst, daß Frauenschwüre nicht viel bedeuten? Nein, sie wird es nicht wagen. Sie hat ja nun gesehen, wozu ich fähig bin. Die Worte Fortunatens klangen in ihr weiter. Wie sonderbar sie nur von jenem Sommer in Holland gesprochen hatte! Wie von einem Ausruhen und Aufatmen nach einer wilden, süßen, aber wohl auch schweren Zeit. Und sie mußte sich Fortunata plötzlich vorstellen im weißen Leinenkleid über dem nackten Leib an einem Meeresstrand dahinlaufend, wie von bösen Geistern gehetzt. Es mochte nicht immer schön sein, solch ein Dasein, wie es Fortunata beschieden war. In gewissem Sinn war sie wohl, wie manche Frauen ihrer Art, innerlich zerstört, verrückt und kaum verantwortlich für das Unheil, das sie anrichtete. Nun, sie konnte ja tun, was sie wollte, nur Hugo sollte sie gefälligst in Frieden lassen. Mußte es denn gerade der sein? Und Beate lächelte, als ihr einfiel, daß man ja der Frau Baronin, als Ersatz gewissermaßen, einen eben angelangten hübschen jungen Herrn namens Fritz Weber hätte anbieten können, mit dem diese wohl auch ganz zufrieden gewesen wäre. Ja, den Antrag hätte sie ihr stellen sollen. Wahrlich, das hätte diesem kostbaren Gespräch die letzte Würze gegeben! Was es doch für Frauen gab! Was für ein Leben die führten! So daß sie von Zeit zu Zeit in holländischen Fischerdörfern sich erholen mußten. Für andere wieder war das ganze Leben solch ein holländisches Fischerdorf. Und Beate lächelte ohne rechte Heiterkeit.

Sie stand vor dem Parktor der Welponerschen Villa und trat ein. Vom Tennisplatz her, der sich ziemlich nah dem Eingang befand, durch das dünne Gesträuch, sah Beate weiße Gewänder schimmern, hörte die wohlbekannten Rufe und trat näher. Zwei Geschwisterpaare standen einander gegenüber: der Sohn und die Tochter des Hauses, neunzehn und achtzehn alt, beide dem Vater ähnlich, mit dunkeln Augen und starken Brauen, in Zügen und Gebärden die italienisch-jüdische Abstammung verratend; auf der andern Seite der Doktor Bertram und seine überschlanke Schwester Leonie, die Kinder eines berühmten Arztes, der hier im Ort seine Villa bewohnte. Beate blieb zuerst in einiger Entfernung stehen, freute sich an der kräftig-freien Bewegung der jungen Gestalten, dem scharfen Flug der Bälle und fühlte sich[60] wohlig angeweht von dem frischen Hauch eines zwecklos holden Kampfspieles. Nach wenigen Minuten endete der Gang. Die beiden Paare, die Rakette in der Hand, begegneten einander am Netz, plaudernd blieben sie da stehen; die Mienen, früher gespannt in der Erregung des Spiels, verschwammen in einer Art von leerem Lächeln, die Blicke, die eben noch spähend dem Schwung der Bälle gefolgt waren, tauchten weich ineinander; seltsam, fast schmerzlich berührt empfand Beate, wie es nun in der früher so reinen Atmosphäre gleichsam zu dunsten und zu wetterleuchten begann, und sie mußte denken: wie wohl dieser Abend endete, wenn mit einem Male durch irgendein Wunder alle Gebote der Sitte aus der Welt geschafft wären und diese jungen Leute ohne jedes Hindernis ihren geheimen, jetzt vielleicht von ihnen selbst nicht geahnten Trieben folgen dürften? Und plötzlich fiel ihr ein, daß es ja solche gesetzlose Welten gab; daß sie selbst eben aus einer solchen emporgestiegen kam und den Duft von ihr noch in den Haaren trug. Darum nur sah sie ja heute, was ihren harmlosen Augen sonst immer entgangen war. Darum nur –? Waren jene Welten ihr einstmals nicht geheimnisvoll vertraut gewesen? War sie nicht selbst einst die Geliebte von Gesegneten und Gezeichneten ... Spiegelklaren und Rätselvollen ... von Verbrechern und Helden ...?

