[215] Im Ballanzug sitze ich vor meinem Schreibtisch. Ich muß doch noch in den alten Blättern herumstöbern, bevor ich zu Weißenbergs gehe, wo ich sie wiedersehen soll. Wie viele Blätter liegen nun schon da, und die ersten fangen an gelb zu werden, vergilbt, würde ich sagen, wenn ich ein Romantiker wäre. Wie wenig man doch die Bedeutung der einzelnen Dinge abschätzen kann zur Zeit, da man sie erlebt und aufnotiert. Da finde ich Abenteuer in breiten Sätzen und großen Worten verzeichnet, an welche ich mich kaum mehr erinnern kann. Als wären es Geschichten von fremden Menschen. Und dann wieder Andeutungen, kurze Bemerkungen, die niemand anderer verstehen könnte als ich, der sie selbst niedergeschrieben – und aus einer kleinen Bemerkung blüht mir wieder die ganze Zeit mit ihrem Duft entgegen, und alle Einzelheiten werden jung und lebendig. Ich habe um acht Jahre zurückgeblättert, denn gerade auf jene Winterabende kam es mir an. Nur ein paar Mal steht der Name Fritzi in den alten Blättern. Einmal ganz einfach »Fritzi«. Und ein zweites Mal »Fritzi reizendes Grisettenköpferl, klagende und lachende Augen«. Und selbst jener Dezemberabend, an welchem ich sie zum letzten Mal sah, weil ich tags darauf die Stadt verlassen mußte, ist mit zwei Zeilen abgetan: »Fritzi ... Abschied ... der rote Schein am Himmel ... jagende Leute ... wie sie davonflog ...« Und wie ist das alles in mir wach und klar, obwohl ich doch eigentlich alle die Jahre über recht wenig an sie gedacht habe. Es mag ja auch sein, daß ich damals vor acht Jahren die Verpflichtung gefühlt hätte, mehr über sie in diese Blätter einzuschreiben, wenn mir nur eine Ahnung gekommen wäre, daß in dieser kleinen Konservatoristin eine große Künstlerin steckt, die heute dem ganzen Wiener Publikum den Kopf verdreht. Wie solche Geschichten manchmal zu Ende gehen oder eigentlich abreißen! Und wo man nur diese Erinnerungen bewahrt, um die man sich jahrelang nicht kümmert und die man dann nach geraumer Zeit so blank, so licht, so unverändert wiederfindet, als hätte sie der Hauch täglichen Gedenkens frisch erhalten. Nun[215] träum' ich das ganze Erlebnis von der Sekunde seines Beginnens wieder vor mich hin, bis zu jenem letzten Abend, der so merkwürdig endete. Es ist mir, als sähe ich auch die ganze glutrote Beleuchtung wieder, unter der die Stadt stand. Es muß wohl elf Uhr gewesen sein, als wir aus dem Haustor traten. Die Nacht war kalt. Fritzi schmiegte sich an mich, frierend und zärtlich. Kaum waren wir aus der engen Gasse, in der ich wohnte, in die Währingerstraße gekommen, so merkten wir, daß etwas Ungewöhnliches vorgehen müsse. Es waren mehr Menschen auf der Straße als gewöhnlich, die rasch immer in einer Richtung gegen den Ring sich bewegten. Und nun sahen wir den glutroten Schein am Himmel. Die Leute riefen: Es brennt, es brennt! »Komm schnell«, sagte Fritzi. Und wieder rannten Leute an uns vorbei, und sie schrien: Das Ringtheater brennt. »Wie?« fragte Fritzi. Und wieder andere rannten an uns vorbei und sagten: Das Ringtheater brennt! Plötzlich schrie Fritzi auf wie eine Wahnsinnige. Sie ließ meinen Arm los und blieb einen Moment stehen, dann schaute sie zum Himmel auf, der immer dunkelroter wurde. Sie fuhr zusammen, als würde ihr etwas Entsetzliches klar, und dann stürzte sie fort, ohne sich nur nach mir umzuwenden. Ich versuchte sie einzuholen, aber ich hatte sie sofort in der Menschenmenge, die immer beträchtlicher anwuchs, verloren. Ich muß gestehen, daß mich das im ganzen und großen wenig aufregte, ich weiß sogar noch, daß ich, nachdem ich ein paar Mal »Fritzi, Fritzi« gerufen, ganz ruhig vor mich hin sagte: hysterische Person. Dann kam mir auch der tröstliche Gedanke, daß durch dieses plötzliche Davonstürmen etwas sehr Peinliches und Rührendes vermieden worden war, nämlich der Abschied in der Nähe ihrer Wohnung, der vielleicht einer auf ewig sein sollte. Ich ging damals noch die halbe Nacht spazieren; eine Weile stand ich auch vor dem brennenden Theater. Am Morgen darauf reiste ich ab. An Fritzi habe ich ein paar Zeilen von München aus gesandt, ich erhielt aber keine Antwort. Und das sind nun acht Jahre. Unterdessen ist die kleine Fritzi eine große Sängerin geworden, und in einer halben Stunde werd' ich sie wiedersehen. – – –
