Neuntes Kapitel

[903] Der alte Doktor Stauber und sein Sohn saßen beim schwarzen Kaffee. Der Alte hielt ein Zeitungsblatt in der Hand und schien darin etwas zu suchen. »Der Termin für den Prozeß«, sagte er, »ist noch nicht festgesetzt.«

»So«, erwiderte Berthold, »Leo Golowski glaubt, daß er Mitte November, also in etwa drei Wochen stattfinden wird. Therese hat ihren Bruder nämlich vor ein paar Tagen in der Haft besucht. Er soll vollkommen ruhig sein, geradezu gut aufgelegt.«

»Nun wer weiß, vielleicht wird er freigesprochen«, sagte der Alte.

»Das ist recht unwahrscheinlich, Vater. Er muß eher froh sein, daß er nicht wegen gemeinen Mords unter Anklage gestellt worden ist. Der Versuch dazu ist ja für alle Fälle gemacht worden.«

»Das kann man doch keinen ernsthaften Versuch nennen, Berthold. Du siehst, daß sich die Staatsanwaltschaft um die alberne Verleumdung, auf die du anspielst, gar nicht gekümmert hat.«

»Wenn sie es aber als Verleumdung erkannt hat«, entgegnete Berthold scharf, »so wäre sie verpflichtet gewesen, die Verleumder vor Gericht zu stellen. Im übrigen leben wir bekanntlich in einem Staat, wo ein Jude nicht davor sicher ist, wegen Ritualmords zum Tode verurteilt zu werden; warum sollten also die Behörden vor der offiziösen Annahme zurückscheuen, daß Juden sich bei Pistolenduellen gegen Christen vielleicht aus religiösen Gründen einen verbrecherischen Vorteil zu sichern wissen? Daß es der Behörde an dem guten Willen nicht gefehlt hat, auch diesmal der herrschenden Partei einen Dienst zu erweisen, das ist am besten daraus zu ersehen, daß die Untersuchungshaft nicht aufgehoben wurde, trotz der angebotenen hohen Kaution.«[903]

»Die Geschichte mit der Kaution glaub ich nicht«, sagte der alte Doktor. »Woher sollte Leo Golowski fünfzigtausend Gulden nehmen?«

»Es waren nicht fünfzig- sondern hunderttausend, und Leo Golowski weiß bis heute überhaupt nichts davon. Im Vertrauen kann ich dir sagen, Vater, daß Salomon Ehrenberg das Geld zur Verfügung gestellt hat.«

»So? Also da werd ich dir auch was im Vertrauen sagen, Berthold.«

»Nun?«

»Es ist möglich, daß es gar nicht zu dem Prozeß kommt. Golowskis Advokat hat ein Abolitionsgesuch eingebracht.«

Berthold lachte auf. »Deswegen! Und du glaubst, daß das nur die geringste Aussicht auf günstige Erledigung haben könnte, Vater? Ja, wenn Leo gefallen und der Oberleutnant am Leben geblieben wär ... dann vielleicht.«

Der Alte schüttelte ungeduldig den Kopf. »Du mußt um jeden Preis oppositionelle Reden halten, mein Sohn.«

»Verzeih, Vater«, sagte Berthold mit zuckenden Brauen, »es hat nicht jeder die beneidenswerte Gabe, von gewissen Erscheinungen im öffentlichen Leben, wenn sie ihn persönlich nicht angehen, einfach den Blick abzuwenden.«

»Ist das vielleicht meine Gewohnheit?« entgegnete der Alte heftig, und unter der hohen Stirn taten die halbgeschlossenen Augen sich fast erbittert auf. »Du, Berthold, viel eher als ich bist es, der den Blick verschließt, wo er nicht sehen will. Ich finde, du fängst an, dich in deine Ideen zu verbohren. Es wird krankhaft bei dir. Ich habe gehofft, der Aufenthalt in einer andern Stadt, in einem andern Land wird dich von gewissen beschränkten und kleinlichen Auffassungen kurieren. Aber es ist eher ärger geworden. Ich merk es ja. Daß einer losschlägt, wie es Leo Golowski getan, das kann ich noch verstehen, so wenig ich es billigen möchte. Aber immer dastehen, die geballte Faust in der Tasche, sozusagen, was hat das für einen Zweck? Besinn dich doch auf dich! Persönlichkeit und Leistung setzen sich am Ende immer durch. Was kann dir Arges passieren? Daß du um ein paar Jahre später die Professur kriegst als ein anderer. Das Unglück fänd ich nicht so groß. Deine Arbeiten wird man doch nicht totschweigen können, wenn sie was wert sind ...«

»Es kommt ja nicht allein auf mich an!« warf Berthold ein.

»Aber es handelt sich meist um derartige Interessen zweiten[904] Ranges. Und um wieder auf unser früheres Thema zu kommen, ob sich auch für den Oberleutnant, wenn er den Leo Golowski niedergeschossen, ein Ehrenberg oder Ehrenmann mit hunderttausend Gulden gefunden hätte, das ist sehr die Frage. So, und jetzt steht es dir frei, auch mich für einen Antisemiten zu halten, wenn's dir Spaß macht, obwohl ich jetzt direkt in die Rembrandtstraße zur alten Golowski fahre. Also grüß dich Gott, und werd endlich vernünftig.« Er reichte seinem Sohn die Hand. Der nahm sie, ohne eine Miene zu verziehen. Der Alte wandte sich zum Gehen. An der Tür sagte er: »Wir sehen uns wohl abends in der Gesellschaft der Ärzte?«

Berthold schüttelte den Kopf. »Nein Vater. Ich verbringe den heutigen Abend in einem minder gebildeten Lokal, in der silbernen Weintraube, wo eine Versammlung des sozialpolitischen Vereins stattfindet.«

»Bei der du nicht fehlen kannst?«

»Unmöglich.«

»Na, sag's mir lieber gleich aufrichtig. Du kandidierst für den Landtag?«

»Ich ... werde kandidiert.«

»So! Glaubst du dich denn jetzt fähig, den ... Unannehmlichkeiten die Stirn bieten zu können, vor denen du im vorigen Jahr die Flucht ergriffen hast?«

Berthold blickte durchs Fenster, in den Herbstregen hinaus. »Du weißt, Vater«, erwiderte er mit zuckenden Brauen, »daß ich damals nicht in der richtigen Verfassung gewesen bin. Jetzt fühl ich mich stark und gewappnet ... trotz deiner früheren Bemerkungen, die doch nicht durchwegs zutreffen. Und vor allem: ich weiß ganz genau, was ich will.«

Der Alte zuckte die Achseln. »Ich versteh's ja nicht recht, wie man eine positive Arbeit aufgeben kann ... Ja du wirst sie aufgeben müssen, denn zwei Herren kann man nicht dienen ... wie man so was hinwerfen kann, um ... um Reden zu halten vor Leuten, deren Beruf es sozusagen ist, vorgefaßte Meinungen zu haben hinwerfen, um Überzeugungen zu bekämpfen, an die meistens auch der nicht glaubt, der vorgibt, sie zu vertreten.«

Berthold schüttelte den Kopf. »Diesmal, ich versichre dich, Vater, lockt mich kein rednerischer oder dialektischer Ehrgeiz. Diesmal hab ich mir ein Gebiet abgesteckt, auf dem es mir hoffentlich möglich sein wird ebenso positive Arbeit zu leisten wie im Laboratorium. Ich habe nämlich die Absicht, mich, wenn es[905] irgend geht, um nichts anderes zu kümmern, als um Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege. Für diese Art der politischen Betätigung kann ich vielleicht sogar auf deinen Segen rechnen, Vater.«

»Auf meinen ... ja. Aber ob auf deinen eigenen ...?«

»Wie meinst du das?«

»Auf den Segen, den man etwa innere Berufung nennen könnte.«

»Du zweifelst sogar an der?« erwiderte Berthold betroffen.

Der Diener trat ein und brachte dem alten Doktor eine Visitenkarte. Der las sie. »Ich stehe gleich zur Verfügung.« Der Diener entfernte sich.

Berthold, ziemlich erregt, sprach weiter: »Ich darf wohl sagen, daß meine Vorbildung, meine Kenntnisse ...«

Der Vater, mit der Karte spielend, unterbrach ihn.

»Ich zweifle nicht an deinen Kenntnissen, deiner Energie, deinem Fleiß. Aber mir scheint, um auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege was besonders zu leisten, dazu gehört, außer diesen vortrefflichen Eigenschaften doch noch eine, von der du meiner Ansicht nach sehr wenig besitzest: Güte, lieber Berthold, Liebe zu den Menschen.«

Berthold schüttelte heftig den Kopf »Die Menschenliebe, die du meinst, Vater, halt ich für ganz überflüssig, eher für schädlich. Das Mitleid und was kann Liebe zu Leuten, die man nicht persönlich kennt, am Ende anderes sein führt notwendig zu Sentimentalität, zu Schwäche. Und gerade, wenn man ganzen Menschengruppen helfen will, muß man gelegentlich hart sein können gegen den einzelnen, ja muß imstande sein ihn zu opfern, wenn's das allgemeine Wohl verlangt. Du brauchst nur dran zu denken, Vater, daß die ehrlichste und konsequenteste Sozialhygiene direkt darauf ausgehen müßte, kranke Menschen zu vernichten, oder sie wenigstens von jedem Lebensgenuß auszuschließen. Und ich leugne gar nicht, daß ich in dieser Richtung allerlei Ideen habe, die auf den ersten Blick grausam erscheinen könnten. Aber Ideen, glaub ich, denen die Zukunft gehört. Du brauchst dich nicht zu fürchten, Vater, daß ich gleich damit beginnen werde, den Mord der Schädlichen und Überflüssigen zu predigen. Aber philosophisch geht mein Programm ungefähr darauf hinaus. Weißt du übrigens, mit wem ich neulich über dieses Thema ein sehr interessantes Gespräch gehabt habe?«

»Was für ein Thema meinst du?«

»Präzis ausgedrückt: ein Gespräch über das Recht, zu töten.[906] Mit Heinrich Bermann, dem Schriftsteller, dem Sohn des verstorbenen Abgeordneten.«

»Wo hast du denn Gelegenheit gehabt, ihn zu sehen?«

»Neulich in einer Versammlung. Therese Golowski hat ihn mitgebracht. Du kennst ihn doch auch, nicht wahr, Vater?«

»Ja«, erwiderte der Alte, »schon lang.« Und er fügte hinzu: »Heuer im Sommer hab ich ihn wieder gesprochen, bei Anna Rosner.«

Wieder zuckte es heftig um Bertholds Brauen. Dann sagte er wie höhnisch: »So was ähnliches hab ich mir gedacht. Bermann erwähnte nämlich, daß er dich vor einiger Zeit gesehen hätte, wollte sich aber nicht recht erinnern wo. Ich schloß daraus, es müßte sich um eine diskrete Angelegenheit handeln. Ja. So hat es also dem Herrn Baron beliebt, seine Freunde bei ihr einzuführen!«

»Dein Ton, lieber Berthold, läßt vermuten, daß gewisse Dinge bei dir doch nicht so gänzlich überwunden sind, als du früher angedeutet hast.«

Berthold zuckte die Achseln. »Ich habe nie geleugnet, daß mir der Baron Wergenthin antipathisch ist. Darum war mir ja diese ganze Geschichte von Anfang an so peinlich.«

»Darum?«

»Ja.«

»Und doch glaub ich, Berthold, würdest du der Sache anders gegenüberstehen, wenn du Anna Rosner irgend einmal als Witwe wiederfändest selbst im Fall, daß dir der verstorbene Gatte noch antipathischer gewesen wäre, als der Freiherr von Wergenthin.«

»Das ist möglich. Man könnte dann doch annehmen, daß sie geliebt oder wenigstens respektiert worden ist, nicht genommen und weggeworfen, sobald der Spaß zu Ende war. Das hat für mich etwas ... nun, ich will mich nicht näher ausdrücken.«

Der Alte sah seinen Sohn kopfschüttelnd an. »Es scheint wirklich, daß all die vorgeschrittenen Ansichten von euch jungen Leuten auf der Stelle hinfällig werden, sobald eure Leidenschaften und Eitelkeiten mit ins Spiel kommen.«

»In Hinsicht auf gewisse Fragen der Reinheit oder Reinlichkeit weiß ich mich keiner sogenannten vorgeschrittenen Ansicht schuldig, Vater. Und ich glaube, auch du wärst nicht sehr entzückt, wenn ich Lust verspürte, der Nachfolger eines mehr oder weniger verstorbenen Baron Wergenthin zu werden.«[907]

»Gewiß nicht, Berthold. Besonders ihretwegen, denn du würdest sie zu Tode quälen.«

»Sei unbesorgt«, erwiderte Berthold. »Anna schwebt in keinerlei Gefahr von meiner Seite. Es ist vorbei.«

»Das ist ein guter Grund. Aber zum Glück gibt es einen noch bessern. Der Baron Wergenthin ist weder tot noch durchgegangen ...«

»Auf das Wort kommt es wohl nicht an.«

»Er hat, wie dir bekannt ist, eine Stellung in Deutschland als Kapellmeister ...«

»Das hat sich gut getroffen. Er hat überhaupt viel Glück gehabt in der ganzen Sache. Nicht einmal für ein Kind sorgen zu müssen!«

»Du hast zwei Fehler, Berthold. Erstens bist du wirklich ein ungütiger Mensch, und zweitens läßt du einen nicht ausreden. Ich wollte nämlich sagen, daß es zwischen Anna und dem Baron Wergenthin durchaus nicht aus zu sein scheint. Erst vorgestern hat sie mir einen Gruß von ihm ausgerichtet.«

Berthold zuckte die Achseln, als wäre diese Angelegenheit für ihn erledigt. »Wie geht's denn dem alten Rosner?« fragte er dann.

»Diesmal kommt er wohl noch durch«, erwiderte der Alte. »Übrigens hoff ich, Berthold, du hast dir die nötige Objektivität bewahrt, um zu wissen, daß an seinen Anfällen nicht der Gram um die »ungeratene Tochter« schuld ist, sondern eine leider ziemlich weit vorgeschrittene Arteriosklerose.«

»Gibt Anna wieder ihre Lektionen?« fragte Berthold nach einigem Zögern.

»Ja«, erwiderte der Alte, »aber vielleicht nicht mehr lang.« Und er zeigte seinem Sohn die Visitenkarte, die er noch immer in der Hand hielt.

Berthold verzog die Mundwinkel. »Du denkst«, fragte er spöttisch, »er kommt her, um Hochzeit zu feiern, Vater?«

»Das werd ich gleich erfahren«, erwiderte der Alte. »Jedenfalls freu ich mich, ihn wiederzusehen denn ich versichre dich, daß er einer der sympathischsten jungen Menschen ist, die ich je kennen gelernt habe.«

»Merkwürdig«, sagte Berthold. »Ein Herzenbezwinger ohnegleichen. Auch Therese schwärmt für ihn. Und Heinrich Bermann neulich, es war fast komisch ... Nun ja, ein schöner, schlanker, blonder junger Mann; Freiherr, Germane, Christ welcher Jude könnte diesem Zauber widerstehen ... Adieu, Vater!«[908]

»Berthold!«

»Was denn?« Er biß sich auf die Lippen.

»Besinn dich auf dich! Wisse, wer du bist.«

»Ich ... weiß es.«

»Nein. Du weißt es nicht. Sonst könntest du nicht so oft vergessen, wer die andern sind.«

Wie fragend hob Berthold den Kopf.

»Du solltest einmal zu Rosners hingehen. Es ist deiner nicht würdig, daß du Anna deine Mißbilligung in so kindischer Weise zu erkennen gibst. Auf Wiedersehen ... Und gute Unterhaltung in der silbernen Weintraube.« Er reichte dem Sohn die Hand, dann begab er sich in sein Sprechzimmer. Er öffnete die Türe des Wartesalons und lud Georg von Wergenthin, der in einem Album blätterte, durch eine freundliche Neigung des Kopfes ein, bei ihm einzutreten.

»Vor allem Herr Doktor«, sagte Georg, nachdem er Platz genommen hatte, »muß ich mich bei Ihnen entschuldigen. Meine Abreise kam so plötzlich ... Leider hatte ich keine Gelegenheit mehr, mich bei Ihnen zu verabschieden, Ihnen persönlich zu danken, für Ihre große ...«

Doktor Stauber wehrte ab. »Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen«, sagte er dann. »Sie sind wohl auf Urlaub hier in Wien?«

»Natürlich«, erwiderte Georg. »Es ist ein Urlaub von nur drei Tagen. So dringend brauchen sie mich dort«, setzte er bescheiden lächelnd hinzu.

Doktor Stauber saß ihm gegenüber im Schreibtischsessel und betrachtete ihn freundlich. »Sie fühlen sich sehr zufrieden in Ihrer neuen Stellung, wie mir Anna sagt.«

»O ja. Schwierigkeiten gibt es natürlich überall, wenn man so plötzlich in neue Verhältnisse kommt. Aber im ganzen hat sich wirklich alles viel leichter gemacht, als ich erwartet hätte.«

»So hör' ich. Auch bei Hof sollen Sie sich ja schon sehr glücklich eingeführt haben.«

Georg lächelte. »Diesen Vorgang stellt sich Anna offenbar großartiger vor, als er war. Ich habe beim Erbprinzen einmal gespielt; und ein weibliches Mitglied des Theaters hat dort zwei Lieder von mir gesungen; das ist alles. Viel wesentlicher ist, daß ich Aussicht habe, noch in dieser Saison zum Kapellmeister ernannt zu werden.«

»Ich dachte, Sie wären es schon.«

»Nein, Herr Doktor, offiziell noch nicht. Ich hab zwar schon[909] ein paarmal dirigiert, in Vertretung, Freischütz und Undine; aber vorläufig bin ich nur Korrepetitor.«

Auf weitere Fragen des Arztes erzählte er noch einiges von seiner Wirksamkeit an der Detmolder Oper, dann stand er auf und empfahl sich.

»Vielleicht kann ich Sie eine Strecke in meinem Wagen mitnehmen«, sagte der Arzt, »ich fahre in die Rembrandtstraße, zu Golowskis.«

»Danke sehr, Herr Doktor, das liegt nicht in meiner Richtung. Ich habe übrigens vor, im Laufe des morgigen Tags Frau Golowski zu besuchen. Sie ist doch nicht krank?«

»Nein. Freilich, ganz spurlos sind die Aufregungen der letzten Wochen nicht an ihr vorübergegangen.«

Georg erwähnte, daß er gleich nach dem Duell ein paar Worte an sie und auch an Leo geschrieben hätte. »Wenn man denkt, daß es auch anders hätte ausfallen können ...«, setzte er hinzu.