Sie war bemerkt worden. Man grüßte sie händewinkend; sie trat näher an das Drahtgitter heran, die andern zu ihr, und ein flüchtiges Plaudern ging hin und her. Aber es war ihr, als sähen die beiden jungen Männer sie an, wie sie noch niemals sie angesehen. Insbesondere der junge Doktor Bertram hatte eine Art von überlegenem Spott um die Lippen, ließ seine Blicke an ihr auf und ab gleiten, wie er es noch nie getan oder wie sie es noch nie bemerkt hatte. Und als sie sich verabschiedete, um doch endlich nach der Villa hinaufzugehen, nahm er scherzend durch das Drahtgitter einen ihrer Finger und drückte einen Kuß darauf, der gar nicht enden wollte. Und er lächelte frech, als dunkle Falten des Unmuts auf ihrer Stirn erschienen.

Oben auf der gedeckten, etwas zu prächtigen Terrasse fand Beate die beiden Ehepaare Welponer und Arbesbacher beim Tarockspiel. Sie gab durchaus nicht zu, daß man sich stören ließe, drückte den Direktor, der sich anschickte, die Karten hinzulegen, auf seinen Stuhl nieder, dann nahm sie Platz zwischen ihm und seiner Frau. Sie wollte dem Spiele zusehen, wie sie sagte, aber sie tat es kaum und blickte bald über die steinerne[61] Balustrade weg zu den Bergrändern hinüber, auf denen die Sonne verglänzte. Ein Gefühl von Sicherheit und Dazugehören kam hier über sie, wie sie es bei den jungen Leuten draußen nicht empfunden hatte; – das sie beruhigte und zu gleicher Zeit traurig machte. Die Frau des Direktors bot ihr Tee an in jener etwas herablassenden Art, an die man sich immer erst gewöhnen mußte. Beate dankte; sie hätte eben erst getrunken. Eben erst? Wie viele Meilen weit lag doch das Haus mit der frechgezackten Fahne! Wie viele Stunden oder Tage lang war sie von dort bis hierher gegangen! Schatten sanken auf den Park, die Sonne von den Bergen schwand plötzlich, von der Straße unten, die hier nicht sichtbar war, drangen unbestimmte Geräusche. Beate war es mit einemmal so einsam zumute, wie es ihr in solchen Dämmerstunden auf dem Land nur sehr bald nach Ferdinands Tod und nachher nie wieder gewesen war. Auch Hugo war ihr mit einem Male ins Wesenlose entschwunden und wie unerreichbar fern. Eine wahrhaft quälende Sehnsucht nach ihm erfaßte sie, und hastig empfahl sie sich von der Gesellschaft. Der Direktor ließ es sich nicht nehmen, sie zu begleiten. Er ging mit ihr die breite Freitreppe hinab, dann wieder den Teich entlang, in dessen Mitte der Springbrunnen schlief, dann am Tennisplatz vorüber, wo die Geschwisterpaare trotz des sinkenden Abends so eifrig weiterspielten, daß sie die Vorbeispazierenden nicht bemerkten. Der Direktor warf einen trüben Blick nach jener Seite, den Beate nicht zum erstenmal an ihm gewahrte. Aber ihr war, als verstünde sie auch den heute zum erstenmal. Sie wußte, daß der Direktor mitten in seiner angestrengten und erfolgreichen Tätigkeit eines kühnen Finanzmannes von der Melancholie des Alterns angerührt war. Und während er an ihrer Seite schritt, die hohe Gestalt nur wie aus Affektation ein wenig vorgebeugt, und ein leichtes Gespräch mit ihr führte, über das wunderbare Sommerwetter und über allerlei Ausflüge, die man eigentlich unternehmen sollte und zu denen man sich doch nie entschloß, spürte Beate immer wieder, daß es sich zwischen ihm und ihr, gleich unsichtbaren Herbstfäden, hin und her spann; und in den Handkuß beim Abschied am Parktor legte er eine ritterliche Schwermut, deren Nachempfindung sie auf dem ganzen Heimweg begleitete.