Später: Ja, ich habe Fritzi wieder gesehen und wieder gehört und wieder gesprochen. Sie stand im Gespräch mit zwei Herren vor dem großen Wandspiegel des Salons, als ich eintrat. Sie erkannte mich gleich, als ich sie begrüßte, und streckte mir freundlich und harmlos die Hand entgegen. Nur in ihrem Lächeln lag es wie eine Erinnerung. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, meinte[216] sie. Ich hatte das Gefühl meiner Wichtigkeit sofort verloren, aber ich fühlte mich ganz wohl dabei. Ich forderte Fritzi auf, beim Souper meine Nachbarin zu sein. »Schade, daß Sie nicht früher gekommen sind«, erwiderte sie, »man hat sich so um mich gerissen, daß ich Ihnen höchstens schief vis-à-vis sitzen kann. Meine rechte Seite, meine linke Seite und sogar mein gerades vis-à-vis habe ich schon vergeben.«
So kam es also, daß ich ihr schief vis-à-vis saß. Um zu ihr hinüberzuschauen, mußten sich meine Augen um einen großen Aufsatz mit Trauben, Nüssen und Pfirsichen sozusagen herumschlängeln. Ich hatte übrigens eine sehr gescheite Nachbarin, mit der ich bald in ein vergnügtes Plaudern kam. Es war die Flegendorfer. Und so geschah es, daß mir bereits beim Braten die unsägliche Lächerlichkeit sämtlicher Anwesenden außer mir und Frau Flegendorfer über jeden Zweifel klar war. Es war sehr amüsant. Das Stimmengewirr um den reichbesetzten Tisch mit seinen trefflichen Weinen wurde immer lauter und lebhafter, und bald war die Creme- und Champagnerstimmung da. Da ereignete sich etwas Sonderbares. Aus all den Leuten heraus, als begänne sie jetzt erst zu sprechen, hörte ich plötzlich die Stimme Fritzis, und zwei Worte klangen an mein Ohr: »die Flammen ...«
Offenbar hatte sie diese Worte auch lauter gesprochen als die andern, denn die nächsten verklangen wieder im Lärm. Aber schon nach ein paar Sekunden konnte ich ihre Stimme wieder so deutlich vernehmen, daß ich Silbe für Silbe verstand. Und nun merkte ich auch, daß es Fritzi war, welche das Gespräch beherrschte. Sie hatte die allgemeine Aufmerksamkeit erzwungen, alle hörten ihr zu. Und zu ihr wandten sich alle Blicke. Ich kam allerdings erst im Laufe einiger Sekunden zu dieser Betrachtung, denn im Anfang war ich in einer Weise frappiert ...
»Die Flammen schlugen in den Zuschauerraum«, sagte sie. »Ich hatte eigentlich im ersten Augenblicke durchaus nicht die Empfindung einer fürchterlichen Gefahr, sondern, daran erinnere ich mich noch ganz genau, ich sagte zu mir selbst: Wie groß, wie herrlich schön.«
»Wovon erzählt sie denn da?« fragte ich leise die Flegendorfer.
»Nun«, erwiderte diese, »es ist ihre bekannte Geschichte, auf die sie reist. Sie kann in keine Gesellschaft gehen, wo sie sie nicht zum besten gibt. Sie macht es übrigens famos, hören Sie nur.«
Ich hörte, es war wirklich erschütternd:
»Mir war es«, sagte sie, »als wären diese Flammen nichts[217] Feindseliges, nichts was mich bedrohte. Ich starrte hinein mit Interesse, vielleicht mit Begeisterung, gewiß nicht mit Furcht. Da plötzlich fühlte ich mich gestoßen, nein, nicht gestoßen, gehoben, und um mich herum war ein schauerlicher, ungeheurer Lärm, als stürzte alles zusammen; und es heulte wie ein Sturm durch den Raum, und vor die rote Glut legte sich grauer, dunkler Rauch. Plötzlich kam ein gewaltiger Ruck nach einer bestimmten Richtung. Mit einem Mal war es dunkel, und ich konnte mich nicht rühren. Um mich herum wurde geflucht und gejammert. Ja, auch ich schrie mit einem Male auf, ich weiß, daß ich ein paar Sekunden lang schrie und dabei kaum begriff, warum. Und plötzlich spürte ich an meinem Halse Nägel, Krallen. Irgendwer klammerte sich an mich. Es wurde an meinem Halskragen gerissen, meine Taille wurde mir einfach vom Leibe gezerrt.«
»Dazu«, flüsterte mir Frau Flegendorfer zu, »hat damals noch das Ringtheater abbrennen müssen.«
»Pst«, machte ich, denn ich war gespannt, atemlos gespannt.