Doktor Stauber sah vor sich hin. »Kinder haben ist ein Glück«, sagte er, »für das man in Raten bezahlt ... und man weiß bei keiner, ob der da droben schon zufrieden gestellt ist.«

An der Tür begann Georg etwas zögernd: »Ich wollte mich auch ... bei Ihnen erkundigen, Herr Doktor, wie es denn eigentlich mit Herrn Rosner steht ... Ich muß sagen, ich fand ihn besser aussehend, als ich nach Annas Briefen erwartet hatte.«

»Ich hoffe, daß er sich erholen wird«, erwiderte Stauber. »Aber immerhin muß man bedenken ... er ist ein alter Mann. Sogar älter, als er seinen Jahren nach sein müßte.«

»Aber um etwas Ernstes handelt es sich nicht?«

»Das Alter ist an sich eine ernste Angelegenheit«, entgegnete Doktor Stauber, »besonders wenn alles, was vorherging, Jugend und Mannheit, auch nicht sonderlich heiter waren.«

Georg hatte seine Augen im Zimmer umherschweifen lassen und rief plötzlich aus: »Da fällt mir ein, Herr Doktor, ich habe Ihnen noch immer nicht die Bücher zurückgeschickt, die Sie so gut waren, mir im Frühjahr zu leihen. Und jetzt stehen alle unsere Sachen leider beim Spediteur; die Bücher geradeso wie Silberzeug, Möbel, Bilder. Also ich muß Sie bitten, Herr Doktor, sich bis zum Frühjahr zu gedulden.«

»Wenn Sie keine ärgern Sorgen haben, lieber Baron ...«

Sie gingen zusammen die Treppe hinunter, und Doktor Stauber erkundigte sich nach Felician.

»Er ist in Athen«, erwiderte Georg, »ich hab erst zweimal[910] Nachrichten von ihm gehabt, noch nicht sehr ausführliche ... Wie sonderbar das ist, Herr Doktor, so als Fremder in eine Stadt zurückzukommen, in der man vor kurzem noch zu Hause war, und in einem Hotel zu wohnen, als ein Herr aus Detmold ...«

Doktor Stauber stieg in den Wagen ein. Georg bat, Frau Golowski vielmals zu grüßen.

»Ich werd's ausrichten. Und Ihnen, lieber Baron, wünsch ich weiter viel Glück. Auf Wiedersehen!«

Auf der Uhr der Stephanskirche war es fünf. Eine leere Stunde lag vor Georg. Er beschloß, in dem dünnen, lauen Herbstregen langsam in die Vorstadt hinauszubummeln, was auch eine Art Erholung bedeutete. Die Nacht im Kupee hatte er beinahe schlaflos verbracht, und schon zwei Stunden nach seiner Ankunft war er bei Rosners gewesen. Anna selbst hatte ihm die Tür geöffnet und ihn mit einem innigen Kuß empfangen, ihn aber gleich ins Zimmer geleitet, wo ihre Eltern ihn eher höflich als herzlich begrüßten. Die Mutter, befangen und leicht verletzt, wie immer, sprach nur wenig; der Vater, in der Divanecke sitzend, einen drapfarbenen Plaid über den Knien, fühlte sich verpflichtet, Erkundigungen nach den gesellschaftlichen und musikalischen Zuständen der kleinen Residenz einzuziehen, aus der Georg kam. Dann war er mit Anna eine Weile allein gewesen; in allzuhastiger Frag- und Antwortrede zuerst, später in matt verlegenen Zärtlichkeiten, beide wie betroffen, das Glück des Wiedersehens nicht so zu empfinden, wie die Sehnsucht es versprochen hatte. Sehr bald erschien eine Schülerin Annas; Georg empfahl sich, und im Vorzimmer vereinbarte er mit der Geliebten noch rasch ein Rendezvous für heute Abend; er wollte sie von Bittners abholen und dann mit ihr in die Oper zur Tristanvorstellung gehen, über deren Neuinszenierung zu berichten sein Intendant ihn gebeten hatte. Dann hatte er sein Mittagmahl eingenommen, an einem großen Fenster eines Ringstraßenrestaurants, Einkäufe und Bestellungen bei seinen Lieferanten gemacht, Heinrich aufgesucht, den er nicht zu Hause traf, und war endlich dem plötzlichen Einfall gefolgt, seine Dankvisite bei Doktor Stauber abzustatten.

Nun spazierte er langsam weiter, durch die Straßen, die ihm so wohlbekannt waren, und doch schon den Hauch der Fremde für ihn hatten; und er dachte an die Stadt, aus der er kam und in der er sich rascher heimisch werden fühlte, als er erwartet hatte. Graf Malnitz war ihm vom ersten Augenblick an mit viel Freundlichkeit entgegengekommen; er trug sich mit dem Plan, die Oper[911] in modernem Sinn zu reformieren und wollte sich für seine weitgehenden Absichten in Georg, wie es diesem schien, einen Mitarbeiter und Freund heranziehen. Denn der erste Kapellmeister war wohl ein tüchtiger Musiker, aber heute doch schon mehr Hofbeamter als Künstler. Als Fünfundzwanzigjähriger war er herberufen worden und saß nun seit dreißig Jahren in der kleinen Stadt, ein Familienvater mit sechs Kindern, angesehen, zufrieden und ohne Ehrgeiz. Bald nach seiner Ankunft, in einem Konzert, hatte Georg Lieder singen gehört, die vor langer Zeit den Ruf des jungen Kapellmeisters beinahe durch die ganze Welt getragen hatten; Georg vermochte diese heute längst verhallte Wirkung nicht zu begreifen, dennoch äußerte er sich dem Komponisten gegenüber mit großer Wärme, aus einer gewissen Sympathie für den alternden Mann, in dessen Augen der ferne Glanz einer reicheren und hoffnungsvolleren Vergangenheit zu leuchten schien. Georg fragte sich manchmal, ob der alte Kapellmeister überhaupt noch daran dachte, daß er einst als ein zu hohen Zielen Berufener gegolten hatte? Oder ob auch ihm, wie so manchem andern der Eingesessenen, die kleine Stadt als ein Mittelpunkt erschien, von dem die Strahlen der Wirksamkeit und des Ruhms weit in die Runde fielen? Sehnsucht nach größern und weitern Verhältnissen hatte Georg nur bei wenigen gefunden; manchmal schien es ihm, als behandelten sie vielmehr ihn mit einer Art von gutmütigem Mitleid, weil er aus einer Großstadt, und ganz besonders, weil er aus Wien kam. Denn wenn der Name dieser Stadt vor den Leuten erklang, merkte es Georg ihren vergnügten und etwas spöttischen Mienen an, daß, gesetzmäßig bei nahe wie die Obertöne auf den Grundton, sofort gewisse andre Worte mitzuschwingen begannen, auch ohne daß sie ausgesprochen wurden: Walzer ... Kaffeehaus ... süßes Mädel ... Backhendel ... Fiaker ... Parlamentsskandal. Georg ärgerte sich manchmal darüber und war sich im übrigen bewußt, das möglichste zu tun, um den Ruf seiner Landsleute in Detmold zu verbessern. Man hatte ihn berufen, weil der dritte Kapellmeister, ein noch junger Mensch, plötzlich gestorben war, und so mußte Georg schon am ersten Tag in dem kleinen Probesaal am Klavier sitzen und zum Gesang begleiten. Es ging vortrefflich; er freute sich seiner Begabung, die sicherer und stärker war, als er selbst vermutet hatte, und in der Erinnerung war ihm, als hätte auch Anna sein Talent ein wenig unterschätzt. Überdies war er mit seinen Kompositionen ernster beschäftigt als je. Er arbeitete an einer Ouvertüre, die aus[912] Motiven zu der Bermannschen Oper entstanden war, hatte eine Violinsonate begonnen; und das Quintett, das mythische, wie Else es einmal genannt hatte, war nahezu vollendet. Noch diesen Winter sollte es aufgeführt werden, in einer der Kammersoireen, die der Konzertmeister des Detmolder Orchesters leitete, ein begabter junger Mensch, der einzige, dem Georg sich bisher in dem neuen Aufenthaltsort persönlich etwas näher angeschlossen hatte und mit dem er im »Elefanten« zu speisen pflegte. Noch bewohnte Georg in diesem Gasthof ein schönes Zimmer, mit der Aussicht auf den großen, mit Linden bepflanzten Platz und verschob es von Tag zu Tag eine Wohnung zu mieten. Es war ja doch ungewiß, ob er im nächsten Jahr noch in Detmold sein würde, und überdies hatte er das Gefühl, als müßte es Anna verletzen, wenn er sich, wie zu längerem Aufenthalt, als Junggeselle häuslich einrichten wollte. Doch über Zukunftsmöglichkeiten aller Art hatte er in seinen Briefen an sie kein Wort geäußert, so wie sie wieder unterließ, ungeduldige oder zweifelnde Fragen an ihn zu richten. Sie teilten einander beinahe nur Tatsächliches mit: sie schrieb von ihrer allmählichen Wiederkehr ins alte Lebensgetriebe, er von all dem Neuen, in das er sich erst hineinfinden mußte. Aber obwohl es so gut wie nichts gab, das er ihr zu verschweigen hatte, so ging er doch über manches, das leicht zu Mißverständnissen Anlaß bieten konnte, mit absichtlicher Flüchtigkeit hinweg. Wie sollte man auch die seltsame Stimmung in Worte fassen, die in dem halbdunkeln Zuschauerraum webte, vormittags, bei den Proben, wenn der Geruch von Schminke, Parfüm, Kleidern, Gas, altem Holz und neuen Farben von der Bühne ins Parkett herunterkam; wenn Gestalten, die man nicht gleich erkannte, in Alltagstracht oder Kostüm zwischen den Reihen hin und her huschten, wenn irgend ein Atem einem in den Nacken wehte, der schwül war und duftete? Oder wie sollte man einen Blick schildern, der aus den Augen einer jungen Sängerin herniederglänzte, während man eben von den Tasten zu ihr aufschaute ...? Oder, wenn man diese junge Sängerin am hellichten Mittag über den Theaterplatz und die Königsstraße bis vor ihr Haustor begleitete und bei dieser Gelegenheit nicht nur über die Partie der Micaela sprach, die man soeben mit ihr studiert hatte, sondern auch über allerlei andre, wenn auch ziemlich harmlose Dinge; konnte man das einer Geliebten nach Wien berichten, ohne daß sie zwischen den Zeilen Verdächtiges gesucht hätte? Und auch wenn man betont hätte, daß Micaela verlobt sei, mit einem jungen Arzt aus[913] Berlin, der sie anbetete, wie sie ihn, so wäre es kaum besser geworden; denn das hätte ja ausgesehen, als fühlte man sich verpflichtet, abzulenken und zu beruhigen.

Wie sonderbar, dachte Georg, daß sie gerade heute Abend wirklich die Micaela singt, die ich mit ihr studiert habe, und daß ich hier denselben Weg spaziere, nach Mariahilf hinaus, den ich vor einem Jahr so oft und so gern gegangen bin. Und er dachte eines ganz bestimmten Abends, da er Anna von da draußen abgeholt hatte, mit ihr zusammen in stillen Straßen herumspaziert war, unter einem Haustor komische Photographien betrachtet hatte, und endlich auf den kühlen Steinfliesen einer alten Kirche gewandelt war, in leisem, wie ahnungsvollem Gespräch über eine unbekannte Zukunft ... Nun war alles ganz anders gekommen, als er es geträumt hatte. Anders ... Warum schien ihm das so? ... Was hatte er damals denn erwartet ...? War dies Jahr, das seither vergangen war, nicht wunderbar reich und schön gewesen, mit seinem Glück und mit seinen Schmerzen? Und liebte er Anna heute nicht besser und tiefer als je? Und in der neuen Stadt, hatte er sich nicht manchmal nach ihr gesehnt, so heiß, wie nach einer Frau, die ihm noch niemals gehört hatte? Das Wiedersehen von heute früh, in der übeln Stimmung einer grauen Stunde, mit seiner matt verlegenen Zärtlichkeit, das durfte ihn doch nicht irremachen ...

Er war zur Stelle. Als er zu den erleuchteten Fenstern aufsah, hinter denen Anna ihre Lektion erteilte, kam eine leichte Ergriffenheit über ihn. Und als sie in der nächsten Minute aus dem Tor trat, im einfachen, englischen Kleid, den grauen Filzhut auf dem reichen, dunkelblonden Haar, ein Buch in der Hand, ganz so wie vor einem Jahr, da durchströmte ihn mit einmal ein unerwartetes Gefühl von Glück. Sie sah ihn nicht gleich, da er im Schatten eines Hauses stand, spannte ihren Schirm auf und ging bis zur Ecke, wo er im vorigen Jahr zu warten gepflegt hatte. Er blickte ihr eine Weile nach und freute sich, wie vornehm und wie brav sie aussah. Dann folgte er ihr rasch, und nach ein paar Schritten hatte er sie eingeholt.

Sie hatte ihm gleich die Mitteilung zu machen, daß sie nicht mit ihm in die Oper gehen könnte; der Vater hätte sich nachmittags gar nicht wohl befunden.

Georg war sehr enttäuscht. »Willst du nicht wenigstens auf den ersten Akt mit mir hineingehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, so was tu ich nicht gern. Da[914] ist's schon besser, du schenkst den Sitz einem Bekannten. Hol dir doch Nürnberger oder Bermann ab.«

»Nein«, erwiderte er. »Wenn du nicht mitgehst, geh ich lieber allein. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut. Mir persönlich läge gar nicht so viel an der Vorstellung. Ich bliebe lieber mit dir zusammen ... meinetwegen sogar bei euch oben; aber ich muß hineingehen, ich habe ja Bericht zu erstatten.«

»Natürlich mußt du hineingehen«, bekräftigte Anna; und sie fügte hinzu: »Ich möchte dir auch nicht zumuten einen Abend bei uns oben zuzubringen, es ist wirklich nicht besonders heiter.«

Er hatte ihr den Schirm aus der Hand genommen, hielt ihn über sie, und sie hing sich in seinen Arm.

»Du Anna«, sagte er, »ich möchte dir einen Vorschlag machen.« Er wunderte sich, daß er nach einer Einleitung suchte, und begann zögernd: »Meine paar Tage in Wien sind naturgemäß so was Unruhiges, Zerrissenes und jetzt kommt noch diese gedrückte Stimmung bei euch oben dazu ... wir haben wirklich gar nichts voneinander, findest du nicht?«

Sie nickte, ohne ihn anzusehen.

»Also möchtest du mich nicht eine Strecke begleiten, Anna, wenn ich wieder abreise?«

Sie sah ihn in ihrer verschmitzten Art von der Seite an und antwortete nicht.

Er sprach weiter: »Ich kann mir nämlich ganz gut noch einen Urlaubstag herausschlagen, wenn ich ans Theater telegraphiere. Es wär doch wirklich wunderschön, wenn wir ein paar Stunden für uns allein hätten.«

Sie gab es zu, herzlich, aber ohne Begeisterung, und machte die Entscheidung vom Befinden ihres Vaters abhängig. Dann fragte sie ihn, wie er den Tag verbracht hätte. Er berichtete eingehend und fügte sein Programm für morgen hinzu. »Wir zwei werden uns also erst am Abend sehen können«, schloß er. »Ich komme zu euch hinauf, wenn's dir recht ist. Und da besprechen wir dann alles weitere.«

»Ja«, sagte Anna und blickte vor sich hin, auf die feuchte bräunlichgraue Straße.

Nochmals versuchte er sie zu überreden, die Oper mit ihm zu besuchen; aber es war vergeblich. Dann erkundigte er sich nach ihren Gesangsstunden und begann gleich darauf von seiner eigenen Tätigkeit zu sprechen, als müßte er sie überzeugen, daß es ihm am Ende nicht viel besser erginge als ihr. Und er wies auf[915] seine Briefe hin, in denen er ihr alles ausführlich geschrieben hätte.

»Was das anbelangt«, sagte sie plötzlich ganz hart ... und als er von ihrem Ton getroffen, unwillkürlich den Kopf zurückwarf: »Was steht denn schon in Briefen, wenn sie noch so ausführlich sind!«

Er wußte, woran sie dachte und was sie heute sowenig aussprach, als sie's jemals getan hatte, und etwas Schweres legte sich ihm aufs Herz. Ruhte nicht gerade in der Unerbittlichkeit dieses Schweigens alles, was sie verschwieg: Frage, Vorwurf und Zorn? Heute morgen schon hatte er es gefühlt, und jetzt fühlte er es wieder, daß in ihr irgend etwas ihm geradezu Feindseliges sich regte, gegen das sie selbst vergeblich anzukämpfen schien. Heute Morgen erst? ... War es nicht schon viel länger her? Immer vielleicht? Vom ersten Augenblick an, da sie einander gehört hatten und auch in den Zeiten ihres höchsten Glücks? War dies Feindselige nicht dagewesen, als sie bei Orgelklängen, hinter dunkeln Vorhängen ihre Brust an seine gedrängt, als sie in dem Hotelzimmer zu Rom ihn erwartet, mit geröteten Augen, während er beglückt von dem Monte Pincio aus die Sonne in der Campagna versinken gesehen und, einsam, die wundervollste Stunde der Reise zu genießen gewähnt hatte? War es nicht dagewesen, als er an einem heißen Morgen den Kiesweg hinangelaufen, ihr zu Füßen gesunken war und in ihrem Schoß geweint hatte, wie in einer Mutter Schoß; und als er an ihrem Bette gesessen war und in den abendlichen Garten hinausgeblickt hatte, während drin auf dem weißen Linnen ein totes Kind lag, das sie eine Stunde zuvor geboren, war es nicht wieder dagewesen, düsterer als je und kaum zu tragen, wenn man sich nicht längst damit abgefunden hätte, wie mit so mancher Unzulänglichkeit, so manchem Weh, das aus den Tiefen menschlicher Beziehungen emporstieg? Und jetzt, wie schmerzlich fühlte er's, während er Arm in Arm mit ihr, sorglich den Schirm über sie haltend, die feuchte Straße weiterspazierte, jetzt war es wieder da; drohend und vertraut. Noch klangen die Worte in seinem Ohr, die sie gesprochen hatte: Was steht denn in Briefen, wenn sie noch so ausführlich sind? ... Aber ernstere klangen für ihn mit: Was bedeutet am Ende auch der glühendste Kuß, in dem sich Leib und Seele zu vermischen scheinen? Was bedeutet es am Ende, daß wir monatelang durch fremde Länder miteinander gereist sind? Was bedeutet es, daß ich ein Kind von dir gehabt habe? Was bedeutet es, daß du dich über deinen Betrug in meinem Schoße ausgeweint[916] hast? Was bedeutet das alles, da du mich doch immer allein gelassen hast ... allein auch in dem Augenblick, da mein Leib den Keim des Wesens eintrank, das ich neun Monate in mir getragen, das dazu bestimmt war, als unser Kind bei fremden Leuten zu leben und das nicht auf Erden hat bleiben wollen.

Aber während all dies schwer in seine Seele sank, gab er ihr mit leichten Worten zu, daß sie wirklich nicht unrecht hätte, und daß Briefe und seien sie selbst zwanzig Seiten lang nicht sonderlich viel enthalten könnten; und während ein peinigendes Mitleid mit ihr in ihm aufquoll, sprach er linde die Hoffnung auf eine Zeit aus, in der sie auf Briefe beide nicht mehr angewiesen sein würden. Und dann fand er zärtlichere Worte, erzählte von seinen einsamen Spaziergängen in der Umgebung der fremden Stadt, wo er ihrer dächte; von den Stunden in dem gleichgültigen Hotelzimmer, mit dem Blick auf den lindenbepflanzten Platz und von seiner Sehnsucht nach ihr, die immer da war, ob er allein über seiner Arbeit saß, oder Sänger am Klavier begleitete oder mit neuen Bekannten plauderte. Aber als er mit ihr vor dem Haustor stand, ihre Hand in der seinen, und ihr mit einem heitern »Auf Wiedersehen« in die Augen blickte, sah er betroffen in ihnen eine müde, kaum mehr schmerzliche Enttäuschung verglimmen. Und er wußte: Alle die Worte, die er zu ihr gesprochen, nichts, weniger als nichts hatten sie ihr zu bedeuten gehabt, da das einzige, das kaum mehr erwartete und immer wieder ersehnte doch nicht gekommen war.