Schon an der Türe teilte ihr das Dienstmädchen mit, daß Hugo und ein anderer junger Herr sich im Garten befänden, und ferner, daß die Post ein Paket gebracht hätte. Beate fand es in ihrem Zimmer liegen und lächelte befriedigt. Meinte das Schicksal es[62] nicht gut mit ihr, daß es aus ihrer überflüssigen kleinen Lüge unversehens eine Wahrheit gemacht hatte? Oder sollte das vielleicht nur warnend bedeuten: Diesmal geht's dir noch hin? Das Paket kam von Doktor Teichmann. Es enthielt Bücher, deren Zusendung er ihr versprochen hatte: Memoiren und Briefe großer Staatsmänner und Feldherren, von Persönlichkeiten also, denen der kleine Advokat, wie Beate bekannt war, die höchste Bewunderung entgegenbrachte. Beate ließ sich vorläufig an der Betrachtung der Titelblätter genügen, legte in ihrem Schlafzimmer den Hut ab, nahm einen Schal um die Schultern und begab sich in den Garten. Unten am Zaun erblickte sie die Buben, die, ohne sie zu bemerken, ununterbrochen wie toll in die Höhe sprangen. Als Beate nähertrat, sah sie, daß beide die Röcke abgelegt hatten. Nun lief Hugo ihr entgegen und küßte sie, nach Wochen zum erstenmal, kindlich stürmisch auf beide Wangen. Fritz schlüpfte eilig in seinen Rock, verbeugte sich und küßte Beate die Hand. Sie lächelte. Es war ihr, wie wenn er jenen andern melancholischen Kuß durch die Berührung seiner jungen Lippen weghauchen wollte.

»Ja, was treibt ihr denn da?« fragte Beate.

»Kampf um die Weltmeisterschaft im Hochsprung«, erklärte Fritz.

Die hohen Ähren jenseits des Zauns bewegten sich im Abendwind. Unten lag der See mattgrau und erloschen. »Du könntest dir auch den Rock anziehen, Hugo«, sagte Beate und strich ihm zärtlich das feuchte Blondhaar aus der Stirn. Hugo gehorchte. Beate fiel es auf, daß ihr Bub gegenüber seinem Freunde etwas unelegant und knabenhaft aussah, aber es berührte sie zugleich angenehm.

»Also denk' dir, Mutter«, sagte Hugo, »der Fritz will mit dem Halb-neun-Uhr-Zug wieder nach Ischl zurück.«

»Warum denn?«

»Kein Zimmer zu kriegen, gnädige Frau. Erst in zwei, drei Tagen wird vielleicht eins frei.«

»Deswegen werden Sie doch nicht zurückfahren, Herr Fritz? Wir haben ja Platz für Sie.«

»Ich hab' ihm schon gesagt, Mutter, daß du gewiß nichts dagegen haben wirst.«

»Aber was sollte ich denn dagegen haben. Selbstverständlich übernachten Sie oben im Fremdenzimmer. Wozu haben wir's denn?«[63]

»Gnädige Frau, ich möchte um keinen Preis Ungelegenheiten machen. Ich weiß, wie meine Mama immer außer sich ist, wenn wir in Ischl Logierbesuch kriegen.«

»Also bei uns ist das anders, Herr Fritz.«

Und man einigte sich, daß das Gepäck des jungen Herrn Weber aus dem Posthof, wo es vorläufig in Verwahrung lag, heraufgeschafft und daß er bis auf weiteres in der Mansarde wohnen sollte, wogegen Beate sich feierlich verpflichtete, ihn einfach »Fritz« ohne »Herr« zu nennen.

Beate gab im Hause die nötigen Anordnungen, hielt es für passend, die jungen Leute für einige Zeit sich selbst zu überlassen und erschien erst wieder beim Abendessen in der Glasveranda. Zum erstenmal seit vielen Tagen zeigte sich Hugo von unbefangener Lustigkeit; und auch Fritz hatte es aufgegeben, den erwachsenen jungen Herrn zu spielen. Zwei Schulbuben saßen am Tisch, die gewohntermaßen damit anfingen, ihre Professoren durchzuhecheln, um sich dann sachlich über die Aussichten des nächsten letzten Gymnasialjahres und endlich über fernere Zukunftspläne zu unterhalten. Fritz Weber, der Mediziner werden wollte, hatte, wie er erzählte, schon im verflossenen Winter einmal den Seziersaal besucht und ließ durchblicken, daß andere Gymnasiasten so gewaltigen Eindrücken kaum gewachsen sein dürften. Hugo seinerseits war seit lange entschlossen, sich der Altertumsforschung zu widmen. Er besaß eine kleine Sammlung von Antiquitäten: eine pompejanische Lampe, ein Stückchen Mosaik aus den Thermen des Caracalla, ein Pistolenschloß aus der Franzosenzeit und dergleichen mehr. Demnächst gedachte er übrigens hier am See Grabungen anzustellen, und zwar drüben im Auwinkel, wo Reste von Pfahlbauten entdeckt worden wären. Fritz verhehlte nicht seine Zweifel hinsichtlich der Echtheit von Hugos Museumsstücken. Insbesondere jenes Pistolenschloß, das Hugo persönlich auf der Türkenschanze gefunden hatte, war ihm immer verdächtig gewesen. Beate meinte, für solchen Skeptizismus sei Fritz doch noch zu jung, worauf dieser erwiderte, das haben nichts mit dem Alter zu tun, das sei Anlage. Mein Hugo, dachte Beate, ist mir lieber als dieser frühreife Bengel. Freilich, er wird es schwerer haben. Sie sah ihn an. Seine Augen blickten in irgendeine Ferne, wohin Fritz ihm gewiß nicht folgen konnte. Beate dachte weiter: Er hat natürlich keine Ahnung, was diese Fortunata für eine Person ist. Wer weiß, was er sich einbildet. Sie ist für ihn vielleicht eine Art Märchenprinzessin, die ein böser[64] Zauberer gefangen hält. Wie er nur dasitzt mit seinem zerstrubelten blonden Haar und der unordentlichen Krawatte. Und es ist auch noch immer sein Kindermund, der volle rote, süße Kindermund! Freilich, den hatte sein Vater auch. Immer diesen Kindermund und diese Kinderaugen. Und sie sah ins Dunkel hinaus, das über der Wiese hing, so schwer und schwarz, als sei der Wald selbst bis vors Fenster gerückt.