Fritzi erzählte weiter. Sie erzählte, wie sie in einer ganz rätselhaften Weise gestoßen, geschoben, gehoben, über dunkle Gänge, über dunkle Stiegen ins Freie auf die Straße gekommen war.
»Ich war wie gebannt«, sagte sie, »konnte nicht fort. Ich hatte die Empfindung: Hier mußt du stehenbleiben, bis alles vorbei ist. Ich war ruhiger als alle Menschen, die da herumstanden, und daß ich selbst da drinnen in dem brennenden Hause gewesen sein sollte, das war mir wie ein dumpfer Traum. Plötzlich aber fuhr es mir durch den Kopf, was mir unbegreiflicherweise noch keine Sekunde lang zum Bewußtsein gekommen war: Um Gottes willen, meine Mutter! Ich hatte ihr ja gesagt, daß ich ins Ringtheater gehen wolle, wie ich ja zu jener Zeit als blutige Anfängerin fast jeden Abend ins Theater ging. Es war schon damals meine Leidenschaft.«
Bei dieser Stelle ihres Berichtes wurde ich verlegen. Wir sind doch besser, wir Männer!
Fritzi erzählte weiter. »Ich ging, ich lief, nein, ich stürzte nach Hause. Und nun denken Sie! Als ich nach Hause kam, war es bereits elf Uhr, mehr als drei Stunden war ich vor dem Theater gestanden, ohne nur ein Bewußtsein davon zu haben, daß die Zeit verging. So stelle ich mir eigentlich den Wahnsinn vor. Das Wiedersehen mit meiner Mutter kann ich Ihnen kaum schildern. Ich weiß nur eines, der Augenblick, da wir uns wieder in den Armen lagen, wird mir unvergeßlich bleiben, unvergeßlich!«[218]
Man war gerührt, als Fritzi geendet hatte. Einige Herren standen auf, traten mit den gefüllten Gläsern auf sie zu und stießen mit ihr an. Jetzt trafen sich unsere Blicke. Einen Moment lang starrte sie mich ganz gedankenlos an, dann aber glitt ein ganz sonderbares Lächeln über ihre Züge – ach, ein Lächeln, das ich noch so gut kannte. Sie nahm ihr Glas und ließ es mit dem meinen zusammenklingen.
»Auf Ihre wunderbare Rettung«, rief ich aus und leerte mein Glas. Gleich nach dem Souper trat sie auf mich zu und reichte mir beide Hände, als wollte sie mich um Entschuldigung bitten. »Es scheint also wirklich«, sagte sie, »daß Sie es waren.«
»Es scheint so?« entgegnete ich ein wenig befremdet.
»Nun«, sagte sie, »ich habe es immer geahnt, daß sich die Geschichte nicht genau so zugetragen hat, wie ich sie erzähle, aber ich habe schon angefangen an sie zu glauben – und wären Sie mir um ein paar Jahre später wieder begegnet, so hätten Sie mich kaum mehr überzeugen können; denn mir ist heute, als hätte ich sie wirklich erlebt. Ich habe die Geschichte so oft erzählen müssen, den Verwandten und dann den Kollegen, den Kolleginnen und allen möglichen Leuten, daß sie schon beinahe wahr, jedenfalls aber berühmt geworden ist.«
»Da sehen Sie, Fritzi«, sagte ich, »ein wie ungerechtes Ding der Ruhm eigentlich ist. Der ihn am meisten verdient, an dem geht er vorüber.«
»Wieso?« fragte sie.
»Nun, ich denke doch«, erwiderte ich ihr, »wenn ihn einer verdient, so bin ich's, Fritzi« – und ich neigte mich näher zu ihr, ganz nah zu ihrem Ohr –, »ich, Fritzi, dein Lebensretter.«
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