Eine Viertelstunde später saß Georg auf seinem Parkettsitz in der Oper, zuerst noch ein wenig verdrossen und matt; bald aber strömte die Freude des Genießens durch sein Blut. Und als Brangäne ihrer Herrin den Königsmantel um die Schultern warf, Kurwenal das Nahen des Königs meldete und das Schiffsvolk auf dem Verdeck im Glanz des aufleuchtenden Himmels dem Land entgegenjauchzte, da wußte Georg längst nichts mehr von einer übel verbrachten Nacht im Kupee, von langweiligen Bestellungsgängen, von einem recht gezwungenen Gespräch mit einem alten, jüdischen Doktor und von einem Spaziergang über feuchtes Pflaster, in dem das Licht der Laternen sich spiegelte, an der Seite einer jungen Dame, die brav, vornehm und etwas gedrückt aussah. Und als der Vorhang zum erstenmal gefallen war und das Licht den rotgoldenen Riesenraum durchflutete, fühlte er sich keineswegs in unangenehmer Weise ernüchtert, sondern es war ihm vielmehr, als tauchte er sein Haupt von einem Traum in den[917] andern; und eine Wirklichkeit, die von allerhand Bedenklichem und Kläglichem erfüllt war, floß irgendwo draußen machtlos vorbei. Niemals, so schien es ihm, hatte die Atmosphäre dieses Hauses ihn so sehr beglückt wie heute; nie war seiner Empfindung so offenbar gewesen, daß alle Menschen für die Dauer ihres Hierseins in geheimnisvoller Weise gegen allen Schmerz und allen Schmutz des Lebens gefeit waren. Er stand auf seinem Eckplatz vorn im Mittelgang, sah manchen wohlgefälligen Blick auf sich gerichtet und war sich bewußt, hübsch, elegant und sogar etwas ungewöhnlich auszusehen. Und war nebstbei auch das erfüllte ihn mit Befriedigung ein Mensch, der einen Beruf, eine Stellung hatte, und selbst hier, im Theater, mit Auftrag und Verantwortung gewissermaßen als Abgesandter einer deutschen Hofbühne saß. Er blickte mit dem Opernglas umher. Aus den hintern Parkettsitzen grüßte ihn Gleißner mit einem etwas zu vertraulichen Kopfnicken, und schien gleich nachher der neben ihm sitzenden jungen Dame die Personalien Georgs zu erläutern. Wer mochte sie sein? War es die Dirne, die der mit Seelen experimentierende Dichter zur Heiligen, oder war es die Heilige, die er zur Dirne machen wollte? Schwer zu entscheiden, dachte Georg. In der Mitte des Wegs mochten sie ja ungefähr gleich ausschauen. Georg fühlte die Linsen eines Opernglases auf seinem Scheitel brennen. Er sah auf. Else war es, die von einer Ersten-Stock-Loge auf ihn herabschaute. Frau Ehrenberg saß neben ihr, und zwischen ihnen beugte sich ein hochgewachsener junger Mann über die Brüstung, der kein anderer war, als James Wyner. Georg verbeugte sich und zwei Minuten später trat er in die Loge, freundlich, aber keineswegs mit Erstaunen begrüßt. Else in schwarz samtnem, ausgeschnittenem Kleid, eine schmale Perlenkette um den Hals, mit einer etwas fremden, aber interessanten Frisur streckte ihm die Hand entgegen. »Wieso sind Sie denn eigentlich da? Urlaub? Entlassung? Flucht?«

Georg erklärte es kurz und wohlgelaunt.

»Es war übrigens nett«, sagte Frau Ehrenberg, »daß Sie uns ein Wort aus Detmold geschrieben haben.«

»Das hätte er auch nicht tun sollen?« bemerkte Else, » da hätt man ja glauben können, daß er mit irgendwem nach Amerika durchgegangen ist.«

James stand mitten in der Loge, groß, hager, gemeißelten Antlitzes, das dunkle, glatte Haar seitlich gescheitelt. »Nun sagen Sie Georg, wie fühlen Sie in Detmold?«[918]

Else sah zu ihm auf, mit gesenkten Wimpern. Sie schien entzückt von seiner Art, das Deutsche noch immer so zu sprechen, als müßte er sich's aus dem Englischen übersetzen. Immerhin nützte sie es zu einem Witz aus und sagte: »Wie Georg in Detmold fühlt? Ich fürchte, James, deine Frage ist indiskret.« Dann wandte sie sich an Georg: »Wir sind nämlich verlobt.«

»Es sind noch keine Karten ausgeschickt«, fügte Frau Ehrenberg hinzu.

Georg brachte seine Glückwünsche dar.

»Frühstücken Sie doch morgen bei uns«, sagte Frau Ehrenberg. »Sie treffen nur ein paar Leute, die sich gewiß alle sehr freuen würden Sie wiederzusehen. Sissy, Frau Oberberger, Willy Eißler.«

Georg entschuldigte sich. Er könne sich für keine bestimmte Stunde binden, aber im Lauf des Nachmittags wenn irgend möglich wollte er sich gern einfinden.

»Nun ja«, sagte Else leise, ohne ihn anzusehen und hatte den einen Arm mit dem langen weißen Handschuh lässig auf der Brüstung liegen, »Mittag verbringen Sie wahrscheinlich im Familienkreise.«

Georg tat, als wenn er nichts gehört hätte, und lobte die heutige Vorstellung. James äußerte, daß er »Tristan« mehr liebe als alle andern Opern von Wagner, die »Meistersinger« mit inbegriffen.

Else bemerkte einfach: »Es ist ja wunderschön, aber eigentlich bin ich gegen Liebestränke und solche Geschichten.«

Georg erklärte, daß der Liebestrank hier als Symbol aufzufassen sei, worauf Else sich auch gegen Symbole eingenommen aussprach. Das erste Zeichen zum zweiten Akt war gegeben. Georg verabschiedete sich, eilte hinunter und hatte eben Zeit, seinen Platz einzunehmen, eh der Vorhang aufging. Er erinnerte sich wieder, in welch halboffizieller Eigenschaft er heute im Theater säße, und beschloß, sich den Eindrücken nicht länger ohne Widerstand hinzugeben. Bald gelang es ihm zu entdecken, daß die Liebesszene doch noch ganz anders herauszubringen wäre, als es hier geschah; und gar nicht einverstanden war er damit, daß Melot, durch dessen Hand Tristan sterben mußte, hier von einem Sänger zweiten Ranges dargestellt wurde, wie übrigens beinahe überall. Nach dem zweiten Fallen des Vorhangs erhob er sich mit einer gewissen Steigerung des Selbstgefühls, blieb auf seinem Platze stehen und sah manchmal zu der Ersten-Stock-Loge auf, aus der Frau Ehrenberg ihm wohlwollend zunickte, während Else mit[919] James sprach, der mit gekreuzten Armen unbeweglich hinter ihr stand. Es fiel Georg ein, daß er morgen James' Schwester wiedersehen würde. Ob sie noch manchmal jener wunderbaren Nachmittagsstunde im Park dachte, in der dunkelgrünen Schwüle des Parks, im warmen Duft von Moos und Tannen? Wie fern dies war! Dann erinnerte er sich eines flüchtigen Kusses im nächtlichen Schatten der Gartenmauer von Lugano. Wie fern auch das! Er dachte des Abends unter den Platanen, und das Gespräch über Leo fiel ihm wieder ein. Eigentlich hätte man schon damals allerlei vorhersehen können. Ein merkwürdiger Mensch dieser Leo, wahrhaftig! Wie er seinen Plan in sich verschlossen gehalten hatte! Denn der mußte natürlich längst festgestanden haben. Und offenbar hatte Leo nur den Tag abgewartet, an dem er die Uniform ablegen durfte, um ihn auszuführen. Auf den Brief, den Georg ihm geschrieben gleich, nachdem er die Nachricht von dem Duell erhalten hatte, war keine Antwort gekommen. Er nahm sich vor, Leo in der Haft zu besuchen, wenn es möglich wäre.

Ein Herr in der ersten Reihe grüßte. Ralph Skelton war es. Georg verständigte sich durch Zeichen mit ihm, daß sie einander nach Schluß der Vorstellung treffen wollten.

Die Lichter verlöschten, das Vorspiel zum dritten Akt begann. Georg hörte müde Meereswellen an ein ödes Ufer branden und die wehen Seufzer eines totwunden Helden in bläulich dünne Luft verwehen. Wo hatte er dies nur zum letztenmal gehört? War es nicht in München gewesen? ... Nein, es konnte noch nicht so lange her sein. Und plötzlich fiel ihm die Stunde ein, da auf einem Balkon, unter hölzernem Giebel die Blätter der Tristanpartitur vor ihm offen gelegen waren. Drüben zwischen Wald und Wiese war ein besonnter Weg zum Friedhof hingezogen, ein Kreuz hatte golden geblinkt; unten im Hause hatte eine geliebte Frau in Schmerzen aufgestöhnt, und ihm war weh ums Herz gewesen. Und doch, auch diese Erinnerung hatte ihre schwermutvolle Süßigkeit, wie alles, was völlig vergangen war. Der Balkon, der kleine, blaue Engel zwischen den Blumen, die weiße Bank unter dem Birnbaum ... wo war das nun alles! Noch einmal mußte er jenes Haus wiedersehen, einmal noch, ehe er Wien verließ.

Der Vorhang hob sich. Sehnsüchtig tönte die Schalmei, unter einem blaß und gleichgültig hingespannten Himmel, im Schatten von Lindenästen schlummerte der verwundete Held, und ihm zu Häupten wachte Kurwenal, der treue. Die Schalmei schwieg,[920] über die Mauer beugte sich fragend der Hirt und Kurwenal gab Antwort. Wahrhaftig, das war eine Stimme von besonderen Klang. Wenn wir solch einen Bariton hätten, dachte Georg. Und mancherlei andres, was uns fehlt! Wenn man ihm nur die nötige Macht in die Hand gäbe, er fühlte sich berufen im Laufe der Zeit aus dem bescheidenen Theater, an dem er wirkte, eine Bühne ersten Ranges zu machen. Er träumte von Musteraufführungen, zu denen die Menschen von allen Seiten strömen müßten; nicht mehr als Abgesandter saß er nun da, sondern als einer, dem es vielleicht beschieden war, selber in nicht allzu fernen Tagen Leiter zu sein. Weiter und höher liefen seine Hoffnungen. Vielleicht nur ein paar Jahre vergingen und selbstgefundene Harmonien klangen durch einen festlich-weiten Raum; und die Hörer lauschten ergriffen, wie heute diese hier, während irgendwo draußen eine schale Wirklichkeit machtlos vorbeifloß. Machtlos? Das war die Frage! ... Wußte er denn, ob ihm gegeben war Menschen durch seine Kunst zu zwingen, wie dem Meister, der sich heute hier vernehmen ließ? Sieger zu werden über das Bedenkliche, Klägliche, Jammervolle des Alltags? Ungeduld und Zweifel wollten aus seinem Innern emporsteigen; doch rasch bannten Wille und Einsicht sie von dannen, und nun fühlte er sich wieder so rein beglückt wie immer, wenn er schöne Musik hörte, ohne daran zu denken, daß er selbst oft als Schöpfer wirken und gelten wollte. Von allen seinen Beziehungen zu der geliebten Kunst blieb in solchen Augenblicken nur die eine übrig, sie mit tieferem Verstehen aufnehmen zu dürfen, als irgend ein anderer Mensch. Und er fühlte, daß Heinrich die Wahrheit gesprochen hatte, als sie zusammen durch einen von Morgentau feuchten Wald gefahren waren: nicht schöpferische Arbeit, die Atmosphäre seiner Kunst allein war es, die ihm zum Dasein nötig war; kein Verdammter war er wie Heinrich, den es immer trieb zu fassen, zu formen, zu bewahren, und dem die Welt in Stücke zerfiel, wenn sie seiner gestaltenden Hand entgleiten wollte.

Isolde, in Brangänens Armen, war tot über Tristans Leiche hingesunken, die letzten Töne verklangen, der Vorhang fiel. Georg warf einen Blick nach der Loge im ersten Stock. Else stand an der Brüstung, den Blick zu ihm herabgerichtet, während James ihr den dunkelroten Mantel um die Schultern legte, und jetzt erst, nach einem Kopfnicken, so rasch, als hätte es niemand bemerken sollen, wandte sie sich dem Ausgang zu. Merkwürdig, dachte Georg, von weitem hat ihre Haltung, hat manche ihrer Bewegungen[921] so etwas ... melancholisch-romanhaftes. Da erinnert sie mich am ehesten an das Zigeunermädel aus Nizza, oder an das seltsame junge Wesen, mit dem ich in Florenz vor der Tizianischen Venus gestanden bin ... Hat sie mich jemals geliebt? Nein. Und auch ihren James liebt sie nicht. Wen denn? ... Vielleicht ... war es doch der verrückte Zeichenlehrer in Florenz? Oder keiner. Oder gar Heinrich?

Im Foyer traf er Skelton. »Also wieder zurückgekehrt?« fragte dieser.

»Nur auf ein paar Tage«, erwiderte Georg. Es stellte sich heraus, daß Skelton nicht recht gewußt hatte, was mit Georg vorging und ihn auf einer Art musikalischer Studienreise durch deutsche Städte geglaubt hatte. Nun war er ziemlich erstaunt zu hören, daß Georg sich auf Urlaub hier befände und sich die Neuinszenierung des »Tristan« sozusagen im Auftrag des Intendanten angesehen hätte.

»Ist es Ihnen recht?« sagte Skelton, »ich bin verabredet mit Breitner; im Imperial, weißer Saal.«

»Famos«, erwiderte Georg, »ich wohne dort.«

Doktor von Breitner rauchte schon eine seiner berühmten Riesenzigarren, als die beiden Herren an seinem Tisch erschienen. »Was für eine Überraschung«, rief er aus, als Georg ihn begrüßte. Ihm war es bekannt, daß Georg als Kapellmeister in Düsseldorf wirkte.

»Detmold«, sagte Georg, und er dachte: Sonderlich viel beschäftigen sich die Leute hier ja nicht mit mir ... Aber was tut's.

Skelton erzählte von der Tristanvorstellung, und Georg erwähnte, daß er Ehrenbergs gesprochen hatte.

»Wissen Sie, daß Oskar Ehrenberg sich auf dem Weg nach Indien oder Ceylon befindet?« fragte Doktor von Breitner.

»So?«

»Und was glauben Sie mit wem?«

»Wohl in weiblicher Gesellschaft.«

»Ja, das natürlich, ich höre sogar, sie haben fünf oder sieben Weiber mit.«

»Wer sie?«

»Oskar Ehrenberg ... und raten Sie einmal ... Na, der Prinz von Guastalla.«

»Nicht möglich!«

»Komisch was? Sie haben sich heuer in Ostende oder in Spa sehr angefreundet. ›Cherchez‹ ... und so weiter. Wie es nämlich Frauenzimmer[922] gibt, derentwegen man sich schlägt, so scheint es wieder andre zu geben, über die man sich gleichsam die Hände reicht. Sie haben nun gemeinschaftlich Europa verlassen. Vielleicht gründen sie ein Königreich auf irgend einer Insel, und Oskar Ehrenberg wird Minister.«

Willy Eißler war erschienen, blaßgelb im Gesicht, übernächtig und heiser. »Grüß Sie Gott Baron, verzeihen Sie, daß ich nicht paff bin, aber ich habe schon gehört, daß Sie da sind. Irgendwer hat Sie in der Kärtnerstraße gesehen.«

Georg bat Willy, seinem Vater vom Grafen Malnitz Grüße zu bestellen er selbst hätte diesmal leider keine Zeit, den alten Herrn aufzusuchen, dem er wie er mit bescheidner Koketterie bemerkte seine Stellung in Detmold verdanke.

»Was Ihre Zukunft anbelangt, lieber Baron«, sagte Willy, »hab ich mir nie Sorgen gemacht, besonders seit ich im vorigen Jahr oder ist es schon länger her? Ihre Lieder von der Bellini hab singen hören. Aber daß Sie sich entschlossen haben Wien zu verlassen, das war eine gute Idee von Ihnen. Hier hätte man Sie jedenfalls noch einige Jahrzehnte lang für einen Dilettanten gehalten. Das ist schon einmal nicht anders in Wien. Ich kenne das. Wenn die Leute wissen, daß einer aus guter Familie ist, nebstbei Sinn für schöne Krawatten, gute Zigaretten und verschiedene andre Annehmlichkeiten des Daseins hat, so glauben sie ihm die Künstlerschaft nicht. Ohne ein Zeugnis von draußen werden Sie hier nicht ernst genommen ... also bringen Sie nur bald einige glänzende mit, Baron.«

»Ich werde mich bemühen«, sagte Georg.

»Haben die Herren übrigens schon das Neueste gehört«, begann Willy wieder. »Leo Golowski, wissen Sie, der Einjährige, der den Oberleutnant Sefranek erschossen hat, ist frei.«

»Aus der Untersuchungshaft entlassen?« fragte Georg.

»Nein, ganz frei ist er. Sein Advokat hat ein Abolitionsgesuch an den Kaiser eingereicht, das ist heute günstig erledigt worden.«

»Unglaublich«, rief Breitner.

»Warum wundern Sie sich denn so, Breitner?« meinte Willy. »Es kann doch auch einmal etwas Vernünftiges geschehen in Österreich.«

»Duell ist nie vernünftig«, sagte Skelton, »und daher kann auch eine Begnadigung wegen Duells nicht vernünftig sein.«

»Duell, lieber Skelton, ist entweder etwas viel Schlimmeres oder viel Besseres als vernünftig«, erwiderte Willy. »Entweder[923] ein ungeheuerlicher Blödsinn oder eine unerbittliche Notwendigkeit. Entweder ein Verbrechen oder eine erlösende Tat. Vernünftig ist es nicht und braucht es nicht zu sein. In Ausnahmefällen kann man mit der Vernunft überhaupt nichts anfangen. Und daß in einem Fall, wie der, von dem wir grad sprechen, das Duell unvermeidlich war, das werden auch Sie zugeben, Skelton.«

»Absolut«, sagte Breitner.

»Ich kann mir ein Staatswesen denken«, bemerkte Skelton, »in dem selbst Differenzen solcher Art vor Gericht ausgeglichen würden.«

»Solche Differenzen vor Gericht! O fröhlich! ... Glauben Sie wirklich, Skelton, daß in einem Fall, wo es sich nicht um Besitz- und Rechtsfragen handelt, sondern wo sich Menschen mit einem ungeheuern Haß gegenüberstehen, glauben Sie wirklich, daß da mit Geld- oder Arreststrafen ein Ausgleich geschaffen werden könnte? Es hat schon seinen tiefen Sinn, meine Herren, daß Duellverweigerung in solchen Fällen bei allen Leuten, die Temperament, Ehre und Aufrichtigkeit in sich haben, stets als Feigheit gelten wird. Bei den Juden wenigstens«, setzte er hinzu. »Denn bei den Katholiken ist es bekanntlich immer nur die Frömmigkeit, die sie abhält sich zu schlagen.«

»Kommt sicher vor«, sagte Breitner schlicht.