»Ist es erlaubt, zu rauchen?« fragte Fritz. Beate nickte, worauf Fritz eine silberne Zigarettentasche mit goldenem Monogramm zum Vorschein brachte und sie anmutig der Hausfrau darbot. Beate nahm eine Zigarette, ließ sich Feuer geben und erfuhr, daß Fritz seinen Tabak direkt aus Alexandrien beziehe. Auch Hugo rauchte heute. Es war, so gestand er, genau die siebente Zigarette seines Lebens. Fritz vermochte die seinen längst nicht mehr zu zählen. Übrigens hatte er die Dose von seinem Vater geschenkt erhalten, der glücklicherweise vorgeschrittene Ansichten hegte, und er berichtete gleich das Neueste: seine Schwester würde Matura ablegen in drei Jahren und wahrscheinlich Medizin studieren, geradeso wie er selber. Beate warf einen raschen Blick auf Hugo, der leicht errötete. War es am Ende noch die Liebe zur kleinen Elise, die er im Herzen trug –, und die an dem schmerzlich gespannten Zug um seine Lippen schuld hatte? »Könnte man nicht noch ein bißchen rudern?« fragte Fritz. »Es ist eine so schöne Nacht, und so warm.«

»Warten Sie lieber auf Mondschein«, meinte Beate. »Es ist gar zu unheimlich, in solchen schwarzen Nächten da draußen herumzufahren.«

»Das find' ich auch«, sagte Hugo. Fritz zuckte verächtlich die Nasenflügel. Dann aber einigten sich die Buben dahin, daß sie zur Feier des Tags auf der Terrasse des Seehotels Eis essen wollten.

»Ihr Lumpen«, sagte Beate mit einem matten Abschiedsscherz, als sie gingen.

Dann sah sie oben in der Mansarde nach, ob alles in Ordnung wäre, und wirtschaftete ihrer Gewohnheit nach noch ein wenig im Hause herum. Endlich begab sie sich in ihr Schlafzimmer, kleidete sich aus und legte sich zu Bett. Bald hörte sie draußen Gepolter und eine Männerstimme; offenbar hatte der Lohndiener Fritzens Koffer gebracht, der nun über die Holztreppe hinaufgeschafft wurde. Dann folgte noch ein Getuschel zwischen dem Stubenmädchen und dem Lohndiener, das länger dauerte, als[65] dringend notwendig war; endlich wurde es still. Beate nahm sich eines der heroischen Bücher aus der Teichmannschen Sendung und begann die Denkwürdigkeiten eines französischen Reitergenerals zu lesen. Aber sie war nicht recht bei der Sache, unruhig und müde zugleich. Es schien ihr, als wenn gerade die tiefe Stille ringsum sie nicht schlafen ließe. Nach geraumer Zeit hörte sie die Haustür gehen, gleich darauf leise Schritte, Flüstern, Lachen. Das waren die Buben! Über die Treppe versuchten sie möglichst geräuschlos hinaufzugelangen. Dann kam von oben ein Rücken, ein Knarren, ein Raunen; – dann wieder gedämpfte Schritte die Treppe hinab. Das war Hugo, der sich in sein Zimmer zur Ruhe begab. Und nun war alles im Hause verstummt. Beate legte das Buch zur Seite, drehte das Licht aus und schlief beruhigt, ja in einer fast beglückten Stimmung ein.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 42-66.
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