Georg wünschte zu wissen, wie sich die Sache zwischen Leo Golowski und dem Oberleutnant abgespielt hätte.

»Ja richtig«, sagte Willy, »Sie sind ja ein Zugereister. Also der Oberleutnant hat das ganze Jahr hindurch diesen Leo Golowski erheblich kuranzt und zwar ...«

»Die Vorgeschichte kenn ich«, unterbrach Georg, »zum Teil aus direkter Quelle.«

»Ach so. Also am ersten Oktober war die Vorgeschichte, um bei diesem Ausdruck zu bleiben, zu Ende; das heißt, Leo Golowski hat das Freiwilligenjahr hinter sich gehabt. Und am zweiten in der Früh hat er sich vor die Kaserne hingestellt und ruhig gewartet, bis der Oberleutnant aus dem Tor gekommen ist. In diesem Moment ist er auf ihn zugetreten, der Oberleutnant greift nach seinem Säbel, Leo Golowski packt ihn aber bei der Hand, läßt sie nicht aus, hält ihm die andere Faust vor die Stirn und damit war das Weitere so ziemlich gegeben. Übrigens wird auch erzählt, daß Leo dem Oberleutnant folgende Worte ins Gesicht geschleudert haben soll ... ich weiß nicht recht, ob's wahr ist.«

»Welche Worte?« fragte Georg neugierig.[924]

»Gestern, Herr Oberleutnant, sind Sie mehr gewesen als ich, jetzt sind wir vorläufig einmal gleich aber morgen um die Zeit wird wieder einer von uns mehr sein, als der andere.«

»Etwas talmudisch«, bemerkte Breitner.

»Das müssen Sie freilich am besten beurteilen können, Breitner«, erwiderte Willy und erzählte weiter: »Also am nächsten Morgen in den Auen bei der Donau war das Duell. Dreimaliger Kugelwechsel. Zwanzig Schritte ohne Avance. Wenn resultatlos, Säbel bis zur Kampfunfähigkeit ... Die ersten Schüsse hüben und drüben fehlen, und nach dem zweiten ... nach dem zweiten ist der Golowski richtig bedeutend mehr gewesen als der Oberleutnant denn der war nichts, weniger als nichts; ein toter Mann.«

»Armer Teufel«, sagte Breitner.

Willy zuckte die Achseln. »Es ist halt einmal einer an den Unrechten gekommen. Mir tut er auch leid. Aber man muß doch sagen, es stände manches anders in Österreich, wenn alle Juden entsprechenden Falls sich so zu benehmen wüßten wie der Leo Golowski. Leider ...«

Skelton lächelte. »Sie wissen Willy, vor mir darf man nichts gegen die Juden sagen, ich liebe sie. Und es täte mir leid, wenn man sich entscheiden wollte die Judenfrage durch eine Reihe von Zweikämpfen zu lösen, denn dann würde am Ende von dieser vortrefflichen Rasse kein einziges männliches Exemplar übrigbleiben.«

Am Ende des Gesprächs mußte Skelton zugeben, daß das Duell in Österreich vorläufig nicht abzuschaffen wäre. Aber er erlaubte sich die Frage, ob das gerade für das Duell und nicht vielmehr gegen Österreich spräche, da doch manche andere Länder, er wollte aus Bescheidenheit keines nennen, seit Jahrzehnten den Zweikampf nicht mehr kennten. Und ob er zu weit gehe, wenn er sich gestatte, Österreich, in dem er sich übrigens seit sechs Jahren wahrhaft zu Hause fühle, als das Land der sozialen Unaufrichtigkeiten zu bezeichnen. Hier wie nirgends anderswo gebe es wüsten Streit ohne Spur von Haß und eine Art von zärtlicher Liebe, ohne das Bedürfnis der Treue. Zwischen politischen Gegnern existierten oder entwickelten sich lächerliche persönliche Sympathien; Parteifreunde hingegen beschimpften, verleumdeten, verrieten einander. Nur bei wenigen fände man ausgesprochene Ansichten über Dinge oder Menschen, jedenfalls seien auch diese wenigen allzuschnell bereit, Einschränkungen zu machen, Ausnahmen[925] gelten zu lassen. Man habe hier beim politischen Kampf geradezu den Eindruck, wie wenn die scheinbar erbittertsten Gegner, während die bösesten Worte hinüber und herüberflögen, einander mit den Augen zuzwinkerten: »Es ist nicht so schlimm gemeint.«

»Was glauben Sie, Skelton«, fragte Willy, »zwinkern sie auch, wenn die Kugeln hin und herfliegen?«

»Sie täten's wohl, Willy, wenn nicht der Tod hinter ihnen stünde. Aber dieser Umstand beeinflußt nicht die Gesinnung, sondern nur die Haltung, denk ich mir.«

Sie saßen noch lange Zeit zusammen und plauderten fort. Georg hörte allerlei Neuigkeiten. Er erfuhr unter anderm, daß Demeter Stanzides den Kauf des Gutes an der ungarisch-kroatischen Grenze abgeschlossen habe, und daß die Rattenmamsell einem freudigen Ereignis entgegensehe. Willy Eißler war gespannt auf das Ergebnis dieser Rassenkreuzung und vergnügte sich indes damit, Namen für das zu erwartende Kind zu erfinden, wie Israel Pius oder Rebekka Portiunkula.

Später begab sich die ganze Gesellschaft ins benachbarte Kaffeehaus, Georg spielte mit Breitner eine Partie Billard; dann ging er auf sein Zimmer. Im Bett notierte er sich eine Stundeneinteilung für den nächsten Tag und sank endlich in einen Schlaf, der tief und köstlich wurde.

Am Morgen mit dem Tee brachte man ihm die abends vorher bestellte Zeitung und ein Telegramm. Der Intendant bat ihn über einen Sänger zu berichten. Es war zur Befriedigung Georgs derjenige, den er gestern als Kurwenal gehört hatte. Ferner wurde ihm freigestellt »zur bequemen Ordnung seiner Angelegenheiten« drei Tage über den bedungenen Urlaub auszubleiben, da zufällig eine Änderung des Spielplans dies gestatte. Wirklich charmant, dachte Georg. Es fiel ihm ein, daß er seine eigene Absicht, um Verlängerung des Urlaubs zu depeschieren, vollkommen vergessen hatte. Nun hab ich ja noch mehr Zeit für Anna, als ich geglaubt hätte, dachte er. Man könnte vielleicht ins Gebirge. Die Herbsttage sind schön und mild. Auch wäre man jetzt überall ziemlich allein und ungestört. Aber, wenn wieder ein Malheur passiert! Ein Malheur passiert! So und nicht anders waren ihm die Worte durch den Sinn geflogen. Er biß sich auf die Lippen. So stellte sich die Sache mit einem Male für ihn dar? Ein Malheur ... Wo war die Zeit, da er, mit Stolz beinahe, sich als ein Glied in der endlosen Kette gefühlt hatte, die von Urahnen zu[926] Urenkeln ging? Und ein paar Augenblicke lang erschien er sich wie ein Herabgekommener der Liebe, etwas bedenklich und bedauernswert.

Er durchflog die Zeitung. Durch einen kaiserlichen Gnadenakt war die Untersuchung gegen Leo Golowski eingestellt, gestern Abend war er aus der Haft entlassen worden. Georg freute sich sehr und beschloß Leo noch heute zu besuchen. Dann setzte er ein Telegramm an den Grafen auf und berichtete mit vornehmer Ausführlichkeit über die gestrige Aufführung. Als er auf die Straße trat, war es beinahe elf Uhr geworden. Die Luft war herbstlich kühl und klar. Georg fühlte sich ausgeschlafen, frisch und wohlgelaunt. Der Tag lag hoffnungsreich vor ihm und versprach allerlei Anregung. Nur irgend etwas störte ihn, ohne daß er gleich wußte, was es wäre. Ach ja, ... der Besuch in der Paulanergasse, die trübseligen Räume, der kranke Vater, die verletzte Mutter. Ich werde Anna einfach abholen, dachte er, mit ihr spazieren gehen und irgendwo mit ihr soupieren. Er kam an einem Blumenladen vorbei, kaufte wundervolle dunkelrote Rosen, und mit einer Karte, auf die er schrieb: »Tausend Morgengrüße, auf Wiedersehen«, ließ er sie an Anna senden. Als er dies getan hatte, war ihm leichter. Dann begab er sich durch die Straßen der innern Stadt zu dem alten Hause, in dem Nürnberger wohnte. Er stieg die fünf Stockwerke hinauf. Eine huschelige, alte Magd mit dunklem Kopftuch öffnete und ließ ihn in das Zimmer ihres Herrn treten. Nürnberger stand am Fenster mit leicht gesenktem Kopf, in dem braunen, hochgeschlossenen Sacco, das er daheim zu tragen liebte. Er war nicht allein. Von dem Schreibtisch aus einem alten Armstuhl erhob sich eben Heinrich, ein Manuskript in den Händen. Georg wurde herzlich empfangen.

»Sollte Ihr Eintreffen in Wien mit der Direktionskrise in der Oper im Zusammenhang stehen?« fragte Nürnberger. Er ließ diese Bemerkung nicht ohne weiteres als Spaß gelten. »Ich bitte Sie«, sagte er, »wenn kleine Jungen, die ihre Beziehungen zur deutschen Literatur bis vor kurzem nur durch den regelmäßigen Besuch eines Literatenkaffees zu dokumentieren in der Lage waren, als Dramaturgen an Berliner Bühnen berufen werden, so sähe ich keinen Anlaß zum Staunen, wenn der Baron Wergenthin, nach der immerhin mühevollen, sechswöchentlichen Kapellmeisterkarriere an einem deutschen Hoftheater, im Triumph an die Wiener Oper geholt würde.«

Georg stellte zur Steuer der Wahrheit fest, daß er nur einen[927] kurzen Urlaub erhalten, um seine Wiener Angelegenheiten zu ordnen; und vergaß nicht zu erwähnen, daß er gestern die neue Tristaninszenierung gewissermaßen im Auftrag seiner Intendanz gesehen habe; doch lächelte er dazu mit Selbstironie. Dann gab er einen kurzen und ziemlich humoristischen Auszug seiner bisherigen Erlebnisse in der kleinen Residenz. Auch das Konzert bei Hof berührte er spöttisch, als sei er fern davon, seiner Stellung, seinen bisherigen Erfolgen, den Theaterdingen, ja dem Leben überhaupt besondere Wichtigkeit beizumessen. So wollte er vor allem seine Position Nürnberger gegenüber gesichert haben. Dann kam das Gespräch auf die Haftentlassung Leo Golowskis. Nürnberger freute sich dieses unverhofften Ausgangs, lehnte es jedoch ab, sich darüber zu wundern, da in der Welt und ganz besonders in Österreich bekanntlich stets das Unwahrscheinlichste zum Ereignis werde. Dem Gerücht von Oskar Ehrenbergs Yachtfahrt mit dem Prinzen, das Georg als neuen Beweis für die Richtigkeit von Nürnbergers Auffassung vorbrachte, wollte er anfangs trotzdem wenig Glauben schenken. Doch gab er am Ende die Möglichkeit zu, da ja seine Phantasie, wie er seit langem wußte, von der Wirklichkeit immer wieder übertroffen würde.

Heinrich sah auf die Uhr. Es war Zeit für ihn sich zu empfehlen.

»Hab ich die Herren nicht gestört?« fragte Georg. »Ich glaube, Sie haben was vorgelesen, Heinrich, als ich kam.«

»Ich war schon zu Ende«, erwiderte Heinrich.

»Den letzten Akt lesen Sie mir morgen vor, Heinrich«, sagte Nürnberger.

»Ich denke nicht daran«, erwiderte Heinrich lachend. »Wenn die zwei ersten Akte im Theater so durchgefallen wären, wie jetzt vor Ihnen, lieber Nürnberger, so könnte man das Ding doch auch nicht zu Ende spielen. Nehmen wir an, Nürnberger, Sie seien entsetzt aus dem Parkett ins Freie gestürzt. Den Hausschlüssel und die faulen Eier erlaß ich Ihnen.«

»Donnerwetter!« rief Georg aus.

»Sie übertreiben wieder einmal, Heinrich«, sagte Nürnberger. »Ich habe mir nur erlaubt, einige Einwendungen vorzubringen«, wandte er sich an Georg, »das ist alles. Aber er ist ein Autor!«

»Es kommt alles auf die Auffassung an«, sagte Heinrich. »Es ist schließlich auch nichts andres als eine Einwendung gegen das Leben eines Mitmenschen, wenn man ihm mit der Hacke den Schädel einschlägt, nur eine ziemlich wirksame.« Er deutete auf sein Manuskript und wandte sich zu Georg. »Wissen Sie, was das ist?[928] Meine politische Tragikomödie. Kranzspenden dankend verbeten.«

Nürnberger lachte. »Ich versichre Sie, Heinrich, aus dem Sujet wäre noch immer was ganz Famoses zu machen. Sie könnten beinah die ganze Szenenführung beibehalten und eine Anzahl von Figuren. Sie müßten sich nur dazu entschließen, bei Wiederaufnahme Ihres Planes weniger gerecht zu sein.«

»Das ist aber doch eigentlich schön«, sagte Georg, »daß er gerecht ist.«

Nürnberger schüttelte den Kopf. »Überall mag man es sein nur nicht im Drama.« Und sich wieder an Heinrich wendend: »In solch einem Stück, das eine Zeitfrage behandelt, oder gar mehrere, wie es Ihre Absicht war, werden Sie mit der Objektivität nie was erreichen. Das Publikum im Theater verlangt, daß die Themen, die der Dichter anschlägt, auch erledigt werden, oder daß wenigstens eine Täuschung dieser Art erweckt werde. Denn natürlich gibt's nie und nimmer eine wirkliche Erledigung. Und scheinbar erledigen kann eben nur einer, der den Mut oder die Einfalt oder das Temperament hat, Partei zu ergreifen. Sie werden schon darauf kommen, lieber Heinrich, daß es mit der Gerechtigkeit im Drama nicht geht.«

»Wissen Sie, Nürnberger«, sagte Heinrich, »es ging vielleicht auch mit der Gerechtigkeit. Ich glaub, ich hab nur nicht die richtige. In Wirklichkeit hab ich nämlich gar keine Lust gerecht zu sein. Ich stell mir's sogar wunderschön vor ungerecht zu sein. Ich glaube, es wäre die allergesündeste Seelengymnastik, die man nur treiben könnte. Es muß so wohl tun, die Men schen, deren Ansichten man bekämpft, auch wirklich hassen zu können. Es erspart einem gewiß sehr viel innere Kraft, die man viel besser auf den Kampf selbst verwenden dürfte. Ja, wenn man noch die Gerechtigkeit des Herzens hätte ... Ich hab sie aber nur da«, und er deutete auf seine Stirn. »Ich stehe auch nicht über den Parteien, sondern ich bin gewissermaßen bei allen oder gegen alle. Ich hab nicht die göttliche Gerechtigkeit, sondern die dialektische. Und darum ...«, er hielt sein Manuskript in die Höhe, »ist da auch so ein langweiliges und unfruchtbares Geschwätz herausgekommen.«

»Weh dem Manne«, sagte Nürnberger, »der sich erdreistete derartiges über Sie zu schreiben.«

»Na ja«, erwiderte Heinrich lächelnd. »Wenn's ein anderer sagt, kann man nie den leisen Verdacht unterdrücken, daß er recht[929] haben könnte. Aber nun muß ich wirklich gehen. Grüß Sie Gott, Georg. Ich bedaure sehr, daß Sie mich gestern verfehlt haben. Wann reisen Sie denn wieder ab?«

»Morgen.«

»Aber man sieht Sie doch noch vor Ihrer Abreise? Ich bin heute den ganzen Nachmittag und Abend zu Hause, kommen Sie, wann es Ihnen paßt. Sie werden einen Menschen finden, der sich mit Entschlossenheit von den Zeitfragen ab und wieder den ewigen Problemen zugewandt hat: Tod und Liebe ... Glauben Sie übrigens an den Tod, Nürnberger? Hinsichtlich der Liebe frag ich schon gar nicht.«

»Dieser für Ihre Verhältnisse doch etwas zu billige Witz«, sagte Nürnberger, »läßt mich vermuten, daß Sie sich durch meine Kritik, trotz Ihrer sehr würdigen Haltung ...«

»Nein, Nürnberger, ich schwöre Ihnen, ich bin nicht verletzt. Ich habe sogar eher ein angenehmes Gefühl, daß die Sache abgetan ist.«

»Abgetan? Warum denn? Es ist doch immerhin möglich, daß ich mich geirrt habe und daß gerade diesem Stück, das ich für minder gelungen halte, auf dem Theater ein Erfolg beschieden wäre, der Sie zum Millionär machen kann. Ich wäre trostlos, wenn durch meine vielleicht ganz unmaßgebliche Kritik ...«

»Gewiß, gewiß, Nürnberger, das müssen wir nun schon einmal alle und in jedem einzelnen Fall auf uns nehmen, daß wir uns geirrt haben können. Und nächstens schreib ich doch wieder ein Stück und zwar mit folgendem Titel: Mir macht niemand was weiß und ich mir selber erst recht nicht ... und Sie, Nürnberger, werden der Held sein.«

Nürnberger lächelte. »Ich? Das heißt, Sie werden einen Menschen hernehmen, den zu kennen Sie sich einbilden, werden diejenigen Seiten seines Wesens zu schildern versuchen, die Ihnen gerade in den Kram passen andre unterschlagen, mit denen Sie nichts an fangen können, und am Ende ...«

»Am Ende«, unterbrach ihn Heinrich, »wird es ein Porträt sein, aufgenommen von einem irrsinnigen Photographen durch einen verdorbenen Apparat, während eines Erdbebens und bei Sonnenfinsternis. Einverstanden oder fehlt noch was?«

»Die Charakteristik dürfte erschöpfend sein«, sagte Nürnberger.

Heinrich nahm Abschied in überlauter Lustigkeit und entfernte sich mit seinem zusammengerollten Manuskript.[930]

Als er fort war, bemerkte Georg: »Seine Laune kommt mir doch ein bißchen gekünstelt vor.«

»Finden Sie? Ich hab ihn in der letzten Zeit immer auffallend gut gestimmt gefunden.«

»Wirklich gut gestimmt? Glauben Sie das ernstlich? Nach dem, was er erlebt hat?«

»Warum nicht? Menschen, die sich so viel, fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigen wie er, verwinden ja seelische Schmerzen überraschend schnell. Auf solchen Naturen, und wohl nicht nur auf solchen, lastet das geringfügigste physische Unbehagen viel drückender, als jede Art von Herzenspein, selbst Untreue und Tod geliebter Personen. Es rührt wohl daher, daß jeder Seelenschmerz irgendwie unserer Eitelkeit schmeichelt, was man von einem Typhus oder einem Magenkatarrh nicht behaupten kann. Und beim Künstler kommt vielleicht dazu, daß aus einem Magenkatarrh absolut nichts zu holen ist ... wenigstens vor kurzem stand das noch ziemlich fest ... aus Seelenschmerzen hingegen alles, was man nur will, vom lyrischen Gedichte bis zu philosophischen Werken.«

»Es gibt doch wohl Seelenschmerzen recht verschiedener Art«, erwiderte Georg. »Und es ist doch noch etwas anderes, wenn uns eine Geliebte betrügt oder verläßt ... und selbst wenn sie eines natürlichen Todes stirbt, als wenn sie sich unseretwegen umbringt.«

»Sie wissen ganz bestimmt?« fragte Nürnberger, »daß Heinrichs Geliebte sich seinetwegen umgebracht hat?«

»Hat Ihnen denn Heinrich nicht erzählt ...?«

»Allerdings. Aber das beweist nicht viel. In Hinsicht auf Dinge, die uns selber angehen, sind wir immer Tröpfe, auch die Klügsten unter uns.«

Solche Bemerkungen aus Nürnbergers Munde hatten für Georg etwas seltsam Beunruhigendes. Sie gehörten in die Reihe jener, die Nürnberger nicht ungern vernehmen ließ und die, wie Heinrich sich einmal ausgedrückt hatte, den Sinn jedes menschlichen Verkehrs, ja aller menschlichen Beziehungen geradezu aufhoben.

Nürnberger sprach weiter: »Wir kennen nur zwei Tatsachen. Die eine, daß unser Freund einmal mit einer jungen Dame ein Verhältnis gehabt und die andere, daß diese junge Dame sich ins Wasser gestürzt hat. Von allem, was dazwischen liegt, ist uns beiden so gut wie nichts und Heinrich wahrscheinlich nicht viel mehr bekannt. Warum sie sich umgebracht hat, können wir alle[931] nicht wissen, und vielleicht hat die Arme selbst es auch nicht gewußt.«

Georg sah durchs Fenster, erblickte Dächer, Schornsteine, verwitterte Röhren und ziemlich nah den hellgrauen Turm mit der durchbrochenen Steinkuppel. Der Himmel darüber war blaß und leer. Es fiel Georg plötzlich auf, daß Nürnberger noch mit keinem Wort nach Anna gefragt hatte. Was mochte er wohl vermuten? Am Ende, daß Georg sie verlassen und sie sich schon mit einem andern Liebhaber getröstet hätte? Warum bin ich nach Wien gefahren, dachte er flüchtig, wie wenn seine Reise keinen andern Zweck gehabt hätte, als sich von Nürnberger Aufschlüsse über das Dasein erteilen zu lassen, die nun schlimm genug ausgefallen waren. Es schlug zwölf. Georg nahm Abschied. Nürnberger begleitete ihn bis an die Tür und dankte ihm für den Besuch. Mit Herzlichkeit, als hätte das frühere Gespräch über Georgs neuen Aufenthaltsort überhaupt keine Geltung zu beanspruchen, erkundigte er sich nach der Beschäftigung, den Arbeiten, den neuen Bekannten Georgs und erfuhr jetzt erst, welchem Zufall Georg seine plötzliche Berufung nach der kleinen Stadt zu verdanken hatte.

»Das ist's ja, was ich immer sage«, bemerkte er dann, »nicht wir sind's, die unser Schicksal machen, sondern meist besorgt das irgendein Umstand außer uns, auf den wir keinerlei Einfluß zu nehmen in der Lage waren, ja den wir nicht einmal in den Kreis unserer Berechnungen einbeziehen konnten. Ist es schließlich ... bei aller Schätzung Ihres Talents darf ich es wohl sagen ist es Ihr Verdienst oder das des alten Eißler, von dessen Verwendung in Ihrer Sache Sie mir einmal erzählt haben, daß Sie telegraphisch nach Detmold beschieden wurden und dort so rasch Ihren Wirkungskreis gefunden haben? Nein. Ein Unschuldiger, Ihnen Unbekannter mußte eines plötzlichen Todes sterben, damit Sie dort den Platz frei finden durften. Und welche andern Dinge, auf die Sie gleichfalls keinen Einfluß nehmen und die Sie nicht vorhersehen konnten, mußten eintreten, um Sie von Wien leichten Herzens, ja um Sie überhaupt von hier scheiden zu lassen?!«

»Wieso leichten Herzens?« fragte Georg befremdet.

»Leichteren Herzens, als unter andern Umständen, mein ich. Wenn das kleine Geschöpf am Leben geblieben wäre, wer weiß ob Sie ...«

»Sie können überzeugt sein, auch dann wär ich fortgefahren. Und Anna hätte es geradeso natürlich gefunden, wie sie es jetzt[932] findet. Glauben Sie das nicht? Vielleicht wär ich sogar leichtern Herzens abgereist, wenn jene Sache anders ausgegangen wäre. Anna war es ja, die mir zugeredet hat anzunehmen. Ich war durchaus nicht entschlossen. Sie ahnen gar nicht, was für ein gutes und kluges Wesen Anna ist.«

»O ich zweifle nicht daran. Nach allem, was Sie mir gelegentlich von ihr erzählt haben, hat sie sich ja anscheinend auch in ihre Situation mit mehr Würde gefunden, als junge Damen aus ihren Kreisen bei solchen Gelegenheiten sonst aufzubringen pflegen.«

»Lieber Herr Nürnberger, die Situation war ja nicht so furchtbar.«

»Ach, sagen Sie das nicht. Wenn sie auch durch Ihre Noblesse und Rücksichtnahme sehr gemildert war, seien Sie überzeugt, das Fräulein hat gewiß öfter in dieser Zeit das Unregelmäßige in ihrer Situation empfunden. Es gibt wohl kein weibliches Wesen, und dächte es noch so kühn und überlegen, das in einem solchen Fall nicht lieber den Ring am Finger trüge. Und es spricht eben wieder für die kluge und vornehme Gesinnung Ihrer Freundin, daß sie Sie das niemals hat merken lassen und daß sie auch die bittre Enttäuschung am Ende dieser gewiß nicht ausschließlich süßen neun Monate mit Fassung und Ruhe hingenommen hat.«

»Enttäuschung ist ein mildes Wort. Schmerzen wäre vielleicht das richtigere.«

»Es war wohl beides. Doch wie meistens wird wohl auch hier die brennende Wunde des Schmerzes schneller verheilt sein, als die quälende, bohrende der Enttäuschung.«

»Ich verstehe Sie nicht recht.«

»Nun daran, lieber Georg, werden Sie doch nicht zweifeln, daß Sie sehr bald, am Ende schon heute, verheiratet wären, wenn das kleine Wesen am Leben geblieben wäre.«

»Und Sie glauben, daß jetzt, weil wir kein Kind haben ... ja Sie scheinen der Ansicht zu sein, daß ... daß ... es überhaupt aus ist? Sie sind vollkommen im Irrtum, aber vollkommen, lieber Freund.«

»Lieber Georg«, erwiderte Nürnberger, »wir wollen lieber beide von der Zukunft nicht reden. Weder Sie noch ich wissen es, wo in diesem Augenblick ein Faden zu unserm Schicksal gesponnen wird. Sie haben auch in dem Augenblick, als jener Kapellmeister vom Schlag gerührt wurde, nicht das geringste verspürt. Und wenn ich Ihnen jetzt Glück wünsche zu Ihrer weiteren Laufbahn,[933] so weiß ich nicht, auf wen ich mit diesem Glückwunsch vielleicht den Tod herabgefleht habe.«

Auf dem Flur nahmen sie Abschied. Auf die Stiege rief Nürnberger Georg nach: »Lassen Sie gelegentlich was von sich hören.«

Georg wandte sich noch einmal um: »Und Sie, tun Sie desgleichen! ...« Er sah nur noch die abwehrend-resignierte Handbewegung Nürnbergers, lächelte unwillkürlich und eilte hinab. An der nächsten Ecke nahm er einen Wagen. Auf dem Weg zu Golowskis dachte er über Nürnberger und Bermann nach. Was für ein seltsames Verhältnis das zwischen ihnen war! Vor Georg erschien ein Bild, das er ähnlich irgend einmal in einem Traum gesehen zu haben glaubte. Die zwei saßen sich gegenüber; jeder hielt dem andern einen Spiegel vor, darin sah der andere sich selbst mit einem Spiegel in der Hand, und in dem Spiegel wieder den andern mit dem Spiegel in der Hand und so fort in die Unendlichkeit. Kannte da einer noch den andern, kannte einer noch sich selbst? Georg wurde schwindlig zumute. Dann dachte er an Anna. Sollte Nürnberger wieder einmal recht behalten? War es denn wirklich aus? Konnte es überhaupt jemals enden? Jemals? ... Das Leben ist lang! Aber waren schon die nächsten Monate bedenklich? Micaela vielleicht ... Nein. Das war nicht schwer zu nehmen, wie immer es kommen sollte. Und zu Ostern war er ja wieder in Wien, dann kam der Sommer; man blieb zusammen. Und dann? Ja was dann? Vermählung? Herrn Rosners und Frau Rosners Schwiegersohn, Josefs Schwager! Ach, was ging ihn die Familie an. Anna war es doch, die seine Frau sein würde, das gütige, sanfte, kluge Wesen.

Der Wagen hielt vor einem ziemlich neuen, häßlichen, gelb angestrichenen Haus, in einer breiten, einförmigen Gasse. Georg hieß den Kutscher warten und trat ins Tor. Im Innern sah das Haus recht verwahrlost aus; Mörtel war an vielen Stellen von den Mauern abgebröckelt, und die Stiegen waren schmutzig. Aus einigen Küchenfenstern roch es nach schlechtem Fett. Auf dem Gang im ersten Stock unterhielten sich zwei dicke Jüdinnen in einem für Georg unerträglichen Jargon, und die eine sagte zu einem Buben, den sie an der Hand hielt: »Moritz, laß den Herrn vorbei.« Warum sagt sie das, dachte Georg. Es ist ja Platz genug. Offenbar will sie sich mit mir verhalten. Als wenn ich ihr schaden oder nützen könnte. Und ein Wort Heinrichs aus einem verflossenen Gespräch fiel ihm ein: »Feindesland«.

Ein Dienstmädchen ließ ihn in ein Zimmer treten, das er sofort[934] als das Leos erkannte. Bücher und Papiere auf dem Schreibtisch, das Klavier offen, auf dem Divan eine geöffnete Reisetasche, die noch nicht ganz ausgepackt war. In der nächsten Minute öffnete sich die Tür; Leo trat herein, umarmte den Gast und küßte ihn so rasch auf beide Wangen, daß der so herzlich Begrüßte gar nicht dazu kam, verlegen zu werden. »Das ist lieb von Ihnen«, sagte Leo und schüttelte ihm beide Hände.

»Sie können sich gar nicht denken, wie ich mich gefreut habe ...«, begann Georg.

»Ich glaub's Ihnen ... aber bitte kommen Sie mit mir weiter, wir sind nämlich noch beim Essen aber gleich fertig.«

Er führte ihn ins Nebenzimmer. Die Familie war um den Tisch versammelt. »Ich glaube, meinen Vater kennen Sie noch nicht«, bemerkte Leo und stellte die beiden einander vor. Der alte Golowski stand auf, legte die Serviette fort, die er um den Hals gebunden hatte, und reichte Georg die Hand.

Dieser wunderte sich, daß der alte Mann vollkommen anders aussah, als er sich ihn vorgestellt hatte; nicht patriarchalisch, graubärtig und ehrwürdig, sondern glattrasiert und mit breit verschlagenen Mienen glich er am ehesten einem alternden Provinzkomiker. »Ich freu mich sehr, Herr Baron, Sie kennen zu lernen«, sagte er, und in seinen listigen Augen stand zu lesen: »Ich weiß doch alles.«

Therese stellte hastig die üblichen Fragen an Georg, wann er gekommen wäre, wie lange er bliebe, wie es ihm ginge; er antwortete geduldig und liebenswürdig, und sie sah ihm neugierig-lebhaft ins Gesicht. Dann fragte er Leo nach dessen Absichten für die nächste Zeit.

»Vor allem werd ich fleißig Klavier spielen müssen, um mich vor meinen Schülern nicht zu blamieren. Die Leute sind ja sehr nett gegen mich gewesen. Bücher hab ich gehabt, soviel ich wollte. Aber ein Klavier haben sie mir doch nicht zur Verfügung gestellt.« Er wandte sich an Therese: »Das solltest du in einer deiner nächsten Reden unbedingt geißeln. Diese schlechte Behandlung der Untersuchungshäftlinge muß abgestellt werden.«

»Gestern um die Zeit«, sagte der alte Golowski, »war ihm wirklich noch nicht zum Lachen.«

»Wenn du vielleicht glaubst«, meinte Therese, »daß der Glücksfall, der dir begegnet ist, meine Ansichten ändern wird, so irrst du dich gewaltig. Im Gegenteil.« Und zu Georg gewandt fuhr sie fort: »Theoretisch bin ich nämlich absolut dagegen, daß sie ihn[935] herausgelassen haben.« Sie sprach wieder zu Leo hin: »Wenn du den Kerl, wie es ja dein gutes Recht gewesen wäre, einfach totgeschlagen hättest, ohne diese ekelhafte Duellkomödie, wärst du nie frei geworden, säßest deine fünf bis zehn Jahre ab, heilig. Weil du dich aber auf dieses grauenvolle, vom Staat konzessionierte Hazardspiel um Leben und Tod eingelassen, weil du dich also vor der militärischen Weltanschauung geduckt hast, bist du begnadigt worden. Hab ich nicht recht?« wandte sie sich wieder an Georg.

Der nickte nur und dachte an den armen jungen Menschen, den Leo erschossen und der eigentlich gar nichts anderes gegen die Juden gehabt hatte, als daß sie ihm so zuwider gewesen waren, wie schließlich den meisten Menschen und dessen Schuld im Grunde nur darin bestanden hatte, daß er an den Unrechten gekommen war. Leo strich seiner Schwester übers Haar und sagte: »Siehst du, wenn du das, was du hier in diesen vier Wänden gesagt hast, nächstens öffentlich aussprächest, dann würdest du mir imponieren.«

»Na und du mir«, erwiderte Therese, »wenn du dir morgen samt dem alten Ehrenberg ein Billett nach Jerusalem löstest.«

Sie standen vom Tisch auf. Leo lud Georg ein, mit ihm in sein Zimmer zu kommen.

»Stör' ich euch?« fragte Therese. »Ich möcht nämlich auch was von ihm haben.«

Sie saßen alle drei in Leos Zimmer und plauderten. Leo schien sich der wiedergewonnenen Freiheit unbedenklich und reuelos zu freuen, was Georg sonderbar berührte. Therese saß auf dem Divan, in einem dunkeln anliegenden Kleid und sah heute zum erstenmal wieder der jungen Dame ähnlich, die in Lugano als die Geliebte eines Kavallerieoffiziers unter einer Platane Asti getrunken und nachher einen anderen geküßt hatte. Sie bat Georg Klavier zu spielen. Noch nie hatte sie ihn gehört. Er setzte sich hin, spielte einiges aus Tristan und phantasierte dann mit glücklicher Eingebung. Leo sprach seine Anerkennung aus.

»Wie schade, daß er nicht dableibt«, sagte Therese und kreuzte, an der Wand lehnend, die Hände über ihrer hohen Frisur.

»Zu Ostern komm ich wieder«, erwiderte Georg und sah sie an.

»Aber doch nur, um wieder zu verschwinden«, sagte Therese.

»Das wohl«, entgegnete Georg, und es fiel ihm plötzlich auf die Seele, daß hier nicht mehr seine Heimat war, daß er nun überhaupt keine mehr hatte, für lange Zeit.

»Wie wär's«, sagte Leo, »wenn wir im Sommer eine gemeinsame[936] Wanderung unternähmen? Sie, Bermann und ich. Ich verspreche Ihnen, daß wir Sie nicht durch theoretische Gespräche langweilen werden, wie im vorigen Herbst einmal ... erinnern Sie sich noch?«

»Ach«, sagte Therese und reckte sich, »es kommt so wie so nichts dabei heraus. Taten! meine Herren!«

»Und was kommt bei Taten heraus?« fragte Leo. »Sie sind höchstens Privaterlösungen für den Moment.«

»Ja, Taten, die man für sich selbst begeht«, sagte Therese. »Nur was man fähig ist, für die andern zu leisten, ohne Rachsucht, ohne Eitelkeit persönlicher Natur, namenlos womöglich, nur das nenn ich eine Tat.«

Georg mußte endlich fort. Was hatte er noch alles zu besorgen!

»Ich begleite Sie ein Stück«, sagte Therese zu ihm.

Leo umarmte ihn noch einmal und sagte: »Es war wirklich schön von Ihnen.«

Therese verschwand, um Hut und Jacke zu holen. Georg begab sich ins Nebenzimmer; die alte Frau Golowski schien ihn erwartet zu haben. Mit einem sonderbar ängstlichen Gesicht trat sie auf ihn zu und gab ihm ein Kuvert in die Hand.

»Was ist das?«

»Der Schein, Herr Baron, ich habe ihn nicht der Anna geben wollen ... es hätt sie vielleicht zu sehr aufgeregt.«

»Ach ja ...« Er steckte das Kuvert ein und fand, daß es sich seltsamer anfühlte, als andre ...

Therese erschien mit einem spanischen Hütchen, zum Fortgehen bereit. »Da bin ich. Auf Wiedersehen, Mama. Zum Nachtmahl komm ich nicht nach Haus.«

Sie ging mit Georg die Treppe hinab, sah ihn vergnügt von der Seite an.

»Wohin darf ich Sie führen?« fragte Georg.

»Nehmen Sie mich nur mit, irgendwo steig ich halt aus.« Sie stiegen ein, der Wagen fuhr davon. Sie fragte ihn um allerlei, worauf er schon in der Wohnung Antwort gegeben hatte, als nähme sie an, daß er jetzt, mit ihr allein, aufrichtiger sein müßte, als vor den andern. Sie erfuhr nichts anderes, als daß er sich in der neuen Umgebung wohl fühlte und daß seine Arbeit ihm Befriedigung gewährte. Ob sein Erscheinen eine große Überraschung für Anna bedeutet hätte? Nein, das nicht, er hatte sie ja verständigt. Und ob es denn wahr sei, daß er zu Ostern wiederkommen wollte? Es sei seine bestimmte Absicht ...[937]

Sie schien verwundert. »Wissen Sie, daß ich mir fest eingebildet hatte ...«

»Was?«

»Man würde Sie niemals wiedersehen.«

Er erwiderte nichts, etwas betroffen. Dann fuhr es ihm durch den Sinn: Wär es nicht vernünftiger gewesen ...? Er saß ganz nahe neben Therese, fühlte die Wärme ihres Körpers wie damals in Lugano. In welchem ihrer Träume mochte sie jetzt leben? In dem wirr-düstern der Menschheitsbeglückung, oder in dem heiter-leichten eines neuen Liebesabenteuers? Sie sah angelegentlich zum Fenster hinaus. Er nahm ihre Hand, die sie ihm nicht entzog, und führte sie an die Lippen. Plötzlich wandte sie sich zu ihm und sagte harmlos: »So, nun lassen Sie halten, hier steig ich am besten aus.«

Er ließ ihre Hand los und sah Therese an.

»Ja, lieber Georg, wohin geriete man«, sagte sie, »wenn man sich nicht ...«, sie verzog spöttisch den Mund, »für die Menschheit zu opfern hätte. Wissen Sie, was ich mir manchmal denke ...? Vielleicht ist das alles nur eine Flucht vor mir selbst.«

»Warum ... warum fliehen Sie?«

»Leben Sie wohl, Georg.« Der Wagen hielt. Therese stieg aus, ein junger Mann blieb stehen, starrte sie an; sie verschwand in der Menge. Ich glaube nicht, daß sie auf dem Schafott enden wird, dachte Georg. Er fuhr in sein Hotel, aß zu Mittag, zündete sich eine Zigarette an, kleidete sich um und begab sich zu Ehrenbergs.

Im Speisezimmer, beim schwarzen Kaffee, mit den Damen des Hauses waren James, Sissy, Willy Eißler und Frau Oberberger anwesend. Georg nahm zwischen Else und Sissy Platz, trank ein Gläschen Benediktiner und beantwortete alle Fragen, die seinem neuen Wirken galten, geduldig und mit Humor. Bald begab man sich in den Salon, und nun saß er eine Weile im erhöhten Erker mit Frau Oberberger, die heute wieder ganz jung aussah und vor allem über Georgs persönliche Erlebnisse in Detmold näheres zu hören wünschte. Sie glaubte ihm nicht, daß er nicht mit sämtlichen Sängerinnen Verhältnisse angeknüpft hatte, wie ihr überhaupt das Theaterleben nur als Anlaß und Vorwand für galante Abenteuer zu gelten schien; jedenfalls bestand sie darauf, über Vorgänge hinter den Kulissen, in den Garderoben und in der Direktionskanzlei Ungeheuerlichkeiten zu vernehmen. Als Georg nicht umhin konnte, sie durch seine Berichte von der bürgerlich anständigen, beinahe philiströsen Lebensweise der Bühnenmitglieder[938] und durch die Schilderung eines eigenen arbeitsvollen Daseins zu enttäuschen, begann sie sichtlich zu verfallen, und bald saß ihm eine gealterte Frau gegenüber, in der er dieselbe erkannte, die ihm im verflossenen Sommer zuerst in der Loge eines weiß-roten Theaterchens und später in einem nun fast vergessenen Traum erschienen war. Dann stand er mit Sissy neben der marmornen Isis, und während des harmlosen Plauderns suchte jeder in den Augen des andern die Erinnerung einer glühenden Stunde unter den tiefen Nachmittagsschatten eines dunkelgrünen Parks. Aber beiden schien sie heute wie in unzugängliche Tiefen versunken. Endlich saß er mit Else an dem kleinen Tischchen, auf dem Photographien und Bücher lagen. Auch sie stellte zuerst gleichgültige Fragen, wie alle andern.

Plötzlich aber, ganz unvermutet und etwas leiser fragte sie: »Wie geht's denn Ihrem Kind?«

»Meinem Kind ...?« Er zögerte. »Sagen Sie mir, Else, warum fragen Sie mich eigentlich ...? Es ist ja doch nur Neugier.«

»Sie irren sich, Georg«, erwiderte sie ruhig und ernst, »wie Sie sich ja meistens in mir geirrt haben. Sie halten mich für recht oberflächlich, oder weiß Gott was. Nun, es hat ja keinen Sinn, weiter darüber zu reden. Aber jedenfalls ist es nicht so ganz unbegreiflich, daß ich mich nach dem Kind erkundige. Ich möchte es gern einmal sehen.«

»Sie möchten es sehen?« Er war bewegt.

»Ja. Ich hätte sogar noch eine andre Idee ... die Sie aber wahrscheinlich ganz verrückt finden werden.«

»Lassen Sie doch hören, Else.«

»Ich denke mir nämlich, wir könnten es zu uns nehmen.«

»Wer, wir?«

»James und ich.«

»Nach England?«

»Wer sagt Ihnen denn, daß wir nach England gehen? Wir bleiben hier. Wir haben schon eine Wohnung gemietet, im Cottage draußen. Es braucht's ja niemand zu wissen, daß es Ihr Kind ist.«

»Was für ein romanhafter Gedanke.«

»Gott, warum romanhaft? Anna kann's doch nicht bei sich haben und Sie doch erst recht nicht. Wo soll's denn während der Proben stecken? Im Souffleurkasten vielleicht?«

Georg lächelte. »Sie sind sehr gut, Else.«

»Ich bin gar nicht gut. Ich denk nur, warum soll denn so ein unschuldiges kleines Geschöpf dafür büßen, oder darunter leiden,[939] daß ... na ja, ich meine, es kann doch nichts dafür ... schließlich ... Ist es ein Bub?«

»Es war ein Bub.« Er machte eine Pause. Dann sagte er leise: »Es ist nämlich tot.« Und er sah vor sich hin.

»Was? Ach so, Sie wollen sich ... vor meiner Zudringlichkeit schützen.«

»Else, wie können Sie denn ... Nein, Else. In solchen Dingen lügt man nicht.«

»Also wirklich? Ja, wie ist denn das ...«

»Es ist tot zur Welt gekommen.«

Sie sah zu Boden. »Nein, wie schrecklich!« Sie schüttelte den Kopf. »Wie schrecklich! ... Nun hat sie mit einemmal gar nichts mehr.«

Georg zuckte leicht zusammen, aber vermochte nichts zu antworten. Wie entschieden es für alle schien, daß die Geschichte mit Anna zu Ende war. Und ihn bedauerte Else gar nicht. Sie ahnte wohl nicht einmal, wie der Tod des Kindes ihn erschüttert hatte. Wie konnte sie es auch ahnen! Was wußte sie von der Stunde, da der Garten seine Farben, der Himmel sein Licht für ihn verloren hatte, weil sein wunderschönes Kind tot drin im Hause lag.

Frau Ehrenberg war herangekommen. Sie drückte Georg ihre besondere Zufriedenheit aus. Sie habe übrigens nie daran gezweifelt, daß er seinen Mann stellen würde, sobald er nur einmal in einem Beruf mitten drin stände. Auch sei sie fest überzeugt: in drei bis fünf Jahren hätten sie ihn hier, in Wien, als Kapellmeister. Georg wehrte ab. Er denke vorläufig gar nicht daran, nach Wien zurückzukehren. Er fühle, daß man draußen im Reich mehr und ernster arbeite. Hier sei man immer in Gefahr, sich zu verlieren.

Frau Ehrenberg stimmte zu und nahm Anlaß, sich über Heinrich Bermann zu beschweren, der als Dichter verstummt sei und sich nebstbei nicht mehr blicken lasse.

Georg nahm ihn in Schutz und fühlte sich verpflichtet, festzustellen, daß Heinrich fleißiger wäre als je. Aber Frau Ehrenberg hatte auch andre Beispiele für den verderblichen Einfluß der Wiener Luft. Nürnberger vor allem, der sich nun vollkommen von der Welt abzuschließen scheine. Und was mit Oskar passiert sei ... hätte das in einer andern Stadt als in Wien geschehen können? Ob Georg übrigens wüßte, daß Oskar mit dem Prinzen von Guastalla auf Reisen wäre? Sie tat, als fände sie daran nichts Besonderes, Georg merkte ihr aber an, daß sie ein wenig stolz war[940] und irgendwie die Meinung hegte, als hätte mit Oskar sich schließlich doch noch alles zum Guten gefügt.

Während Georg mit Frau Ehrenberg sprach, sah er zuweilen die Blicke Elses auf sich gerichtet, die sich mit James in den Erker zurückgezogen hatte, wissende, schwermütige Blicke, die ihn beinahe durchschauerten. Er empfahl sich bald, fühlte einen unbegreiflich fremden Händedruck von Else, gleichgültig-liebenswürdige von den andern und ging.

Wie das nur zugeht, dachte er im Wagen, der ihn zu Heinrich führte. Die Leute wußten alles früher als er selbst. Sie hatten von seinem Verhältnis mit Anna gewußt, ehe es angefangen und jetzt wußten sie wieder früher als er, daß es zu Ende war. Er hatte nicht übel Lust, ihnen allen zu beweisen, daß sie sich irrten. Freilich, in solch einer Lebenssache durfte man sich durch Trotz am wenigsten bestimmen lassen. Es war gut, daß nun ein paar Monate kamen, in denen er sich wieder sammeln, alles reiflich erwägen konnte. Auch für Anna würde es gut sein; für sie vielleicht ganz besonders. Der gestrige Spaziergang mit ihr im Regen über die feuchtbräunlichen Straßen fiel ihm wieder ein und erschien ihm wie etwas unsagbar Trauriges. Ach, die Stunden in dem gewölbten Zimmer, in das von drüben durch den wallenden Schneevorhang die Orgel hereinklang! Wo waren sie! Diese und so viele andre wundervolle Stunden, wo waren sie hin! Er sah sich und Anna im Geiste wieder, ein junges Paar auf der Hochzeitsreise, durch Gassen wandeln, in denen der wunderbare Hauch der Fremde war; banale Hotelräume, in denen er nur für kurze Tage mit ihr geweilt, tauchten vor ihm plötzlich wieder auf und waren wie geweiht vom Duft der Erinnerung ... Dann erschien ihm die Geliebte auf einer weißen Bank, unter schweren Ästen, die hohe Stirn von einer trügerischen Ahnung sanfter Mütterlichkeit umflossen und endlich stand sie da, ein Notenblatt in der Hand und weiße Vorhänge bewegten sich leise im Winde. Und als er sich bewußt wurde, daß es dasselbe Zimmer war, in dem sie jetzt seiner wartete und daß nicht viel mehr als ein Jahr verflossen, seit jener abendlichen Spätsommerstunde, da sie, von ihm begleitet, sein Lied zum erstenmal ihm vorgesungen atmete er in seiner Wagenecke schwer und beinahe angstvoll auf.

Als er ein paar Minuten drauf bei Heinrich im Zimmer stand, bat er ihn, dies nicht als Besuch anzusehen. Nur die Hand wollte er ihm drücken morgen vormittags wenn's ihm recht sei, wollte er ihn abholen zu einem Spaziergang ... Ja dies fiel ihm während[941] des Redens ein zu einer Art von Abschiedsspaziergang im Wald von Salmansdorf.

Heinrich war einverstanden, bat ihn nur ein paar Augenblicke zu verweilen. Georg fragte ihn scherzend, ob er sich schon von seinem Mißerfolg von heute Morgen erholt hätte.

Heinrich wies auf den Schreibtisch, wo lose Blätter lagen, die mit großen, erregten Schriftzeichen bedeckt waren. »Wissen Sie, was das ist? Den Ägidius habe ich mir wieder hergenommen. Und gerade, bevor Sie kamen, ist mir ein ziemlich möglicher Schluß eingefallen. Wenn es Sie interessiert, so erzähl ich Ihnen morgen mehr davon.«

»Gewiß. Ich bin sehr gespannt. Das ist übrigens hübsch, daß Sie sich gleich wieder an eine Arbeit gemacht haben.«

»Ja, lieber Georg, ganz allein bin ich nicht gern. Ich muß mir möglichst rasch Gesellschaft verschaffen, nach meiner Wahl ... sonst kommt eben wer will, und man möchte doch nicht für jedes Gespenst zu sprechen sein.«

Georg erzählte, daß er Leo besucht und ihn so heiter angetroffen, wie er es kaum vermutet hätte.

Heinrich lehnte am Schreibtisch, beide Hände in den Hosentaschen vergraben, mit leicht gesenktem Kopf; die beschirmte Lampe zeichnete von unten unsichere Schatten in sein Gesicht. »Warum haben Sie's nicht erwartet, ihn heiter zu finden? Uns ... mir wenigstens ging es wahrscheinlich gerade so.«

Georg saß auf der Lehne eines schwarzledernen Fauteuils, die Beine übereinandergeschlagen, Hut und Stock in der Hand. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte er, »aber ich kann Ihnen nicht verhehlen, mir war es trotzdem sonderbar zu denken, während ich sein frohes Gesicht sah, daß er ein Menschenleben auf dem Gewissen hat.«

»Das heißt«, sagte Heinrich und begann im Zimmer hin und her zu gehen, »es ist einer der Fälle, wo die Beziehung von Ursache und Wirkung so einleuchtend ist, daß man ruhig sagen darf: ›Er hat getötet‹, ohne daß es beinahe nach einem Wortspiel aussähe ... Im ganzen aber, finden Sie nicht, Georg, sehen wir diese Dinge doch ein bißchen oberflächlich an. Wir müssen einen Dolch blitzen sehen, eine Kugel pfeifen hören, um zu begreifen, daß ein Mord geschehen ist. Als wär nicht einer, der jemanden sterben läßt, vom Mörder oft durch weiter nichts unterschieden, als durch einen höhern Grad von Bequemlichkeit und Feigheit ...«[942]

»Machen Sie sich am Ende Vorwürfe, Heinrich? Wenn Sie dran geglaubt hätten, daß es so kommen mußte Sie hätten sie ja doch nicht sterben lassen.«

»Vielleicht. Ich weiß nicht. Aber eins kann ich Ihnen sagen, Georg, wenn sie noch lebte ... das heißt, wenn ich ihr verziehen hätte, wie Sie sich gelegentlich auszudrücken beliebten, so käme ich mir schuldiger vor, als ich mir heute erscheine. Ja, ja, so ist es nun einmal. Ich will's Ihnen gar nicht verhehlen, Georg, es gab eine Nacht ... ein paar Nächte gab es, da war ich wie vernichtet vor Schmerz, vor Verzweiflung, vor ... nun, andre hätten es eben für Reue gehalten. Es war aber nichts derart. Denn mitten in meinem Schmerz, in meiner Verzweiflung hab ich's ja gewußt, daß dieser Tod etwas Erledigendes, etwas Versöhnendes, etwas Reines bedeutete. Wär ich schwach gewesen, oder weniger eitel ... wie Sie's eben auffassen wollen ... wär sie wieder meine Geliebte geworden, so wäre viel schlimmeres gekommen, als dieser Tod, auch für sie ... Ekel und Qual, Wut und Haß wären um unser Bett gekrochen ... unsere Erinnerungen wären verfault, Stück für Stück, ja, bei lebendigem Leibe wäre unsere Liebe verwest. Es durfte nicht sein. Ein Verbrechen wär es gewesen, dieses todkranke Verhältnis weiterzufristen, so wie es ein Verbrechen ist und in der Zukunft auch so gelten wird das Leben eines Menschen hinzufristen, dem ein qualvolles Sterben bestimmt ist. Das wird Ihnen jeder vernünftige Arzt sagen. Und darum bin ich sehr fern davon, mir Vorwürfe zu machen. Ich will mich auch nicht vor Ihnen oder sonst jemandem auf der Welt rechtfertigen, aber es ist nun einmal so: ich kann mich nicht schuldig fühlen. Es geht mir ja manchmal sehr schlimm, aber mit Schuldgefühlen hat das nicht das Geringste zu tun.«

»Sie sind damals hingereist?« fragte Georg.

»Ja. Ich bin hingereist. Ich bin sogar dabeigestanden, als man den Sarg in die Erde senkte. Ja. Mit der Mutter zusammen bin ich hingefahren.« Er stand am Fenster, ganz im Dunkel und schüttelte sich. »Nein, nie werd ich es vergessen. Übrigens ist es auch nur eine Lüge, daß sich Menschen in einem gemeinsamen Leid finden. Nie finden sich Menschen, wenn sie nicht zueinander gehören. Noch ferner werden sie einander in schweren Stunden. Diese Fahrt! Wenn ich mich daran erinnere! Ich hab übrigens beinahe die ganze Zeit gelesen. Es war mir unerträglich, mit der dummen, alten Person zu reden. Man haßt doch niemanden mehr als jemand gleichgültigen, der einem Mitleid abfordert. Wir sind[943] auch an ihrem Grab zusammen gestanden, die Mutter und ich. Ich, die Mutter, und ein paar Komödianten von dem kleinen Theater ... Und nachher bin ich im Wirtshaus gesessen mit ihr allein, nach dem Begräbnis. Ein Leichenschmaus zu zweien. Eine hoffnungslose Geschichte, sag ich Ihnen. Wissen Sie übrigens, wo sie begraben liegt? An Ihrem See, Georg. Ja. Ich habe öfter an Sie denken müssen. Sie wissen ja, wo der Friedhof liegt. Keine hundert Schritte weit vom Auhof. Man hat eine entzückende Aussicht auf unsern See, Georg; allerdings nur wenn man lebendig ist.«

Georg empfand ein leises Grauen. Er stand auf. »Ich muß Sie leider verlassen, Heinrich. Ich werde erwartet. Sie verzeihen.«

Heinrich trat aus dem Dunkel des Fensters hervor, zu ihm. »Ich danke Ihnen sehr für Ihren Besuch. Also morgen, nicht wahr? Sie gehen jetzt wohl zu Anna? Bitte grüßen Sie sie herzlich. Ich höre ja, daß es ihr gut geht. Therese erzählte mir's.«

»Ja, sie sieht vortrefflich aus. Sie hat sich vollkommen erholt.«

»Das freut mich. Also auf morgen, nicht wahr? Ich freu mich sehr, daß ich Sie noch einmal sehen kann, eh Sie abreisen. Sie müssen mir auch noch allerlei erzählen. Ich habe ja wieder einmal nichts getan, als von mir geredet.«

Georg lächelte. Als wenn er das von Heinrich nicht gewohnt gewesen wäre! »Auf Wiedersehen«, sagte er und ging.

Manches von dem, was Heinrich gesprochen, klang in Georg nach, als er wieder im Wagen saß. »Wir müssen einen Dolch blitzen sehen, um zu begreifen, daß ein Mord geschehen ist.« Georg fühlte, daß vom Sinn dieser Worte eine gleichsam unterirdische, aber längst geahnte Beziehung zu einem dumpfen Unbehagen hinging, das er manchmal in seiner Seele spürte. Er dachte einer Stunde, da ihm gewesen war, als ginge in den Wolken ein Spiel um sein ungeborenes Kind, und seltsam erschien es ihm plötzlich, daß Anna über den Tod des Kindes mit ihm noch kein Wort gesprochen, daß sie sogar in ihren Briefen jede Andeutung nicht nur auf den unglücklichen Ausgang, sondern auch auf den ganzen Zeitraum, da sie das Kind unter dem Herzen getragen, vollkommen vermieden hatte. Der Wagen näherte sich dem Ziel. Warum klopft mir das Herz, dachte Georg. Freude? ... Schlechtes Gewissen? ... Heut mit einemmal! Sie kann mir doch die Schuld nicht geben ...? Was für Unsinn. Ich bin abgespannt und erregt zugleich, das ist es. Ich hätte nicht herkommen sollen. Warum hab ich all diese Menschen wiedergesehen? War mir[944] nicht, trotz aller Sehnsucht, tausendmal wohler in der kleinen Stadt, wo ein neues Leben für mich angefangen hatte ...? Irgendwo anders hätte ich mit Anna zusammentreffen sollen. Vielleicht fährt sie mit mir fort ... Dann kann am Ende alles noch gut werden. Ist denn irgend etwas schlecht ...? Sind unsere Beziehungen am Ende auch krank, und ist es ein Verbrechen, sie weiterzufristen ...? Das könnte zuweilen eine bequeme Ausrede sein.

Als er bei Rosners eintrat, saß die Mutter allein am Tische, sah von einem Buche auf und klappte es zu. Über den Tisch, gleichmäßig nach allen Seiten, glitt von oben der Schein einer leicht hin und her schwingenden Lampe. Josef erhob sich aus einer Divanecke. Anna trat eben aus ihrem Zimmer, strich mit beiden Händen über das hochgekämmte, gewellte Haar, begrüßte Georg mit leichtem Kopfneigen und hatte für ihn in diesem Augenblick mehr von einer Erscheinung als von einer wirklichen Gestalt. Georg reichte allen die Hand und erkundigte sich nach dem Befinden des Herrn Rosner.

»Es geht ihm nicht grad schlecht«, sagte Frau Rosner. »Aber aufstehen kann er halt schwer.«

Josef entschuldigte sich, daß er schlafend auf dem Divan betroffen worden war. Er mußte den Sonntag benutzen, um sich auszuruhen. Er bekleidete eine Stellung bei seiner Zeitung, die ihn nachts manchmal bis drei festhielt.

»Er ist jetzt sehr fleißig«, bestätigte auch die Mutter.

»Ja«, sagte Josef bescheiden, »wenn man gewissermaßen einen Wirkungskreis hat ...« Er bemerkte weiter, daß der »Christliche Volksbote« sich einer immer größern Verbreitung erfreue, sogar draußen im Reich. Dann richtete er an Georg einige Fragen über dessen neuen Aufenthaltsort, interessierte sich lebhaft für Bevölkerungszahl, Zustand der Straßen, Verbreitung des Radfahrsports und Umgebung.

Frau Rosner ihrerseits erkundigte sich höflich nach der Zusammenstellung des Repertoires, Georg gab Auskunft, bald war ein Gespräch im Gange, an dem sich auch Anna sachlich beteiligte, und Georg fand sich plötzlich zu Besuch in einer Bürgerfamilie von angenehmen Umgangsformen, in der die Tochter des Hauses musikalisch war. Die Unterhaltung gelangte endlich dahin, daß Georg sich zur Äußerung des Wunsches veranlaßt fand, die junge Dame wieder einmal singen zu hören und er mußte sich gleichsam besinnen, daß es ja seine Anna war, deren Stimme zu vernehmen ihn verlangt hatte.[945]

Josef entschuldigte sich; ein Rendezvous im Kaffee mit Klubgenossen rief ihn ab ... »Wissen sich Herr Baron noch zu erinnern ... die flotte Gesellschaft auf der Sophienalpe?«

»Gewiß«, sagte Georg lächelnd. Und er zitierte: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ ...«

»Der wollte keine Knechte«, ergänzte Josef. »Aber das singen wir schon lange nicht mehr. Es ist zu verwandt mit der ›Wacht am Rhein«; und man soll uns nicht mehr nachsagen, daß wir über die Grenze schielen. Es hat große Kämpfe gegeben bei uns im Ausschuß. Ein Herr hat sogar demissioniert. Er ist nämlich Solizitator in der Kanzlei vom Doktor Fuchs, dem deutschnationalen Abgeordneten. Ja, es ist halt alles Politik.« Er zwinkerte. Man sollte nicht glauben, daß er den Schwindel noch ernst nahm, jetzt da er selbst in die Maschinerie des öffentlichen Lebens Einblick hatte. Mit der kaum mehr überraschenden Bemerkung, daß er überhaupt Geschichten erzählen könnte, empfahl er sich. Frau Rosner fand es an der Zeit, nach ihrem Gatten zu sehen.

Georg saß Anna gegenüber, allein mit ihr an dem runden Tisch, über den der Schein der Hängelampe floß.

»Ich danke dir für die schönen Rosen«, sagte Anna, »ich hab sie drin in meinem Zimmer.« Sie erhob sich, und Georg folgte ihr. Er hatte ganz vergessen, daß er ihr Blumen geschickt hatte. In einem hohen Glas, vor dem Spiegel standen sie, dunkelrot, und spiegelten farblos dunkel sich ab. Das Pianino war offen, Noten waren aufgeschlagen, zwei Kerzen brannten zu den Seiten. Sonst war nur so viel Licht in dem Raum, als durch den breiten Türspalt aus dem Nebenzimmer hereinfiel.

»Du hast gespielt, Anna?« er trat näher hin. »Die Arie der Gräfin? Auch gesungen?«

»Ja. Versucht.«

»Geht's?«

»Es fängt an ... kommt mir vor. Na, wir werden ja sehen. Aber sag mir vor allem, was du heut den ganzen Tag gemacht hast.«

»Gleich. Wir haben uns ja noch gar nicht begrüßt.« Er umarmte und küßte sie.

»Lang ist's her«, sagte sie, an ihm vorbeilächelnd.

»Also«, fragte er lebhaft, »fährst du mit mir?«

Anna zögerte. »Aber wie denkst du dir denn eigentlich die Sache, Georg?«

»Sehr einfach. Morgen nachmittag können wir fortfahren. Wahl des Ortes bleibt dir überlassen. Reichenau, Semmering, Brühl,[946] wohin du willst ... Und übermorgen früh würd ich dich zurückbegleiten.« Irgend was hielt ihn ab, von dem Telegramm zu reden, das ihm volle drei Tage zur Verfügung stellte.

Anna sah vor sich hin. »Es wär ja schön«, sagte sie tonlos, »aber es wird halt nicht möglich sein, Georg.«

»Wegen deines Vaters?«

Sie nickte.

»Es geht ihm doch besser?«

»Nein, es geht ihm gar nicht gut. Er ist so schwach. Man würde mir natürlich keinen direkten Vorwurf machen. Aber ich ... ich kann die Mutter jetzt nicht allein lassen, wegen so eines Ausfluges.«

Er zuckte die Achseln, ein wenig verletzt über die Bezeichnung, die sie gewählt hatte.

»Und sag einmal aufrichtig«, fügte sie wie scherzend hinzu, »liegt dir denn gar so viel dran?«

Er schüttelte den Kopf, schmerzlich beinahe. Aber er fühlte, daß auch diese Geste der Aufrichtigkeit entbehrte. »Ich versteh dich nicht, Anna«, sagte er schwächer, als er gewünscht hätte. »Daß so ein paar Wochen des Fern-voneinander-seins, daß die ... Ja ich weiß gar nicht, wie ich's nennen soll ... Es ist ja, als hätte man sich verloren. Ich bin's doch, Anna, ich bin's doch ...«, wiederholte er heftig aber müd. Er saß auf dem Sessel vor dem Pianino. Er nahm ihre Hände, führte sie an die Lippen, zerstreut und ein wenig erregt.

»Wie war's denn in Tristan?« fragte sie.

Beflissen berichtete er von der Vorstellung, verschwieg auch seinen Besuch in der Ehrenbergschen Loge nicht, sprach von all den andern Menschen, die er gesehen, und bestellte ihr die Grüße von Heinrich Bermann. Dann zog er sie zu sich auf die Knie und küßte sie. Als er sein Antlitz von dem ihren entfernte, sah er Tränen über ihre Wangen rinnen. Er spielte den Befremdeten. »Was hast du denn, Kind ...? Ja warum denn, warum ...«

Sie erhob sich, trat zum Fenster, das Gesicht von ihm abgewandt. Nun stand er auf, etwas ungeduldig, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, trat endlich zu ihr, drängte sich nah an sie und begann wieder, unvermittelt, hastig: »Anna! Überleg dir's, ob du nicht doch mit mir fahren könntest! Es wäre alles so anders, als hier. Man könnte sich aussprechen. Wir haben über so wichtige Dinge zu reden. Ich brauch ja auch deinen Rat; wegen meiner Entschlüsse für das nächste Jahr. Ich hab dir ja geschrieben, nicht wahr? Es ist also sehr wahrscheinlich, daß man mir schon in[947] den nächsten Tagen einen dreijährigen Vertrag zur Unterschrift vorlegen wird.«

»Was soll man da raten?« sagte sie. »Du wirst schließlich am besten wissen, ob du dich dort wohlfühlst, oder nicht.«

Er begann zu erzählen, von dem liebenswürdigen und begabten Intendanten, der ihn offenbar als Mitarbeiter heranzuziehen wünschte, von dem sympathischen, alten Kapellmeister, der einmal so berühmt gewesen war, von irgendeinem sehr klein geratenen Bühnenarbeiter, den man Alexander den Großen nannte, von einer jungen Dame, mit der er die Micaela studiert hatte und die mit einem Berliner Arzt verlobt war, von einem Tenor, der schon siebenundzwanzig Jahre an dem Theater wirkte und Wagner grimmig haßte. Dann begann er von seinen persönlichen Aussichten in künstlerischer und materieller Beziehung zu sprechen. Ohne Zweifel könnte er an dem kleinen Hoftheater bald zu einer gesicherten und günstigen Position gelangen. Andererseits wäre zu bedenken, daß es gefährlich sei, sich auf allzulange zu binden; eine Karriere wie die des alten Kapellmeisters wäre nicht nach seinem Geschmack. Freilich ... die Temperamente seien verschieden, er für seinen Teil glaube sich vor einem ähnlichen Schicksal gefeit.

Anna sah ihn immer nur an, und in einem nachsichtig-spöttischen Ton, wie wenn sie zu einem Kinde spräche, sagte sie endlich: »Nein, wie er sich anstrengt.«

Er war betroffen. »Inwiefern streng ich mich an?«

»Schau, Georg, du bist mir doch nicht Aufklärungen irgendwelcher Art schuldig.«

»Aufklärungen? Du bist aber wirklich ... Ich gebe dir doch keine Aufklärungen, Anna. Ich schildere dir einfach, wie ich lebe, und mit was für Leuten ich zu tun habe ... weil ich mir schmeichle, daß dich diese Dinge interessieren; geradeso wie ich dir erzählt habe, wo ich heute und gestern gewesen bin.«

Sie schwieg. Und Georg fühlte wieder, daß sie ihm nicht glaubte, daß sie ein Recht hatte ihm nicht zu glauben selbst wenn zufällig einmal Wahrheit über seine Lippen kam. Allerlei Worte traten ihm auf die Zunge, Worte des Gekränktseins, des Zorns, der milden Zusprache jedes schien ihm gleich wertlos und leer. Er erwiderte gar nichts, setzte sich zum Pianino, griff leise Töne und Akkorde. Nun war ihm wieder, als liebte er sie sehr und könnte es ihr nur nicht sagen, und als wäre diese Stunde des Wiedersehens ganz anders geworden, wenn man sie anderswo gefeiert[948] hätte. Nicht in diesem Zimmer, nicht in dieser Stadt; am liebsten an einem Ort, den sie beide nicht kannten, in einer fremden, neuen Umgebung. Ja, dann wäre vielleicht alles wieder geworden, wie es einstmals war. Dann hätten sie einander in die Arme stürzen können wie einst, in Sehnsucht, zu Wonne und Frieden. Es fuhr ihm durch den Sinn: Wenn ich ihr nun sagte: Anna! Drei Tage und drei Nächte gehören uns! Wenn ich sie bäte ... mit den rechten Worten ... ihr zu Füßen, sie anflehte ... komm mit mir! komm ... Sie widerstände nicht lang! Sie folgte mir gewiß ... Er wußte es. Warum sprach er die rechten Worte nicht aus? Warum flehte er sie nicht an? Warum schwieg er, saß am Pianino, abgewandt, griff leise Töne und Akkorde ...? Warum? ... Da fühlte er auf seinem Haupt ihre weichen Hände. Seine Finger lagen schwer auf den Tasten, irgendein Akkord tönte nach. Er wagte nicht sich umzuwenden. Er fühlte: sie weiß es auch. Was weiß sie ...? Ist es denn wahr ...? Ja ... es ist wahr. Und er dachte der Stunde, nach der Geburt seines toten Kindes da er an ihrem Bett gesessen und sie schweigend dagelegen war, den Blick in den dämmrigen Garten gerichtet ... Schon in jener Stunde hatte sie's gewußt früher als er daß alles zu Ende war. Und er hob seine Hände vom Klavier auf, nahm die ihren, die noch immer auf seinem Haupt lagen, führte sie an seine Wangen, zog sie selber nach, bis sie wieder ganz nah bei ihm war und langsam auf seine Knie niedersank. Und schüchtern begann er wieder: »Anna ... vielleicht ... könntest du dich doch entschließen ... Vielleicht wär es mir auch möglich, wenn ich telegraphiere, noch ein paar Tage Urlaub mehr zu bekommen. Du, Anna ... hörst du ... es wäre doch wunderschön ...« Ganz in der Tiefe kam ihm ein Plan. Wenn er wirklich mit ihr auf einige Tage fortreiste. Und ihr bei dieser Gelegenheit ehrlich sagte: Es soll zu Ende sein, Anna! Aber das Ende unserer Liebe soll schön sein, wie es der Anfang war. Nicht matt und traurig, wie diese Stunden in deinem Elternhaus ....... Wenn ich ihr das irgendwo auf dem Land, ehrlich sagte ... wär es nicht würdiger, ihrer und meiner und unseres vergangenen Glücks ...? Und in diesem Vorsatz wurde er dringender, kühner, leidenschaftlich beinahe ... und seine Worte klangen wieder wie vor langer, langer Zeit.

Sie auf seinen Knien, die Arme um seinen Hals, erwiderte leise: »Noch einmal Georg, mach ich das nicht durch.«

Schon hatte er ein Wort auf den Lippen, mit dem er ihre Befürchtungen zerstreuen konnte. Aber er hielt es zurück. Denn[949] ausgesprochen, hätte es doch nichts anderes bedeutet, als daß er wohl daran dachte, wieder ein paar Stunden der Lust mit ihr zu durchleben, aber daß er nicht geneigt war, irgendeine Verpflichtung auf sich zu nehmen. Er fühlte es: um sie nicht zu verletzen, hätte er nur dies eine sagen dürfen: du gehörst mir für immer! Du sollst ja ein Kind von mir haben! Zu Weihnachten, zu Ostern spätestens hol ich dich und nie mehr werden wir voneinander getrennt sein. Er fühlte, wie sie dieses Wort mit einer letzten Hoffnung erwartete mit einer Hoffnung, an deren Erfüllung sie selbst nicht mehr glaubte. Aber er schwieg. Wenn er ausgesprochen hätte, was sie ersehnte, so hätte er sich aufs neue gebunden und nun wußte er es so tief, wie er es noch nie gewußt, daß er frei sein wollte.

Immer noch ruhte sie auf seinen Knien, ihre Wange an seine Wange gelehnt; sie schwiegen lang und wußten, daß dies der Abschied war.

Endlich, entschlossen sagte Georg: »Wenn du also nicht mit mir kommen willst, Anna, dann reise ich ganz direkt zurück morgen. Und wir sehen uns erst im Frühjahr wieder. Bis dahin gibt's wieder nur Briefe. Es sei denn, daß ich zu Weihnachten, wenn's möglich ist ...«

Sie hatte sich erhoben und lehnte am Klavier. »Schon wieder ist er leichtsinnig«, sagte sie. »Ist es nicht am Ende sogar besser, wenn wir uns erst nach Ostern wiedersehen?«

»Warum besser?«

»Bis dahin wird alles noch viel klarer sein.«

Er wünschte sie nicht zu verstehen. »Du meinst, wegen des Vertrags? Ja ... da muß ich mich schon in den nächsten Wochen entscheiden. Die Leute wollen ja wissen, woran sie sind. Andererseits, auch wenn ich unterschriebe, auf drei Jahre, und es kämen andere Chancen, gegen meinen Willen werden sie mich nicht halten. Aber bis jetzt scheint es wirklich, daß der Aufenthalt in der kleinen Stadt mir sehr förderlich ist. Nie hab ich so intensiv arbeiten können, wie dort. Hab ich dir nicht geschrieben, wie ich manchmal nach dem Theater bis drei Uhr früh an meinem Schreibtisch gesessen bin? Und war um acht ausgeschlafen und frisch!«

Sie sah ihn immer nur an, mit einem Blick, schmerzlich und nachsichtig zugleich, der ihn wie ein Blick des Zweifels berührte. Hatte sie nicht einmal an ihn geglaubt! Hatte sie nicht in einer halbdunkeln Kirche vertrauensvoll und zärtlich zu ihm gesprochen: »Ich will zum Himmel beten, daß ein großer Künstler aus[950] dir werde.« Wieder war ihm, als hielte sie längst nicht mehr so viel von ihm, als in früherer Zeit. Er fühlte sich beunruhigt und fragte sie unsicher: »Du erlaubst doch, daß ich dir meine Violinsonate schicke, sobald sie fertig ist? Du weißt, auf niemandes Urteil geb ich so viel, wie auf deins.« Und er dachte: wenn ich sie mir doch als Freundin erhalten könnte ... oder einmal wiedergewinnen ... als Freundin ... Wird es möglich sein?

Sie sagte: »Du hast mir auch von ein paar neuen Phantasiestücken geschrieben, für Klavier allein.«

»Ganz richtig. Sie sind aber noch nicht ganz fertig. Aber ein anderes, das ich ... das ich ... er fand es selbst töricht, daß er zögerte heuer im Sommer komponiert habe, an dem See, wo diese arme Person ertrunken ist, die Geliebte Heinrichs, das kennst du ja auch noch nicht. Könnt ich nicht ... ich spiel dir's vor, ganz leise, willst du?«

Sie nickte und schloß die Tür. Dort, hinter ihm blieb sie regungslos stehen, als er begann.

Und er spielte. Er spielte das kleine, leidenschaftlich-schwermütige Stück, das er an seinem See komponiert hatte, als Anna und das Kind für ihn völlig vergessen waren. Es erleichterte ihn sehr, daß er es ihr vorspielen durfte. Sie mußte ja verstehen, was diese Töne zu ihr sprachen. Es war gar nicht möglich, daß sie es nicht verstand. Er hörte sich selbst gleichsam sprechen aus diesen Tönen; ja ihm war, als verstände er jetzt erst völlig sich selbst. Leb wohl, Geliebte, leb wohl. Es war schön. Und nun ist es vorbei ... Leb wohl Geliebte ... Was uns beiden gemeinsam bestimmt war, haben wir durchlebt. Und was nun kommen mag, für mich und für dich, wir werden einander etwas Unvergeßliches bedeuten. Nun geht mein Leben einen andern Weg ... Und deines auch. Es muß vorbei sein ... Ich hab dich geliebt. Ich küsse deine Augen ... Ich danke dir, du Gütige, Sanfte, Schweigende. Leb wohl, Geliebte ... Leb wohl ... Die Töne verklangen. Er hatte nicht von den Tasten aufgesehen, während er spielte; jetzt wandte er sich langsam nach ihr um. Ernst, mit leise zitternden Lippen stand sie hinter ihm. Er faßte ihre Hände und küßte sie. »Anna, Anna ...!« rief er aus. Das Herz wollte ihm zerspringen.

»Vergiß mich nicht ganz«, sagte sie leise.

»Ich schreib dir, sobald ich wieder dort bin.«

Sie nickte.

»Und du mir auch, Anna ... Und alles ... alles ... verstehst du mich.«[951]

Sie nickte wieder.

»Und ... und ... morgen früh seh ich dich noch einmal.«

Sie schüttelte den Kopf. Er wollte etwas erwidern, wie erstaunt als verstünde es sich eigentlich von selbst, daß er sie noch einmal vor der Abreise sehen müßte. Sie erhob leicht die Hand, als bäte sie ihn zu schweigen. Er stand auf, drückte sie an sich, küßte ihren Mund, der kühl war und seinen Kuß nicht erwiderte, und verließ das Zimmer. Sie blieb zurück, mit schlaffen Armen, stehend, die Augen geschlossen. Er eilte die Treppen hinab. Unten auf der Straße war ihm, als müßte er noch einmal hinauf ihr sagen: »Es ist ja alles nicht wahr! Das war nicht der Abschied. Ich liebe dich ja. Ich gehöre dir. Es kann nicht zu Ende sein ...«

Aber er fühlte, daß er es nicht durfte. Jetzt nicht. Morgen vielleicht. Von heute Abend bis morgen früh würde sie ihm nicht entglitten sein ... Und er eilte umher, planlos, durch leere Straßen, wie in einem leichten Rausch von Schmerz und Freiheit. Er war froh, daß er sich mit niemandem verabredet hatte und allein bleiben durfte. Weit draußen in einem niedern, alten, rauchigen Wirtshaus, wo an Nebentischen Menschen aus einer andern Welt saßen, in einer stillen Ecke nahm er sein Nachtmahl und erschien sich wie in einer fremden Stadt: einsam, ein wenig stolz auf seine Einsamkeit und ein wenig durchschauert von seinem Stolz.

Am nächsten Tag um die Mittagsstunde spazierte Georg mit Heinrich durch die Alleen des Dornbacher Parks. Eine Luft, die von dünnen Nebeln schwer war, umgab sie, durchfeuchtetes Laub knisterte und glitt unter ihren Füßen, und durchs Gesträuch schimmerte die Straße, auf der sie gerade vor einem Jahr den rötlich-gelben Hügeln entgegengezogen waren. Die Äste breiteten sich regungslos, als drückte die ferne Schwüle der umgrauten Sonne sie nieder.

Heinrich war eben daran, den Schluß seines Dramas zu erzählen, der ihm gestern eingefallen war. Ägidius war auf der Insel gelandet, gefaßt nach der Todesfahrt von sieben Tagen sein vorverkündetes Schicksal zu erleiden. Der Fürst schenkt ihm das Leben, Ägidius nimmt es nicht an und stürzt sich vom Felsen ins Meer hinab.

Georg war nicht befriedigt. »Warum muß Ägidius sterben?« Er glaubte nicht daran.

Heinrich begriff nicht, daß man das erst erklären sollte. »Wie kann er denn weiterleben«, rief er aus. »Er war zum Tode verurteilt. Immer mit dem Ausblick auf das Ende, als unumschränkter Herr auf dem Schiff, Geliebter der Prinzessin, Freund von[952] Weisen, Sängern, Sternguckern, aber immer mit dem Ausblick auf das Ende, hat er die herrlichsten Tage erlebt, die je einem Menschen geschenkt waren. Dieser ganze Reichtum hätte sozusagen seinen Sinn verloren, ja, die hoheitsvoll-würdige Erwartung des letzten Augenblicks müßte sich in der Erinnerung dem Ägidius zu lächerlich genarrter Todesangst verändern, wenn diese ganze Todesfahrt sich am Ende als ein schaler Spaß enthüllte. Darum muß er sterben.«

»Und Sie halten das für wahr?« fragte Georg mit noch stärkerem Zweifel als vorher. »Ich kann mir nicht helfen, ich nicht.«

»Das macht nichts«, erwiderte Heinrich. »Wenn es Ihnen jetzt schon wahr erschiene, hätte ich es zu leicht. Aber wenn die letzte Silbe meines Stückes einmal geschrieben ist, wird es wahr geworden sein. Oder ...« Er sprach nicht weiter. Sie stiegen eine Wiese hinan, und bald breitete sich das wohlbekannte Tal zu ihren Füßen aus. An der Hügellehne rechts schimmerte der Sommerhaidenweg, auf der andern Seite, hart am Wald, zeigte sich der gelb angestrichene Gasthof, mit den roten Holzterrassen und nicht weit davon, das kleine Haus mit dem dunkelgrauen Giebel. In ungewissem Nebel war die Stadt zu ahnen, noch weiter schwamm die Ebene zur Höhe auf und ganz ferne verdämmerten blasse, niedrig gezogene Berglinien. Nun war eine breite Fahrbahn zu überschreiten, und endlich führte ein Feldweg über Wiesen und Äcker nach abwärts. Weit abgerückt zu beiden Seiten ruhte der Wald.

In Georg war ein Vorgefühl der Sehnsucht, mit der er in Jahren, vielleicht schon morgen sich dieser Landschaft erinnern würde, die nun aufgehört hatte ihm Heimat zu sein.

Endlich standen sie vor dem kleinen Haus mit dem Giebel, das Georg ein letztes Mal hatte sehen wollen. Tür und Fenster waren mit Brettern verschlagen; verwittert, wie uralt geworden vor der Zeit, stand es da und wollte von der Welt nichts wissen.

»Ja, nun heißt es Abschied nehmen«, sagte Georg in leichtem Ton. Sein Blick fiel auf die Tonfigur inmitten der verblühten Beete. »Komisch«, sagte er zu Heinrich, »daß ich den blauen Knaben da immer für einen Engel gehalten hab. Das heißt, ich hab ihn nur so genannt, denn ich hab ja immer gewußt, wie er aussieht, und daß er eigentlich ein gelockter Bub ist, barfuß, mit Röckchen und Gürtel.«

»Heut über ein Jahr«, sagte Heinrich, »hätten Sie doch geschworen, daß der blaue Knabe Flügel gehabt hat.«[953]

Georg warf einen Blick nach oben zur Mansarde. Es war ihm, als bestände die Möglichkeit, daß irgend jemand plötzlich auf den Balkon heraustreten könnte. Labinski vielleicht, der sich seit jenem Traum nicht mehr gemeldet hatte? Oder er selber, ein Georg von Wergenthin aus früherer Zeit? Der Georg dieses Sommers, der dort oben gewohnt hatte? Dumme Einfälle. Der Balkon blieb leer, das Haus war stumm, und der Garten schlummerte tief. Enttäuscht wandte Georg sich ab. »Kommen Sie«, sagte er zu Heinrich. Sie gingen und nahmen die Straße zum Sommerhaidenweg.

»Wie warm es geworden ist«, sagte Heinrich, zog den Überzieher aus und warf ihn seiner Gewohnheit nach über die Schultern.

In Georg war ein ödes, etwas trockenes Erinnern. Er wandte sich an Heinrich. »Ich will es Ihnen lieber gleich sagen. Die Geschichte ist aus.«

Heinrich sah ihn rasch von der Seite an, dann nickte er, nicht sonderlich überrascht.

»Aber«, setzte Georg mit einem schwachen Versuch zu scherzen hinzu, »Sie werden dringend gebeten, nicht an den Engelsknaben zu denken.«

Heinrich schüttelte ernsthaft den Kopf. »Danke. Die Fabel vom blauen Engel können Sie Nürnberger widmen.«

»Er hat doch wieder einmal recht behalten«, sagte Georg.

»Er behält immer recht, lieber Georg. Man kann nämlich nie und nimmer betrogen werden, wenn man allem auf Erden mißtraut, sogar seinem eigenen Mißtrauen. Auch wenn Sie Anna geheiratet hätten, hätte er recht behalten ... oder es käme Ihnen wenigstens so vor. Aber jedenfalls denk ich ... Sie erlauben mir wohl das auszusprechen ... ist es gut so, wie es gekommen ist.«

»Gut? Für mich gewiß«, erwiderte Georg mit absichtlicher Schärfe, als hätte er durchaus nicht die Absicht seine Handlungsweise zu beschönigen. »In Ihrem Sinn Heinrich, war es vielleicht sogar eine Pflicht gegen mich, daß ich ein Ende machte.«

»Dann war es wohl auch Ihre Pflicht gegen Anna«, sagte Heinrich.

»Das wird sich doch erst zeigen. Wer weiß, ob ich sie nicht aus ihrer Bahn gerissen habe.«

»Aus ihrer Bahn?«

»Erinnern Sie sich noch, wie Leo Golowski einmal von ihr sagte, sie sei bestimmt, im Bürgerlichen zu enden?«

»Meinen Sie, Georg, eine Ehe mit Ihnen wäre etwas sehr Bürgerliches[954] geworden? Anna war vielleicht geschaffen Ihre Geliebte zu sein nicht Ihre Frau. Wer weiß, ob nicht der, den sie einmal heiraten wird, allen Grund hätte Ihnen dankbar zu sein, wenn die Männer nicht so rasend dumm wären. Reine Erinnerungen haben ja die Menschen doch nur, wenn sie was erlebt haben. Die Frauen so gut wie wir.«

Sie spazierten auf dem Sommerhaidenweg weiter, in der Richtung gegen die Stadt, die aus grauem Dunst hervorstieg, und näherten sich dem Friedhof.

»Hat es eigentlich einen Sinn«, fragte Georg zögernd, »das Grab eines Wesens zu besuchen, das niemals gelebt hat?«

»Dort liegt Ihr Kind?«

Georg nickte. Sein Kind! Wie seltsam es immer wieder klang! Sie gingen längs der braunen Holzlatten hin, über die Grabsteine und Kreuze ragten, an einer niedern Ziegelmauer weiter, zum Eingang. Ein Wächter, den sie fragten, wies ihnen den Weg über die breite, mit Weiden bepflanzte Mittelstraße. Auf einem Wiesenplan, hart an den Planken, auf niedern wie zum Spiel aufgeworfenen Hügeln, reihten sich ovale Plättchen aneinander, jedes mit zwei kurzen Armen in die Erde gerammt. Der Hügel, den Georg suchte, lag in der Mitte der Wiese. Dunkelrote Rosen lagen darauf. Georg erkannte sie. Das Herz stand ihm stille. Wie gut, dachte er, daß wir einander nicht begegnet sind. Hat sie's am Ende gehofft?

»Dort wo diese Rosen liegen?« fragte Heinrich.

Georg nickte.

Sie standen eine Weile stumm. »Nicht wahr«, fragte Heinrich dann, »an die Möglichkeit dieses Ausgangs hatten Sie wohl innerhalb der ganzen Zeit niemals gedacht?«

»Niemals? Ich weiß nicht recht. Es gehen einem ja allerlei Möglichkeiten durch den Sinn. Aber ernstlich hab ich natürlich nie daran gedacht. Wie sollte man auch?« Er erzählte Heinrich nicht zum erstenmal, wie der Professor damals den Tod des Kindes erklärt hatte. Ein unglücklicher Zufall war es gewesen, an dem ein bis zwei Perzent der Neugeborenen zugrunde gehen mußten. Freilich, warum gerade hier dieser Zufall eingetreten war, das hatte der Professor nicht zu sagen gewußt. Aber war Zufall nicht nur ein Wort? Mußte nicht auch dieser Zufall seine Ursache gehabt haben? ...

Heinrich zuckte die Achseln. »Natürlich ... Eine Ursache nach der andern und seinen letzten Grund im Anfang aller Dinge. Wir[955] könnten gewiß das Eintreten mancher sogenannten Zufälle verhindern, wenn wir mehr Überblick hätten, mehr Wissen und mehr Macht. Wer weiß, ob nicht auch der Tod Ihres Kindes in irgendeinem Augenblick abzuwenden war?«

»Und vielleicht wäre es sogar in meiner Macht gestanden«, sagte Georg langsam.

»Das versteh ich nicht. Waren denn irgendwelche Vorzeichen, oder ...«

Georg stand da, den Blick starr auf den kleinen Hügel gerichtet: »Ich will Sie was fragen, Heinrich, aber lachen Sie mich nicht aus. Halten Sie es für möglich, daß ein ungeborenes Kind daran sterben kann, daß man es nicht so herbeisehnt, wie man sollte: an zu wenig Liebe gewissermaßen?«

Heinrich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Georg, wie kommen Sie, der sonst ein so anständiger Mensch ist, auf derartige metaphysische Einfälle?«

»Nennen Sie's, wie Sie wollen, metaphysisch oder dumm; ich kann seit einiger Zeit den Gedanken nicht los werden, daß ich in einem gewissen Grad an diesem Ausgang die Schuld trage.«

»Sie?«

»Wenn ich früher sagte, daß ich's nicht genug herbeigesehnt habe, so hab ich mich nicht gut ausgedrückt. Die Wahrheit ist: daß ich an dieses kleine Wesen, das auf die Welt kommen sollte, geradezu vergessen hatte. Und besonders in den letzten Wochen vor seiner Geburt hatte ich es völlig vergessen gehabt. Ich kann's nicht anders sagen. Natürlich wußte ich immer, was bevorstand, aber es ging mich sozusagen nichts an. Ich habe hingelebt, ohne dran zu denken. Nicht immerfort, aber oft und ganz besonders im Sommer am See, an meinem See, wie Sie ihn nennen ... da war ich ... Ja da wußt ich einfach nichts davon, daß ich ein Kind bekommen sollte.«

»Man hat mir allerlei erzählt«, sagte Heinrich vorbeischauend.

Georg sah ihn an. »So wissen Sie also, was ich meine. Nicht nur dem Kind, dem ungeborenen, sondern auch der Mutter war ich fern in einer so unheimlichen Weise, daß ich es Ihnen beim besten Willen nicht schildern, daß ich's heut selber kaum mehr begreifen kann. Und es gibt Momente, da kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß zwischen jenem Vergessen und dem Tod meines Kindes irgendein Zusammenhang bestehen müßte. Halten Sie denn so was für vollkommen ausgeschlossen?«

Heinrich hatte tiefe Falten in der Stirn. »Vollkommen ausgeschlossen,[956] das kann man nicht einmal sagen. Die Wurzeln verschlingen sich ja gewiß oft so tief, daß wir unmöglich bis dort hinabschauen können. Ja vielleicht gibt es sogar solche Zusammenhänge. Aber wenn es solche gibt ... nicht für Sie Georg! Für Sie hätten diese Zusammenhänge keine Geltung, auch wenn sie existierten.«

»Für mich keine Geltung?«

»Der ganze Einfall, den Sie da ausgesprochen haben, der paßt mir nicht zu Ihnen. Der kommt nicht aus Ihrer Seele. Bestimmt nicht. Nie in Ihrem Leben wär Ihnen etwas Derartiges eingefallen, wenn Sie nicht mit einem Subjekt meiner Art verkehrten und es nicht zuweilen Ihre Art wäre, nicht Ihre Gedanken zu denken, sondern die von Menschen, die stärker oder auch schwächer sind als Sie. Und ich versichre Sie, was Sie auch an dem See dort, an Ihrem ... an unserm ... erlebt haben mögen, Sie haben damit gewiß keine sogenannte Schuld auf sich geladen. Bei einem andern wär es vielleicht Schuld gewesen. Aber bei Ihnen, der von Natur aus Sie verzeihen schon ziemlich leichtfertig und ein bißchen gewissenlos angelegt ist, war es gewiß nicht Schuld. Soll ich Ihnen was sagen? Sie fühlen sich nämlich gar nicht schuldig in Hinsicht auf das Kind, sondern das Unbehagen, das Sie spüren, kommt nur daher, daß Sie die Verpflichtung zu haben glauben sich schuldig zu fühlen. Sehen Sie, ich, wenn ich irgend was in der Art Ihres Abenteuers erlebt hätte, wäre vielleicht schuldig geworden, weil ich mich möglicherweise schuldig gefühlt hätte.«

»Sie Heinrich, hätten sich in meinem Falle schuldig gefühlt?«

»Vielleicht auch nicht. Wie kann ich das wissen. Sie denken jetzt wahrscheinlich daran, daß ich neulich ein Wesen direkt in den Tod getrieben und mich trotzdem sozusagen ohne Schuld gefühlt habe?«

»Ja daran denk ich. Und darum versteh ich nicht ...«

Heinrich zuckte die Achseln. »Ja. Ich hab mich ohne Schuld gefühlt. Irgendwo in meiner Seele. Und wo anders, tiefer vielleicht, hab ich mich schuldig gefühlt ... und noch tiefer, wieder schuldlos. Es kommt immer nur darauf an, wie tief wir in uns hineinschauen. Und wenn die Lichter in allen Stockwerken angezündet sind, sind wir doch alles auf einmal: schuldig und unschuldig, Feiglinge und Helden, Narren und Weise. ›Wir‹ das ist vielleicht etwas zu allgemein ausgedrückt. Bei Ihnen, zum Beispiel, Georg, dürften sich alle diese Dinge viel einfacher[957] verhalten, wenigstens wenn Sie von der Atmosphäre unbeeinflußt sind, die ich zuweilen um Sie verbreite. Darum geht's Ihnen auch besser als mir. Viel besser. In mir sieht's nämlich greulich aus. Sollten Sie das noch nicht bemerkt haben? Was hilft's mir am Ende, daß in allen meinen Stockwerken die Lichter brennen? Was hilft mir mein Wissen von den Menschen und mein herrliches Verstehen? Nichts ... Weniger als nichts. Im Grunde möcht ich ja doch nichts anderes, Georg, als daß all das Furchtbare der letzten Zeit nichts gewesen wäre, als ein böser Traum. Ich schwöre Ihnen, Georg, meine ganze Zukunft und weiß Gott was alles gäb ich her, wenn ich's ungeschehen machen könnte. Und wär es ungeschehen ... so wär ich wahrscheinlich geradeso elend wie jetzt.«

Sein Gesicht verzerrte sich, als wenn er aufschreien wollte. Gleich aber stand er wieder da, starr, regungslos, fahl, wie ausgelöscht. Und er sagte: »Glauben Sie mir, Georg, es gibt Momente, in denen ich die Menschen mit der sogenannten Weltanschauung beneide. Ich, wenn ich eine wohlgeordnete Welt haben will, ich muß mir immer selber erst eine schaffen. Das ist anstrengend für jemanden, der nicht der liebe Gott ist.«

Er seufzte schwer auf. Georg gab es auf, ihm zu erwidern. Unter den Weiden schritt er mit ihm dem Ausgang zu. Er wußte, daß diesem Menschen nicht zu helfen war. Irgend einmal war ihm wohl bestimmt, von einer Turmspitze, auf die er in Spiralen hinaufgeringelt war, hinabzustürzen ins Leere; und das würde sein Ende sein. Georg aber war es gut und frei zumut. Er faßte den Entschluß, die drei Tage, die jetzt ihm gehörten, so vernünftig als möglich auszunutzen. Das beste war wohl, irgendwo in einer schönen, stillen Landschaft allein zu sein, auszuruhen und sich zur neuen Arbeit zu sammeln. Das Manuskript der Violinsonate hatte er mit nach Wien genommen. Die vor allem dachte er zu vollenden.

Sie durchschritten das Tor und standen auf der Straße. Georg wandte sich um, aber die Friedhofsmauer hielt seinen Blick auf. Erst nach ein paar Schritten hatte er den Ausblick nach dem Talgrund wieder frei. Doch konnte er nur mehr ahnen, wo das kleine Haus mit dem grauen Giebel lag; sichtbar war es von hier aus nicht mehr. Über die rötlich-gelben Hügel, die die Landschaft abschlossen, sank der Himmel in mattem Herbstschein. In Georgs Seele war ein mildes Abschiednehmen von mancherlei Glück und Leid, die er in dem Tal, das er nun für lange verließ, gleichsam verhallen hörte; und zugleich ein Grüßen unbekannter Tage, die aus der Weite der Welt seiner Jugend entgegenklangen.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 903-958.
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